Vor einigen Wochen habe ich meine kurze Analyse der found-footage-Szene in Mario Bavas und Riccardo Fredas CALTIKI dazu genutzt, einmal oberflächlich das gesamte, sich später wohl vor allem aus dem Überraschungserfolg von THE BLAIR WITCH PROJECT entwickelnde Genre zu beleuchten. In Folge dessen hat mich unser Forums-Bux auf einen deutschen TV-Film von 1970, Rainer Erlers DIE DELEGATION, verwiesen, von dem ich bislang nicht das Geringste gehört hatte, der aber, hieß es, in eine Historie des found-footage ebenfalls nicht fehlen dürfe. Im Folgenden nun meine drei Haupt-Thesen zu diesem wirklich bezaubernden, kleinen, vergessenen Juwel:
1. Für einen Menschen, der, wie ich, im allerletzten Sechstel des zwanzigsten Jahrhunderts seine ersten Medienerfahrungen gemacht hat, ist es kaum vorstellbar, dass DIE DELEGATION ein Film sein soll, der primär fürs deutsche Fernsehen – namentlich: das ZDF – produziert worden sein soll. Die bundesdeutsche Fernsehlandschaft des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts ist, wenn sie mir denn mal in seltenen Fällen über den Weg läuft, eine, in der ich mir nicht mal vorstellen möchte, mein Lager für längere Zeit aufzuschlagen. Einmal ganz abgesehen vom Privatfernsehen, das sich hauptsächlich über Werbung finanziert und daher komplett gemäß der menschlichen Logik agiert, wenn es seine tatsächlichen Produktionskosten so gering wie möglich hält, und vor allem in jedweden Belangen billige, wenn nicht sogar billigste, Sendungen über den Äther laufen lässt, um Gewinne erwirtschaften zu können, die in keinem Verhältnis zu den Ausgaben stehen, kommt der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk, meiner Meinung nach, dem eigentlich in seinen Statuten zu findenden Bildungsauftrag ebenfalls schon lange nicht mal mehr zum Schein nach. Nicht erst seit gestern schalten ARD und ZDF, obwohl sie doch zwangsfinanziert werden, trotzdem in den Abendstunden munter Werbung, nicht erst seit gestern werden von den Gebührengeldern nicht etwa vorrangig fundierte Dokumentationen, sehenswerte Spielfilme oder kontroverse Talkrunden produziert, sondern fließbandartig gesichtslose Seifenopern, flaue Polit-Talks mit den immer gleichen die immer gleichen Phrasen dreschenden Protagonisten und die sogenannte Realität gemäß flacher Drehbücher zurechtbiegende Formate wie man sie bis vor wenigen Jahren im Grunde nur von Privatsendern gekannt hat. Wenn dann einmal ein Werk, ein Format oder eine Reihe entstanden ist, deren Ansprüche ein Mindestmaß an Qualität überschreiten, werden diese zumeist ins Nachtprogramm verbannt, wo sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit laufen müssen, da die prominenten Sendeplätzen von volkstümelnden Musikshows oder Heftchenromanverfilmungen besetzt sind. Gerade im fiktionalen Bereiche muss ich den Öffentlich-Rechtlichen jedweden Mut absprechen, einmal etwas zu wagen, Konventionen zu brechen, eingefahrene Gleise zu verlassen – was man, wie gesagt, allein daran sieht, dass Formate, die sich wenigstens ein bisschen unorthodoxer gebärden, entweder nach kurzer Zeit abgesetzt oder unter der Woche zu einer Uhrzeit gezeigt werden, dass sie höchstens ein kaum ermessbares Prozent der Zuschauer überhaupt zur Kenntnis nehmen können. In den frühen 70ern scheint das noch etwas anders gewesen sein, wie Rainer Erlers