Adieu Godard - Amartya Bhattacharyya (2021)

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Salvatore Baccaro
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Adieu Godard - Amartya Bhattacharyya (2021)

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Originaltitel: Adieu Godard

Produktionsland: Indien 2021

Regie: Amartya Bhattacharyya

Cast: Choudhury Bikash, Sudhasri Madhusmita, Dipanwit Dashmohapatra, Abhishek Giri, Shankar Basu Mallik, Choudhury Jayaprakash


…und das dürfte dann der mit Abstand eigenartigste Film sein, den ich in letzter Zeit gesehen habe, - und zwar eigenartig in dem Sinne, dass ich nicht mal klar benennen kann, ob ich ihn nun grandios oder furchtbar fand…

Ein kleines Dorf irgendwo im indischen Hinterland: Familienvater Ananda frönt zügellos seiner Pornofilmsucht. Vom lokalen DVD-Händler wird er Tag für Tag mit pikanter Ware versorgt, die er sich sodann mit zwei Freunden und dem geistig zurückgebliebenen „Dorfidiot“ bei sich zu Hause anschaut, - während seine Gattin stille Tränen ins Kissen des erkalteten Ehebetts vergießt, und während die für ihren Schulabschluss büffelnde Tochter gegenüber ihrem distanzierten, sich nahezu ausschließlich im Pornoversum aufhaltenden Erzeuger bloß noch Mitleid und/oder Verachtung empfindet. Eines Tages aber funkt Meister Zufall in den monotonen Onanie-Alltag Anandas hinein: Versehentlich wird ihm im DVD-Shop seines Vertrauens nämlich kein weiterer Hardcore-Streifen ausgehändigt; vielmehr hat sich eine Kopie von Godards Debüt-Langfilm A BOUT DE SOUFFLE in die DVD-Hülle verirrt. Anandas Binge-Watching-Kollegen sind entsetzt: Keine nackte Haut, keine extravaganten Sexstellungen, stattdessen müssen sie lange Minuten zusehen, wie sich Jean-Paul Belmondo mit Jean Seberg über Gott und die Welt unterhält, - und dass der Film im französischen O-Ton mit englischen Untertiteln ist, trägt bei den Männern, die kaum ein Wort Englisch sprechen, ebenfalls nicht zum Verständnis bei. Ananda indes ist begeistert: Er weiß nicht recht, was es ist, das ihn an A BOUT DE SOUFFLE fasziniert, doch kommt es ihm vor, als sei er mit etwas Magischem konfrontiert worden, das die Gesetze seiner Welt von den Füßen auf den Kopf stellt. Zur Irritation seiner Freunde versucht Ananda in der Folge, sich so viele Godard-Filme wie möglich zu besorgen, er taucht völlig ab in den revolutionären Visionen der Nouvelle-Vague-Gallionsfigur, bittet schließlich seine Tochter, ihm Englischnachhilfe zu geben, damit die Filmplots kein Buch mit sieben Siegeln mehr für ihn sind. Letzteres führt dazu, dass Vater und Tochter sich einander wieder allmählich annähern, - und seine Godard-Obsession letztlich dazu, dass er einen Plan fasst, für den ihm das komplette Dorf den Vogel zeigt: Ananda möchte in seinem Heimatort ein Filmfestival organisieren, das ausschließlich Filme Jean-Lucs im Programm hat…

Die Prämisse lässt es klingen, als würden wir bei ADIEU GODARD des indischen Regisseurs Amartya Bhattacharyya einer Satire auf europäisches Arthouse-Kino begegnen, und tatsächlich sprechen einige Kernszenen genau diese Sprache: Wenn Ananda hin und weg ist von Godards non-regelkonformen Montagen; wenn seine Freunde sich beschweren, dass es in dieser Art Kino keine richtigen Helden gebe, nicht mal irgendwelche Actionszenen oder exzessive Tanzeinlagen; wenn schließlich die Landbevölkerung kurz davorsteht, den Filmprojektor und die Leinwand zu zerstören, weil sie sich angesichts der verkopften Filme, die ihnen auf Anandas Festival dargeboten werden, übers Ohr gehauen fühlen. Diese zuweilen durchaus zum Schmunzeln anregende Momente sind indes nur ein Aspekt von ADIEU GODARD, denn mit zunehmender Laufzeit versucht der Film, wesentlich mehr zu sein als die tragikomische Geschichte eines Lustgreises, den die Liebe zu Godard dazu bringt, das in Schieflage geratene Verhältnis zu Frau und Tochter zurechtzurücken, und von seiner Pornosucht loszukommen. Entscheidend nämlich ist, dass wir die im Übrigen größtenteils in Schwarzweiß gedrehte Handlung rund um Anandas Godard-Obsession retrospektiv von seiner Tochter erzählt bekommen: Diese ist wegen eines vorehelichen Techtelmechtels mit einem Gleichaltrigen aus dem Dorf verstoßen worden, lebt nunmehr in der Großstadt und berichtet dort einem Mann, zu dem sich eine Liebesbeziehung anbahnt, von den Kapriolen, mit denen ihr Vater das Dorfleben aufmischte, - wobei die Szenen, die in der Gegenwart spielen, in Farbe gedreht wurden. Anandas Tochter indes ist eine unzuverlässige Erzählerin: Wie wir erfahren, hat sie manche Details der Geschichte ihres Vaters hinzugedichtet, andere verwirft sie im Nachhinein als Lügen. Gerade im letzten Drittel sind Vergangenheit und Gegenwart dann derart verschränkt, dass man sie kaum noch auseinanderdividieren kann, - und zumindest mir ist nie ganz klargeworden, was denn nun die endlosen Dialoge zwischen Anandas Tochter und ihrem Love Crush mit der Manie des Papas zu tun haben sollen, unbedingt ein Godard-Tribut-Festival aus dem Boden zu stampfen. Irritieret hat mich nicht zuletzt, dass viele Szenen eher zusammenhanglos daherkommen oder über Gebühr in die Länge gezogen worden: So erleben wir minutenlang mit, wie der sogenannte „Dorftrottel“ die Mission erledigen soll, sich illegalerweise eines Projektors zu bemächtigen; ebenso walzt ADIEU GODARD eine Jugendliebe aus, die Anandas Tochter mit einem Jungen aus dem Dorf unterhält; in den letzten fünf bis zehn Minuten wird es dann konfus in einer Weise, dass ich nicht mal schildern könnte, was da denn dort nun genau an überraschenden Volten abgefackelt wurde.

Die Grundprämisse ist eine zum Niederknien, und gerade die Szenen, in denen es rein um Anandas Leidenschaft für französisches Kunstkino geht, haben mir bestens gefallen. Demgegenüber steht aber ein manchmal recht hölzernes Schauspiel, eine mäandernde, stellenweise regelrecht kryptische Story, und der unbedingte Wille, etwas zu schaffen, das mit Godards Oeuvre darin mithalten kann, das Publikum anzustrengen, zu überfordern, zu verwirren. Aber, andererseits: Wie nachtragend kann man einem Film sein, der eine Szene beinhaltet, in der die Bewohner eines indischen Dorfs eine Vogelscheuche, die das Ebenbild Jean-Luc Godards sein soll, auf einem Feld am Ortseingang aufstellen, zusammen mit einem Schild, das warnt: Godard ist unserem Dorf verboten!
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