Pelikanblut - Katrin Gebbe (2019)

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Salvatore Baccaro
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Pelikanblut - Katrin Gebbe (2019)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Pelikanblut

Produktionsland: Deutschland 2019

Regie: Katrin Gebbe

Darsteller: Nina Hoss, Katerina Lipkovska, Adelia-Constance Ocleppo, Yana Marinova, Murathan Muslu, Sophie Pfennigsdorf


Mit ihrem Langfilm-Debüt TORE TANZT hat Katrin Gebbe 2013 einen der alptraumhaftesten Streifen gedreht, die mir jemals untergekommen sind: Die Geschichte um einen Jesus Freak, der bereit ist, das Kreuz der gesamten Welt auf den Rücken zu nehmen, und als duldsamer Märtyrer die furchtbarsten Qualen hinter der Fassade einer gutbürgerlichen Vorzeigefamilie hinnimmt, bei der er ein unaussprechliches (Sex-)Sklavendasein fristet, hat mich auf eine Weise verstört und berührt, wie es im deutschsprachigen Kino der letzten Jahrzehnte in dieser Wuchtigkeit eigentlich nur Michael Haneke vermochte. Umso gespannter bin ich auf Gebbes zweiten Streich PELIKANBLUT gewesen, den sie 2019 vorlegt, nachdem sie, unter anderem, eine TATORT-Folge inszeniert und sich am 2018er Okkult-Horror-Kollektivwerk THE FIELD GUIDE TO EVIL beteiligt hat. Ihre dortige Episode A NOCTURNAL BREATH weist thematisch bereits durchaus in die Richtung, die PELIKANBLUT einschlagen wird, erzählt der Kurzfilm doch von der lesbischen Liaison zwischen zwei halbwüchsigen Mädchen in einem schauerromantischen Wald in irgendeinem vorherigen Jahrhundert, von denen die eine im gesamten Dorf als Hexe verschrien ist. Neben einem Hang zum Schaurigen verweist PELIKANBLUT aber allein aufgrund seines Titels zurück zur modernen Christus-Fabel TORE TANZT: Wie das frühchristliche Tierkompendium „Physiologus“ berichtet, soll es eine Eigenart der Pelikanmutter sein, dass sie ihre hungerleidenden oder totgeborenen Jungen dadurch nährt bzw. ins Leben zurückholt, indem sie sich die eigene Brust öffnet, und die Brut mit ihrem Blut besprenkelt. Nicht umsonst gilt der Pelikan innerhalb der christlichen Ikonographie als Allegorie Jesu, - und nicht umsonst erzählt auch Gebbes Films eine Geschichte voll von Opferbereitschaft, wenn diese auch weitgehend verdaulicher ausgefallen ist als der Magenschlag, der einem TORE TANZT verpassen kann…

Zunächst aber Pferdekitsch: Wiebke, (einmal mehr brillant: Nina Hoss), unterhält einen Pferdehof, wo primär die Rösser berittener Polizeimannschaften ausgebildet werden. Sie ist Adoptivmutter eines neunjährigen Mädchens namens Nicolina, das sie aus einem osteuropäischen Kinderheim zu sich geholt hat. Aufgrund ihres Status als Single hat sie in Deutschland nämlich wenig Chancen darauf, ein Kind in ihre Obhut nehmen zu dürfen. Wiebke und Nicolina verstehen sich prächtig, sind längst in ein inniges Mutter-Tochter-Verhältnis hineingewachsen; auch mit dem Hof könnte es kaum besser laufen; und dann erhalten die beiden auch noch die Nachricht, dass sie nach langen Jahren des Wartens eine zweite Tochter bzw. ein Schwesterchen bekommen sollen, namentlich: die 5-jährige Raja, die in einem bulgarischen Waisenheim darauf wartet, von Wiebke abgeholt zu werden. Zunächst kann Wiebke ihr Glück kaum fassen: Nicolina geht liebevoll mit der Stiefschwester um, kein Zeichen von Eifersucht, und überhaupt ist Raja ein Sonnenschein, der ihr in ihrem Leben noch gefehlt hat. Dann aber irritiert Raja die frischgebackene Zweifach-Mama mit ihrem Verhalten zunehmend: Sie beginnt, aggressiv zu werden, gegenüber sich selbst und gegenüber ihrer Umwelt; sie entwendet Cutter-Messer aus der Küche und droht, Wiebke und Nicolina nachts die Kehlen durchzuschneiden; sie malträtiert die schwächeren Kita-Kinder mit brutalen Doktorspielen, bei denen sie ihnen Gegenstände rektal einzuführen versucht. Ein Kinderpsychologe muss her: Anscheinend leidet Raja unter einer Dissoziationsstörung; ein Teil von ihr sehne sich nach mütterlicher Liebe, ein anderer sei einzig auf Zerstörung und Gewalt aus; mehr noch: Da Raja, wie Wiebke aus den Jugendbehörden in Bulgarien herausquetscht, als Säugling tagelang neben ihrer an einer Drogenüberdosis gestorbenen Mutter gelegen und den Leichnam dabei unablässig gebissen habe, um die Mama zu irgendeiner Reaktion zu animieren, sei sie derart traumatisiert, dass sie keine Emotionen empfinden könne; das seien alles bloß leere Worte für sie: Liebe, Familie, Mutter; ein Schutzmechanismus, der der Kind zum Weiterleben verholfen habe, und der den Psychologen raten lässt, Raja in eine Einrichtung zu geben, die mit solchen Fällen vertraut sei. Genau das möchte Wiebke aber partout nicht: Auf eigene Faust versucht sie, Raja von ihren Gespenstern zu befreien, die sie leibhaftig vor sich zu sehen scheint, die ihr all die bösen Taten einflüstern, die sie nachts im Schlaf heimsuchen. Im Glauben, Raja müsse einfach nur ihre verlorene Kindheit nachholen, trägt sie sie tagtäglich in einer Trageschlaufe an ihrem Oberkörper umher, gibt sie ihr die Brust, um sie das Gefühl des Gesäugt-Werdens erleben zu lassen, vernachlässigt sie Nicolina, die wiederum nun doch beginnt, Hass gegenüber Raja zu entwickeln. Der Hof geht vor die Hunde, enge Freunde wenden sich von Wiebke ab, da Raja deren Kindern Schlimmes antut, und nicht mal Benedict, zu dem Wiebke sich hingezogen fühlt, ist irgendwann noch bereit, ihren, wie er es nennt, Wahnsinn mitzumachen, - zumal Rajas Zustand sich auch kein bisschen verbessert, sie vielmehr weiterhin tote Tiere in ihrem Zimmer versteckt, mit ihren Exkrementen das Badezimmer vollsaut, Nicolina mit voller Gewalt in den Arm beißt. In ihrer Verzweiflung erscheint ihr der Rat eines Hofangestellten gar nicht so abwegig, es doch einmal mit einer ihm bekannten Frau zu versuchen, die im Ruf steht, eine Hexe zu sein…