DELEGATION beweist, der aus vielerlei Hinsicht im ständig um sich selbst zirkulierenden und sich dabei ständig selbst in den Schwanz beißenden Fernsehkosmos des Jahres 2015 für mich schier undenkbar wäre. Sicher könnte man Erler vorwerfen, auf einen seinerzeit kommerziell erträglichen Zug aufgesprungen zu sein, nämlich den, als dessen Lokführer wohl Erich von Däniken gelten muss, und dessen Passagiere all jene gewesen sind, die seinen mitunter interessanten und spannenden, mitunter kruden und unwissenschaftlichen Theorien von außerirdischen Besuchern, die den Menschen vor Jahrtausenden erst die Mittel zur Verfügung stellten, befähigt zu sein, Hochkulturen wie die des Alten Ägyptens oder des Mayareiches zu errichten, mit schwindender Skepsis, wachsendem Glaube oder nackter Panik gefolgt sind. Allein aber ein solches Thema – ein deutscher Reporter mit der Frage im Hinterkopf auf Indiziensuche: gibt es außerirdisches Leben?, und wenn ja, können wir mit ihm Kontakt aufnehmen, oder hat es nicht schon längst Kontakt zu uns aufgenommen?! – kann ich mir in einem ZDF-Fernsehfilm meiner unmittelbaren Gegenwart höchstens noch in Form eines an US-amerikanischen Mainstream-Mystery-Thrillern oder Erfolgsserien wie THE X-FILES orientiert vorstellen, nur natürlich wesentlich biederer und plüschiger und großväterlich-provinzieller, und im Vordergrund mit einer der üblichen Liebesgeschichten, die schon in Trivialromanen um 1800 reichlich abgegriffen ausgesehen haben. DIE DELEGATION ist jedoch nichts weniger als das. Es ist ein Film ohne Liebesgeschichte – sogar, wenn man es genau nimmt, ohne Geschichte im klassischen Sinne. Stattdessen handelt es sich um ein Werk, das von seiner Offenheit lebt, und davon, Erklärungen genau dort zu vermeiden, wo sie ein ZDF-Fernsehfilm von 2015 mit Nachdruck hingesetzt hätte, um sich einen klar verständlichen, für jeden Zuschauer sichtbaren Sinn zu verleihen.
2. Bei ungewöhnlichen Science-Fiction-Filmen tendiert man gerne dazu, sie mit Kubricks 2001 zu vergleichen. Kürzlich hat mir eine Person, die auf ihrem Gebiet international als Autorität gilt, Christopher Nolans neusten Streich INTERSTELLAR mit den Worten empfohlen, dass das endlich einmal ein Film sei, der Kubrick nicht bloß die Stirn zu bieten versuche, sondern das auch schaffe. Als ich mir dann INTERSTELLAR angesehen hatte, hätte die Kluft zwischen ihm und 2001 für mich eigentlich kaum größer sein können. Es stimmt wohl: rein inhaltlich und von den Effekten her und teilweise auch in Bezug auf die Atmosphäre gibt es da Überschneidungen, doch viel wichtiger ist doch, meine ich, der Gestus, mit dem ein Film an mich herantritt. Im Falle von INTERSTELLAR ist das der, den ich oben schon den ZDF-Fernsehfilmen der Gegenwart vorgeworfen habe. Jedes Ereignis, jedes interstellare Phänomen wird in Nolans Film von einer naturwissenschaftlichen Erklärung begleitet, mit der der Film permanent darum bemüht ist, sich die Metaphysik auszutreiben und zu bekräftigen, dass er mit beiden Beinen auf physikalisch-mathematisch gefestigtem Gelände steht. Ich bin zu sehr Laie in den Naturwissenschaften, als dass ich beurteilen könnte, ob die in INTERSTELLAR entwickelten Thesen akademischen Standards genügen, jedoch bin ich Fachmann in künstlerischen Fragen genug, um genau herleiten zu können, weshalb ich den Film nicht als Meisterwerk, sondern lediglich als gutes Popcorn-Kino mit Anspruch beurteilt habe, während 2001 für mich weiterhin als einer DER Filme gilt, auf die ich einen Eid leisten würde. Bei Kubrick nämlich wird so gut wie nichts erklärt, nichts entschleiert, nichts wissenschaftlich hergeleitet. 