Für immer Sommer 90 - Jan Georg Schütte / Lars Jessen (2020)

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Für immer Sommer 90 - Jan Georg Schütte / Lars Jessen (2020)

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Originaltitel: Für immer Sommer 90

Herstellungsland: Deutschland / 2020

Regie: Jan Georg Schütte / Lars Jessen

Darsteller(innen): Charly Hübner, Peter Schneider, Roman Knizka, Christina Große, Deborah Kaufmann, Stefanie Stappenbeck, Walfriede Schmitt, Karoline Schuch, Lisa Maria Potthoff, Stephan Schad, Oliver Sauer, Bozidar Kocevski, Jan Georg Schütte, Anika Lamade u. A.

Andy Brettschneider (Charly Hübner) hat seine ostdeutsche Heimat im Wendetrubel verlassen und ist über Umwege im Ausland in Frankfurt am Main als Investmentbanker durchgestartet. Mit seiner Heimat verbindet den millionenschweren Genussmenschen nicht mehr viel. Als ihn in einem anonymen Schreiben plötzlich vorgeworfen wird, im Sommer 1990 ein Mädchen vergewaltigt zu haben, fällt er aus allen Wolken. Er steigt ins Auto und reist in seine alte Heimat, um seinen damaligen Freundes- und Bekanntenkreis aufzusuchen und herauszufinden, was es mit Schreiben auf sich hat – und was genau passiert ist, damals, im Sommer 1990…
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Re: Für immer Sommer 90 - Jan Georg Schütte / Lars Jessen (2020)

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„Seit drei Tagen denk' ich an dich!“

Der Improvisations-Regieexperte Jan Georg Schütte („Wellness für Paare“, „Klassentreffen“) tat sich für das Impro-Roadmovie-Drama „Für immer Sommer 90“ aus dem Jahre 2020 mit Regisseur Lars Jessen („Dorfpunks“, „Fraktus“) zusammen und verfasste das die Handlung grob skizzierende Drehbuch zusammen mit Hauptdarsteller Charly Hübner („Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt“).

„Deine Eier haben geglüht!“

Andy Brettschneider (Charly Hübner) hat seine ostdeutsche Heimat im Wendetrubel verlassen und ist über Umwege im Ausland in Frankfurt am Main als Investmentbanker durchgestartet. Mit seiner Heimat verbindet den millionenschweren Genussmenschen nicht mehr viel. Als ihn in einem anonymen Schreiben plötzlich vorgeworfen wird, im Sommer 1990 ein Mädchen vergewaltigt zu haben, fällt er aus allen Wolken. Er steigt ins Auto und reist in seine alte Heimat, um seinen damaligen Freundes- und Bekanntenkreis aufzusuchen und herauszufinden, was es mit Schreiben auf sich hat – und was genau passiert ist, damals, im Sommer 1990…

„Ich kenn' dich nicht mehr, ich kenn' euch alle nicht mehr...“

Während andere Fernsehproduktionen jener Zeit versuchten, die Thema Covid-19-Pandemie weitestgehend auszuklammern, macht „Für immer Sommer 90“ keinen Hehl daraus und lässt seine Figuren Masken tragen, Abstandsregeln befolgen usw. – was bei seiner Erstausstrahlung für Realismus sorgte, macht den Film auf längere Sicht zu einem interessanten Zeugnis seiner Zeit. Dieses spielt zunächst in Bankfurt, bevor Andy zur Mutti (Walfriede Schmitt, „Die Weihnachtsklempner“) und anschließend zu Katrin (Deborah Kaufmann, „Der Trinker“) nach Salzgitter reist. Er erfährt unangenehme Details über die 30 Jahre zurückliegende Party, verdächtigt Katrin, das belastende Schreiben verfasst zu haben, und vergrätzt sie. Andy belastet die Situation; er ist keinesfalls ein unterkühlter Karrierist, an dem alles rückstandslos abperlt, aber auch kein klassischer Sympathieträger, keine Heldenfigur.

„Wo warst du mein Leben lang?“

Die Regie arbeitet mit einer überdurchschnittlich dynamischen Kamera, mit Jumpcuts und visualisierten Erinnerungen, die unscharf und in Zeitlupe dargestellt werden. Der junge Andy wurde sehr gut gecastet, man kann sich ihn tatsächlich prima als jüngeren Hübner vorstellen. Dass die Dialoge improvisiert sind, merkt man ihnen nicht unbedingt gleich an; dieses Konzept hat aber zur positiven Folge, dass sie recht authentisch anmuten. Andy klappert weitere Stationen ab: Da ist der an Covid-Verschwörungstheorien glaubende Sven (Roman Knižka, „Die Halbstarken“-Remake), der Annett (Christina Große, „Eltern allein zu Haus“), seine Ex, beschuldigt und unbedingt in Andys Unternehmen mitmachen will. Da ist besagte Annett in Leipzig, die auch eine E-Mail bekommen hat, die konkretere Vorwürfe zum vermeintlichen Tathergang enthält. Da ist Marina (Stefanie Stappenbeck, „Ein starkes Team“), die Absenderin der Mail, zu der Andy nach Schwein reist – die das ganze Zeug aber gar nicht geschrieben haben will. Andy muss feststellen, dass in den 30 Jahren, in denen er sich bei niemandem gemeldet hat, aus seinem alten Freundeskreis ganz unterschiedliche Menschen geworden sind.

Abstrahiert betrachtet, stehen sie alle zumindest ein Stück weit für verschiedene deutsche Biographien, Lebensentwürfe, Lebensweisen. Dies gilt auch für Berit (Karoline Schuch, „Seventeen – Mädchen sind die besseren Jungs“) und Ronny (Peter Schneider, „Systemprenger“), Andys ehemaligen besten Freund, die Andy in Grerow aufsucht, wo die Ereignisse in jener Sommernacht 1990 recht schnell aufgeklärt werden und sich der Fokus auf etwas anderes richtet. Man hadert sehr damit, dass Andy mir nichts, dir nichts seinerzeit urplötzlich abgehauen ist. Seine Freunde fühlen sich von ihm im Stich gelassen, was sich mit Frustration über die Entwicklung in der ehemaligen DDR vermischt, über nicht in Erfüllung gegangene Träume nach dem magischen Sommer 1990 und dem vollzogenen Anschluss an die BRD im Herbst. Alle Figuren stehen stellvertretend für jene DDR-Generation, die noch „realsozialistisch“ sozialisiert worden war, sich im Erwachsenenalter aber mit dem Kapitalismus und seinen unfairen Spielregeln konfrontiert sah.

„Für immer Sommer 90“ ist ein ruhiger und spannend gemachter Roadmovie, der an eine Eskalation im Finale ein nur scheinbar versöhnliches Ende hängt, das von einem ganz anderen, nämlich dicken Ende konterkariert wird. Der Epilog verursacht Gänsehaut und setzt der Melancholie, die sich im Laufe des Films immer stärker in den Vordergrund drängt, die Krone auf. Mit dem richtigen Gespür für seine Figuren und das, was sie umtreibt, skizziert der Film die Ambivalenz dessen, was die Wende-Generation erlebte und durchmachte, die einen in den Wahnsinn treiben kann. Rio Reisers Musik und ein Zitat sind mit Bedacht gewählt und verfeinern diesen unbedingt sehenswerten Film, in dem viel deutsch-deutsche Befindlichkeit steckt – und deshalb Jüngeren helfen könnte, diese zu verstehen.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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