Das Alter der Erde - Glauber Rocha (1980)

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Salvatore Baccaro
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Das Alter der Erde - Glauber Rocha (1980)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: A Idade da Terra

Produktionsland: Brasilien 1980

Regie: Glauber Rocha

Darsteller: Glauber Rocha, Maurício da Valle, Carlos Petrovicho, Ana Maria Magalhães
Mitte der 70er Jahre befindet sich der brasilianische Regisseur Glauber Rocha in einer schizophrenen Situation. Seit 1971 lebt er außerhalb seines Heimatlandes, dessen Militärregime er aus politischen Gründen den Rücken gekehrt hat. 1963 hat er dort mit seinem ersten vollkommen eigenständigen Projekt DEUS O DIABO NA TERRA DO SOL nicht nur Filmgeschichte geschrieben, sondern zugleich, quasi nebenbei, eine kinematographische Reformbewegung begründet, die, in Anlehnung an die französische Nouvelle Vague, unter dem Namen Cinema Novo firmierte. Als deren ungekröntes Oberhaupt wurden ihm in der Folge mannigfaltige Ehren zuteil. ANTONIO DAS MORTES und DI CAVALCANTI werden beide, der eine 1969, der andere 1977, in Cannes ausgezeichnet. Im Ausland genießen Rochas Werke Ansehen bei Kritikern und ähnlich kompromisslosen Filmemachern. Er unterhält freundschaftliche Verbindungen zu Jean-Luc Godard, Bernardo Bertolucci, Pier Paolo Pasolini. Zugleich aber fallen seine Filme beim Publikum in schöner Regelmäßigkeit durch. Sie sind schwer verständlich, erzählen keine Geschichten, gebärden sich sperrig, voller kultureller und politischer Querverweise, möchten nicht unterhalten, sondern zum Denken anregen. Dass sich für derartige Projekte weniger leicht Finanziers finden lassen als für einen konventionellen Spielfilm versteht sich von selbst – und dass Rocha, gerne angriffslustig gegenüber politischen Gegnern, Filmkritikern und Produzenten, niemand ist, der sein Budget erbettelt, erleichtert ihm die Verwirklichung von A IDADE DA TERRA kein bisschen. Es soll sein letzter Film werden, nach zweijähriger Produktion im Jahre 1980 veröffentlicht, ein Jahr später ruht Rocha schon, dahingerafft von einer Lungenentzündung, in der Erde seiner Heimat. Es soll aber zudem sein radikalster Film werden, ein Bruch mit nun wirklich allem, was ein typischer Kinobesucher von dem Zwiegespräch mit sich und der Leinwand erwarten darf.

Die Sonne geht auf über dem brasilianischen Präsidentenpalast. Minutenlang schaut ihr die Kamera dabei zu, sich lediglich minimal dabei nach links bewegend. Sie fängt die Prismen ein, die entstehen, als die Strahlen sich in ihrer Linse brechen. Sie fängt ein wie die Landschaft sich unter der zunehmenden Helligkeit wandelt. Dazu hören wir Urwaldgeräusche. Ein Affe schreit. Die Natur erwacht. – Ein Amazonenstamm hat Beute gemacht. Die gefangenen Männer liegen gefesselt auf dem Boden, während die Amazonenkönigin auf ihnen herumtrampelt. Einer wird ausgewählt, ihr Liebhaber sein zu dürfen. Die restlichen Kriegerinnen umringen ihn, begraben ihn halb unter sich, wobei sie ihre Arme kollektiv heben und senken wie die Blätter einer Blume, deren Blüte der in sexuelle Ekstase geratene Mann ist. – Drei Figuren, ein westlicher Kapitalist, sein Sohn und eine Prostituierte, die wir wohl als Allegorien verstehen sollen, befinden sich in einem Zimmer, schreien sich gegenseitig an, planen gegenseitig, wie sie einander umbringen werden, haben Sex miteinander. Minutenlang folgt ihnen die Handkamera, ohne Schnitt, solange bis der Film voll ist. Alles wirkt improvisiert, die Schauspieler wie auf einem schlimmen Drogentrip, Sätze wiederholen sich immer und immer wieder. Mal steht die Kamera auf dem Kopf, dann zoomt sie so nahe an eine der Personen heran, dass das Bild verschwimmt, sie wirbelt umher, gönnt unseren Augen keine Ruhe. – Glauber Rocha selbst richtet einen seiner Schauspieler her. Man beschmiert ihn mit Kunstblut und zerfetzten Bandagen. Er soll aussehen wie gerade einer Schlacht entronnen. Rocha zeigt ihm wie er schreien, wie er die Machete schwingen soll. Danach sieht man ihn die Szene agieren. Rocha ist nicht zufrieden, brüllt Regieanweisungen. Ein Take folgt dem nächsten.