2001 ist, ähnlich wie die Science-Fiction-Epen Tarkowskis, ein Film, der gerade davon lebt, dass er das vermeintliche Wunder vermeintliches Wunder sein lässt und somit die Metaphysik selbst in der hochtechnologisierten Zukunft des Jahres 2001 wahrt. Während ich von 2001 bei jeder erneuten Sichtung und in der rechten Stimmung in quasi-religiöse Zustände versetzt werden kann, verhindert ein Film wie INTERSTELLAR das allein dadurch, dass er mir seinen Materialismus in jeder etwas mystisch angehauchten Szene wie einen Eimer kalten Wassers über den Nacken schüttet. DIE DELEGATION nun gehört für mich eindeutig nicht in den Sektor INTERSTELLARs, sondern in nächste Nähe von Kubrick und Tarkowski. Wie in 2001 hält Rainer Erler seinem Publikum, bei dem er nicht den Fehler begeht, es für dümmer zu halten als es ist, zu keinem Zeitpunkt des Films eine angebliche hundertprozentige Wahrheit hin und wie in den übrigens erst Jahre später entstandenen STALKER oder SOLYARIS wird dieses prinzipielle Sich-in-der-Schwebe-Befinden des Films genutzt, um darauf im letzten Drittel immer ausufernder werdende theologische und philosophische Gedanken zu stützen. Zwar sind die nie so anspruchsvoll und ausschweifend wie bei Tarkowski, dessen Helden ja gut und gerne einmal eine halbe Stunden lang über Begriffe wie Moral oder Gott diskutieren dürfen, zugleich ist DIE DELEGATION aber auch niemals so wortkarg und so ganz seinen Bildern überlassen wie das bei 2001 der Fall ist. Für mich schafft Erler es, einen gesunden Mittelweg zwischen diesen beiden Formen des Science-Fiction zu finden, einen Weg, der nicht zu avantgardistisch-sperrig ist, nicht zu theoretisch-spirituell, aber auch nicht zu sehr daran interessiert, einfach nur eine effekt- und paukenschlagvolle Geschichte zu erzählen. Somit bedient Erler in bester Weise den Anspruch, das das Publikum ans Fernsehen - und das Fernsehen an sich selbst - im Grunde haben sollte. Er nutzt Spannung, wenn sie nötig ist, um die Handlung voranzutreiben, er nutzt Momente des Philosophierens, um die Gedanken des Zuschauers anzuregen, er wird still und lässt allein die Bilder sprechen, wenn Worte nicht mehr ausreichen. Das großartige Ende von DIE DELEGATION unterstreicht, dass das Fernsehen im Jahre 1970 die Idee noch nicht als absurd erachtet hat, die Menschen vor den heimischen Flimmerkästen könnten unfähig sein, sich in der geballten Rätselhaftigkeit des Films eine eigene, ganz subjektive Bahn schlagen. Geht man davon aus, dass das Fernsehen einer Nation stets auch Repräsentant der in dieser Nation vorherrschenden Ideologie ist, ist es selbstverständlich, dass jeder TATORT-Folge subtil moralische, politische, gesellschaftliche Wertvorstellungen untergemengt und gleichsam versteckt mit einer spannenden Handlung transportiert werden. DIE DELEGATION aber - und ich frage mich: weht da noch etwas vom Revolutionsgeist der 68er herüber? - scheint mir gerade darauf zu gründen, dass der Film den Bezug irgendeiner eindeutigen Position zu diesen Frage bereits im Ansatz verweigert.
