Window Water Baby Moving - Stan Brakhage (1959)

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Salvatore Baccaro
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Window Water Baby Moving - Stan Brakhage (1959)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Window Water Baby Moving

Produktionsland: USA 1959

Regie: Stan Brakhage

Cast: Jane Brakhage, Stan Brakhage, Myrrena Brakhage


Nachdem zwei Streifen auf weißem Grund aufgetaucht waren, nachdem ich gelesen hatte, dass die Jungtiere von Fledermäusen bereits nach drei bis vier Wochen flugfähig seien und nach fünf bis sechs Wochen von der Mutter entwöhnt werden, nachdem ich in einem Buch mit Namensvorschlägen für Neugeborenen blätterte, das sich las, als sei es eins der Mittelalterepen, die ich in meinem Bachelorstudium durchpauken musste, nachdem mich ein übermotivierter Arzt mit funkelnden Augen über seinen Schreibtisch hinweg, auf dem sein eigenes Ebenbild als Stoffpüppchen saß, anvisierte und sagte: Ein Wunder der Natur, nicht?, nachdem mir auffiel, wie viele Kinderwägen durch die Gassen all der Innenstädte geschoben werden, durch die ich in den letzten Monaten gestiefelt bin, nachdem ich es fertigbrachte, mich auf einer Restauranttoilette selbst einzusperren, und von außen gerettet werden musste, nachdem ich am Grab eines Mannes gewesen bin, der nie sein Enkelkind kennenlernen wird, nachdem ich erfahren hatte, was der sogenannte „Glow“ ist, und welche regelrechte Mythologie sich um diesen metaphysischen Begriff strickt, nachdem ich ebenfalls lernen musste, was diverse Internetforen unter einem "GöGa" verstehen, nachdem ich versucht hatte, ein Ikea-Regal aufzubauen, und es diesmal fertigbrachte, die meisten Schräubchen derart zu bearbeiten, dass man sie danach nicht mehr aus dem Holz herausbekam – nachdem nun all dies geschehen ist, hielt ich es für eine gute Idee, mir einen frühen Experimentalfilm Stan Brakhages anzuschauen, den ich zuletzt vor vielen Jahren auf der Kinoleinwand einer Kunsthochschule gesehen hatte, und in dem der Pionier der filmischen US-Nachkriegsavantgarde 1958 die Geburt seiner ersten Tochter auf 16mm bannt, und das Ergebnis ein Jahr später als zwölfminütigen Kurzfilm unter dem Titel WINDOW WATER BABY MOVING präsentiert…

Wie die meisten Filme Brakhages ist WINDOW WATER BABY MOVING nicht nachträglich mit einer Tonspur versehen worden. Was dem Film an Sound ermangelt, wird entsprechend an die Montage delegiert, die Brakhage in seinen theoretischen Schriften explizit als Substitut der fehlenden musikalischen Untermalung versteht. Demgemäß gestaltet sich der Schnitt ausgesprochen rhythmisch: Es gibt lange, elegische Einstellung, die sich mit schnellen, harten Schnitten abwechseln; kein einziger Cut bleibt dem Zufall überlassen, sodass es sich bei WINDOW WATER BABY MOVING, ebenfalls wie bei den meisten Filme Brakhages, um ein höchst filigranes Werk handelt, bei dem es mich kein bisschen wundert, dass sich der Prozess, die Bilder in Form zu bringen, über Monate hingezogen hat.

Wie die meisten Filme Brakhages besteht WINDOW WATER BABY MOVING auf formaler Ebene nahezu ausnahmslos aus Detail- und Großaufnahmen, die den im Fokus stehenden Vorgang – die Geburt eines Kindes – in kleine, scheinbar zusammenhanglose Fragmente zerstückeln: Wir sehen das Gesicht von Brakhages Frau Jane im Close-Up, wie es in die Kamera lächelt; wir sehen ihren schwangeren Bauch, der sich aus dem Wasser der Badewanne hebt, in dem Töchterchen Myrrena zur Welt kommen wird; wir sehen die Hand eines Arztes oder einer Hebamme, die Janes Vagina abtastet; wir sehen, quasi als Leitmotiv, immer wieder ein Fenster, durch das die Außenwelt verstohlen hereinblickt; schließlich sehen wir in graphischen Details jede einzelne Station der Geburt: das Köpfchen, halb aus Janes Unterleib ragend; die Nachgeburt, die in eine Tüte gestopft wird; die Nabelschnur beim Zertrennen – und, ebenfalls als Leitmotiv, immer wieder die Reaktionen in Brakhages eigenem Gesicht: Hierfür hat er seine Kamera Jane abgeben müssen, die unfassbarerweise während der Geburt noch Kraft und Muße findet, das Objektiv auf ihren Ehemann zu richten.