Dies sind nur vier Szenen aus A IDADE DA TERRA, die vielleicht einen ungefähren Eindruck dessen geben, was einen bei diesem Film möglicherweise an den Rand des Erträglichen bringen wird. Prinzipiell äußern die Schauspieler ihre Emotionen in übertriebenen, oftmals gekreischten Sätzen. Eine nachvollziehbare Narration lässt sich ebenso wenig feststellen wie eine konventionelle Montage. Die Bilder sind entfesselt, folgen wie Schnipsel aufeinander, die nach dem Gefühl und nicht nach der Logik aneinandergesetzt wurden, dann wiederum sind sie lange, elegisch: manchmal folgt ein Schnitt erst nach weit über zehn Minuten. Dann plötzlich reiht Rocha einfach sämtliche takes hintereinander, die er von einer Szene gedreht hat. Immer ist minimal etwas anders. Eine Frau und ein Mann am Meer. Sie sagen das Gleiche, küssen sich. Jedes Mal zoomt die Kamera woanders hin. Überhaupt, diese Kamera. Vielleicht niemals habe ich sie in irgendeinem Film derart epileptisch zucken sehen wie in diesem. Gerade in den mehrminütigen Aufnahmen scheint Rocha sich permanent auf der Suche nach einem Fokus zu befinden, zu dem es ihm einfach nicht vorzustoßen gelingt. Er klebt regelrecht an seinen Schauspielern, an Details, zieht plötzlich unerwartet zur Seite, wählt Bildkompositionen, die der Zufall diktiert haben muss. Genauso gibt es aber schöne Aufnahmen von epischer Größe. Eine Menschenmenge bei einer Prozession. In ihr wogt eine Marienstatue. Voller Ehrfurcht blickt die Kamera auf den Umzug, dessen Gesichter wiederum sie anstarren. Manchmal ist sie aber auch ganz starr. Als ein älterer Mann uns mindestens einen Viertelstunde lang einen Crashkurs in brasilianischer Politik gibt, starrt sie ihn regungslos an, wechselt alle paar Minuten höchstens mal die Position.

Ähnlich disparat ist der Inhalt von A IDADE DA TERRA. Worum geht es in diesem Film? Rocha selbst beantwortet diese Frage im Finale. Beinahe wie die Grundsteinlegung eines Mythos klingt es, wenn er vom Tod Pasolinis erzählt, und davon wie er sich an dessen Leichnam gesagt habe, er wolle, so wie er es mit dem Matthäusevangelium vormachte, die Geschichte Christi in Brasilien verfilmen. A IDADE DA TERRA soll nun dieser Film sein, ein Film, der in der Utopie endet, sich eine Welt herbeiträumt, in der die Grenzen zwischen Arm und Reich gefallen sind, alle Religionen und Kulturen zusammenfließen, ein Paradies wie von Christus beschworen. Folgerichtig wimmelt es in A IDADE DA TERRA von Christusfiguren und Satanen. Da ist ein klassischer Christus mit Bart und langem Haar, der christlichen Ikonographie entsprungen. Da ist ein schwarzer Christus mit erigiertem Penis. Da ist ein Christus, der vom Teufel durch die Wüste geprügelt wird. Eine der heftigsten und umwerfendsten Szenen in dem Zusammenhang erinnert an Kenneth Anger: in einem rot ausgeleuchteten Zimmer inszeniert Rocha die Versuchungsszene zwischen Teufel und Jesus – letzterem werden von ersterem die Schätze der Welt gezeigt. Auch das geht minutenlang, mindestens zehn. Ein Zimmer, etwas rotes Licht, ein Teufel in Frauenkleidern und mit einem klappernden Menschenschädel in den Händen, ein Christus, der ihm die Stirn bietet, ein mümmelndes Kaninchen dazwischen. Mehr braucht Rocha für seine avantgardistisch-minimalistische Bibelinterpretation nicht. A IDADE DA TERRA ist ein Film, der kein überhohes Budget zur Verfügung hat, und deshalb seiner Kreativität freien Lauf lassen muss.

Vor allem aber ist A IDADE DA TERRA aber ein Film, der selbst für aufgeschlossene Cineasten nahezu unkonsumierbar sein wird – und wahrscheinlich auch gar nicht konsumiert werden will. Während der Kino-Vorstellung, die ich das Glück zu besuchen hatte, haben mindestens zehn der höchstens fünfzehn Zuschauer den Saal verlassen, der Großteil innerhalb der ersten Stunde von insgesamt fast drei. Das grundlegende Bekenntnis Rochas, der an seine Avantgarde glaubt, und daran, mit Bildern Ideen zu generieren und mit Ideen die Welt zu einem besseren Platz zu machen, stieß wohl nicht aufgrund seiner Naivität auf taube Ohren und blutende Augen, sondern aufgrund seiner Radikalität. Dabei legt Rocha die Karten von Anfang an offen auf den Tisch – eine Geste, für die ich ihn nach wie vor bewundere: Die Sonne geht auf über dem brasilianischen Präsidentenpalast. Minutenlang schaut ihr die Kamera dabei zu, sich lediglich minimal dabei nach links bewegend. Sie fängt die Prismen ein, die entstehen, als die Strahlen sich in ihrer Linse brechen. Sie fängt ein wie die Landschaft sich unter der zunehmenden Helligkeit wandelt. Dazu hören wir Urwaldgeräusche. Ein Affe schreit. Die Natur erwacht. Aus dem Off erklingt Rochas Stimme: „Action!“ Der Film kann beginnen - und hat längst begonnen...
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