3. Was bei DIE DELEGATION indes noch heute vielleicht am heftigsten ins Auge sticht, das ist der technisch-ästhetische Aspekt, mit dem Erler seinen Film sozusagen veredelt. DIE DELEGATION ist found-footage in Reinkultur, mehr noch als Zulawskis NA SREBNYM GLOBIE oder Deodatos CANNIBAL HOLOCAUST. In letzteren beiden Filmen, die für mich Ende der 70er das vorbereiten, was dann spätestens mit THE BLAIR WITCH PROJECT in einem eigenen, inzwischen offenbar noch immer boomenden Genre kulminierte, sind die found-footage-Szenen Teil eines größeren Ganzen, d.h. gepaart mit eindeutig als solche erkennbaren Spielszenen. Dass Zulawskis hysterisches, blaustichiges Paralleluniversum die sogenannte Realität selbst innerhalb der verwackelten, verwaschenen Handkameraszenen niemals eins zu eins abbildet, dürfte auf den ersten Blick genauso klar sein wie dass sich CANNIBAL HOLOCAUST allein dadurch als Illusion entlarvt, dass er seine schon eher als authentisch gelten könnenden Handkameraszenen zunächst in eine konventionelle Abenteuergeschichte einbettet, in der das Blut – sofern es nicht von armen Mungos stammt – genauso wenig echt ist wie der meerschaumpfeifensüchtige Professor. DIE DELEGATION aber – und das hat scheinbar, ähnlich wie bei Orson Welles Radiohörspiel WAR OF THE WORLDS, zu leichtem Panikflattern innerhalb der bundesdeutschen Bevölkerung geführt – tritt von der ersten bis zur letzten Sekunde als angebliche Realität auf, und leistet sich darin nicht einen einzigen fiktionalen Seitensprung, der als solcher markiert wäre. Ein Reporter ist auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen, nachdem er über seinen Nachforschungen bezüglich Aliens und UFOs fast seinen Verstand verlor – mit diesen einleitenden Worten beginnt die Fernsehstation, identisch mit der des ZDFs, das Ausstrahlen einer Kompilation der letzten Video- und Tondokumente, die der Mann vor seinem Ableben gemacht hat. Nur selten unterbricht ein Studiomoderator den Bilderreigen, um Gäste wie beispielweise die Frau des Verstorbenen oder seinen ehemaligen Kameramann zu interviewen, ansonsten sind wir von außen unkommentiert der Sichtweise Roczinskis überlassen. Das stellt einen Minimalismus, eine Reduktion dar, der CANNIBAL HOLOCAUST in all seiner collagenhaften Glorie völlig fremd ist – (vielmehr wird bei Deodato ständig alles kommentiert und reflektiert, auf einer letzten Meta-Ebene sogar der Film CANNIBAL HOLCOAUST an sich) -, der erst wieder bei dem, thematisch zumindest ähnlich gelagerten, U.F.O. ABDUCTION und freilich THE BLAIR WITCH PROJECT zu finden ist – (wobei diese Filme zu keinem Zeitpunkt die Tiefe und Weisheit von DIE DELEGATION erreichen, da es ihnen hauptsächlich darum geht, emotional, d.h. über Gefühle wie Angst und Schrecken, zu ihren Zuschauern zu sprechen) – und der Filmen wie NA SREBNYM GLOBIE oder CALTIKI, dem frühesten mir bekannten Beispiel für found-footage, naturgemäß fehlen muss, da das Fundmaterial in ihnen nicht mehr und nicht weniger als einzelne narrative Stückchen in einer Gesamtkonstruktion bedeutet. DIE DELEGATION betritt somit wirkliches Neuland, antizipiert ein komplettes Genre, erzählt von einer Zeit, als Fernsehen wohl noch so etwas wie ein recht freies Experimentierfeld sein konnte, bei dem im Kleinen Dinge möglich waren, die die Größe des Kinos nicht geduldet hätte. Ich bin begeistert! Danke, Bux!