Eigentlich sollte WINDOW WATER BABY MOVING in einem öffentlichen Krankenhaus gefilmt werden, was die dortige Leitung dann jedoch untersagte: Eine Kamera im Kreißsaal, so weit kommt es noch! Also verlegen die Brakhages die Geburt ins Eigenheim – was der intimen Atmosphäre, die der Film evoziert, nur zugutekommt. Zärtlich betastet Brakhage den Bauch seiner Gattin mit Hand und Kameralinse; ein anderes Mal werden Bilder besagten Bauches aus unterschiedlichen Perspektiven schnell hintereinander montiert, dass es an der Grenze zur Abstraktion kratzt; besonders schön ist eine Aufnahme von Jane, wie sie in der Geburtswanne sitzt, und das auf der sich leicht kräuselnden Wasseroberfläche reflektierende Licht seinen Widerschein auf ihr Gesicht abgibt; selbst die drastischen Bilder mit der klaffenden Vagina, dem vielen Blut, dem verklebten Neugeborenen wirken ungemein liebevoll.

Zumindest ist das eine Seite der Medaille: Auf der einen Seite steht nämlich die Frage, inwieweit sich WINDOW WATER BABY MOVING denn schon ins Pornographische hinüberbeugt. Für die Mitarbeitenden von Kodak, denen Brakhage das Material zur Entwicklung schickt, jedenfalls ist klar, dass es sich nicht gehört, eine Geburt in diesem harschen Realismus zu dokumentieren; man weigert sich zunächst, Brakhages Auftrag zu erfüllen, stellt in Aussicht, die Aufnahmen einfach zu vernichten. Auch später, bei den öffentlichen Aufführungen, kreist stets das Damoklesschwert der Zensur über dem Film: Anstößig, obszön, und, eben, pornographisch, denn immerhin sieht man hier mehr vom weiblichen Körper als in jedem x-beliebigen Sexstreifen der 50er – das sind die Vorwürfe, die dem Film seinerzeit gemacht werden.

Diese Vorwürfe haben jedoch, meine ich, nicht nur eine historische Dimension. Auch heute kann man ernsthaft die moralische Agenda hinterfragen, die Brakhage bei WINDOW WATER BABY MOVING leitet – oder eben die Abwesenheit einer solchen: Ist es probat, die eigene Frau bei der Geburt zu filmen, statt einfach nur für sie da zu sein, selbst wenn sie offenkundig an dem Filmprojekt partizipiert? Ist es probat, die Kamera derart dicht ans Geschehen zu rücken, einen nun wahrlich persönlichen Moment zum Sujet eines Films zu machen, der später mit dem Stempel der Avantgarde versehen in Cine Clubs und auf Experimentalfilmfestivals gezeigt wird, und heute als Klassiker gilt? Ist es probat, wie sehr Brakhage, dessen menschliches Auge, wie so oft, mit dem Auge der Kamera zusammenfällt, sich selbst in den Vordergrund rückt, zum Voyeur der Geburt wird, zum male gaze par excellence, der die Gebärende in einigen Szenen nahezu zum Objekt der Schaulust degradiert? Andererseits: Liegt es nicht in der Natur des Experimentalfilms, Grenzen zu überschreiten, Dinge zu adressieren, die zuvor als unsagbar und vor allem unzeigbar galten, sich dorthin vorzuwagen, wo sich normalerweise die Lider der Allgemeinheit verschämt oder verschreckt schließen?

Letztlich ist Brakage selbst mit WINDOW WATER BABY MOVING unzufrieden – jedoch hauptsächlich aus ästhetischer Sicht, weswegen er auch seine dritte Tochter Neowyn 1961 zum Filmstar macht, und bei ihrer Geburt den Film THIGH LINE LYRE TRIANHULAR dreht. Das Gegenstück zu WINDOW WATER BABY MOVING innerhalb von Brakhages Oeuvre ist übrigens THE ACT OF SEEING WITH ONE’S OWN EYES, in dem er sich Anfang der 70er in die Morgue von Pittsburgh begibt, und all das zeigt, was die meisten Menschen niemals über die Details von Autopsien wissen wollten.

Nachdem ich mir diesen Film nun zum vierten oder fünften Mal seit 20 Jahren angeschaut habe, ist es Nacht über der Stadt geworden, und ich spüre, dass mein täglicher Peplum-Pegel noch nicht erreicht wurde...
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