Wendy and Lucy - Kelly Reichardt (2008)

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Salvatore Baccaro
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Wendy and Lucy - Kelly Reichardt (2008)

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Originaltitel: Wendy and Lucy

Produktionsland: USA 2008

Regie: Kelly Reichardt

Darsteller: Michelle Williams,Wally Dalton, Will Oldham, Ayanna Berkshire, Deneb Catalan, Lucy

…und wenn mich jemand fragen würde, welcher Film, den ich völlig ohne Vorwissen dieses Jahr gesehen habe, mich überfallartig überrumpelte, ganz ohne dafür etwaige Schauwerte oder ein komplexes Drehbuch zu brauchen, dann würde mir wahrscheinlich erstmal nichts einfallen, und irgendwann später, wenn die Antwort schon niemanden mehr interessieren würde, würde ich dann doch an Kelly Reichardts WENDY AND LUCY denken, ein Film, wie er unspektakulärer kaum sein könnte, tut er doch nichts mehr als einen etwa zweitägigen Ausschnitt aus dem Leben Wendys zu zeigen, die mit ihrer Hündin Lucy in einem schrottreifen Auto auf dem Weg nach Alaska ist, wo sie sich ein besseres Leben erhofft, einen gutbezahlten Job in einer Fischfabrik, einen Neuanfang, denn vielleicht läuft sie vor ihrer Vergangenheit davon, über die wir allerdings kein Sterbenswörtlichen erfahren, nur dass sie einen Bruder hat, den sie einmal anruft, doch sonst scheint sie mutterseelenallein auf der Welt zu sein, mit Lucy als ihrer einzigen Bezugsperson, und kein Geld in den Taschen, dafür irgendwo in Oregon strandend, wo eines Morgens ihr Fahrzeug nicht mehr anspringt, weshalb sie es wagt, im örtlichen Supermarkt ein paar Dosen Hundefutter mitgehen zu lassen, und natürlich erwischt wird, und mit großem Brimborium zur Polizeistation gebracht wird, wo man ihr noch die letzten Scheine als Strafgebühr abzwackt, und dann schockiert feststellt, dass Lucy, die sie angebunden vorm Supermarkt zurückgelassen hat, nicht mehr an Ort und Stelle ist, worauf sie die restliche Laufzeit des Films damit zubringt, nach ihrer Hündin zu suchen, Kontakt zum Tierheim aufnimmt, einen Autohändler konsultiert, ob ihr Wagen noch zu retten sei, und sich mit einem Wachmann anfreundet, der Tag für Tag eine Garage beaufsichtigt, in die nie jemand hinein oder hinaus fährt, und im Grunde passiert sonst nichts in diesem stillen, unaufgeregten Film, der voller kleiner Gesten steckt, manche menschlich, manche unmenschlich, aber immer unterhalb der Schwelle, wo sie unsere gesteigerte Aufmerksamkeit fordern würden, Gesten wie der höhnische, missbilligende Blick, den der Supermarktangestellter auf Wendy wirft, der sie beim Klauen ertappt hat, oder der verzweifelt-wütende des Obdachlosen, der plötzlich vor Wendys Schlafsack sitzt, als sie eine Nacht außerhalb der Stadt im Wald verbringt, oder das Geld, das ihr der Wachmann heimlich zusteckt, damit seine Freundin es nicht sieht, und ihr sagt, sie solle auf sich aufpassen, und quasi durch die Hintertür oder im kellertiefsten Subtext erzählt WENDY AND LUCY ja eigentlich davon, wie eine Gesellschaft mit ihren vermeintlichen Außenseitern umgeht, mit Menschen ohne Obdach und ohne Job, so wie es der Wachmann schön zum Ausdruck bringt: Ohne eine Adresse bekommst Du keine neue Adresse, und ohne Job bekommst Du keinen neuen Job, und obwohl Reichardt den Finger in die Wunde legt, wird sie nie predigend oder moralisierend und verliert nie ihre schlichte, stille Geschichte aus den Augen, die keine melodramatische Musik, keine herzzerreißenden Gesten braucht, um ins Mark zu stechen, und die, ebenfalls quasi durch die Hintertür, auch danach fragt, was für Geschichten wir normalerweise erzählen oder erzählt bekommen, weil sie selbst eine ist, die ohne Schauwerte, ohne eine komplexe Handlung auskommt, sondern sich stattdessen beinahe schon über ihre Ereignislosigkeit, ihre Unaufgeregtheit, ihren semi-dokumentarischen Blick auf die Welt und die Dinge definiert, und in dem ein Auto, das nicht mehr anspringt, eine Katastrophe ist, die die Welt aus den Angeln hebt, und in dem ein fremder Mann, der einem sein Prepaid-Handy leiht, um einen wichtigen Anruf zu tätigen, eine Sache ist, die einen wieder mit der Welt versöhnt, so wie Filme Pflaster sein können für den Schnitt in den Finger, den eingerissenen Mundwinkel, den gestoßenen Kopf…
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