Eine Mutter in zunehmender Isolation und psychischen Grenzzuständen zusammen mit einem kleinen Kind, dessen inneren Traumata sich in äußerlichen Transgressionen manifestieren, - natürlich muss man beim Plot von PELIKANBLUT zuallererst an zeitgenössische (Horror-)Filme mit einer ähnlichen Thematik denken wie Babak Anvaris UNDER THE SHADOW oder Jennifer Kents THE BABADOOK, und wenn Wiebke ihre Adoptivtochter in eine Spezialklinik bringt, wo sie an allerhand Elektroden angeschlossen wird, die ihre Gehirnströme messen sollen, könnte das ebenso ein Bild geradewegs aus Friedkins EXORCIST sein. Die Anschlussfähigkeit gerade an die beiden erstgenannten Filme zeigt sich aber auch darin, dass PELIKANBLUT trotz des einen oder anderen (meiner Meinung nach überflüssigen) Jump Scares und der einen oder anderen (genauso überflüssigen) etwas dick auftragenden Düster-Klangkulisse seinen Fokus über weite Strecken natürlich weniger auf etwaige Horrorelemente legt, sondern vielmehr die Entwicklung Wiebkes in den Mittelpunkt rückt, die ihr sich selbst gegebenes Versprechen, Raja nicht einfach fallenzulassen und in ein Heim abzuschieben, Stück für Stück in eine unaufhaltsame Spirale hineingeraten lässt, aus der sie letztlich nur ein radikales Selbstopfer wieder herausbringt. Schön, (wenn das Wort in diesem Zusammenhang angebracht ist), zeigt Gebbe auf, wie Wiebke sich zunehmend sozial isoliert, wie sie fixe Ideen ersinnt und nicht mehr loswird, wie sie noch die heftigsten Taten Rajas – dass sie zum Beispiel ihr eigenes Bett anzündet und einen Hausbrand riskiert – hinfort lächelt und sich auf (vermeintliche) Anzeichen für eine Besserung des seelischen Zustands ihrer Adoptivtochter versteift.

Während Nora Fingscheidets im selben Jahr erschienener SYSTEMSPRENGER, an den man bei den Gefühlsausbrüchen Rajas ebenfalls unweigerlich denken muss, das Schicksal eines psychisch in Mitleidenschaft gezogenen Kindes von der Warte der Institutionen aufrollt, spielen diese in PELIKANBLUT eine untergeordnete Rolle: Mehr als dass Gebbes Film über das Leiden eines kleinen bulgarischen Mädchens berichtet, das in seinen fünf Jahren bereits Unvorstellbares erlebt haben muss, zeichnet er ein Psychogramm Wiebkes, die, ähnlich wie Tore in Gebbes Vorgängerspielfilm, sich irgendwann ihre eigene Realität geschaffen hat, die für alle Außenstehende wie purer Irrsinn wirken muss. Das ist intensiv gespielt, - (meine Güte: Katerina Lipovska als Raja besitzt bei ihren Ausbrüchen wirklich die Fähigkeit, mir eine Gänsehaut die Arme rauf- und runterjagen zu lassen) - das hat wirklich beklemmende Momente, das wird außerdem bizarr kontrastiert durch das Setting einer Pferdehofidylle: Quasi die Alptraum-Variante von BIBA UND TINA, (wenn ich mir auch sicher bin, man hätte den Film noch etwas konsequenter in die Richtung eines Magenschwingers treiben können, wie es TORE TANZT gewesen ist.) Ohne zu viel verraten zu wollen, vollführt der Streifen in seinem letzten Fünftel eine Wendung, die ziemlich unvorbereitet kommt und bei der ich auch gar nicht recht mitgehen konnte: Dann bricht sich das Schauerromantische, das Übernatürliche, das Magische Bahn, - jedoch anders als zunächst genommen, und ich bin mir noch nicht ganz sicher, inwieweit ich mich mit diesem eigenartigen Happy Ending arrangieren kann, - auch wenn, (das muss ich dann doch noch lobend erwähnen), der Film mit einer der extravagantesten Finaleinstellungen schließt, die ich in letzter Zeit gesehen habe: Eine GODFATHER-Referenz im Milieu von OSTWIND, wenn man so will, - und das macht jetzt alle Mitlesenden hoffentlich neugierig genug, sich PELIKANBLUT anzuschauen, und dann zu TORE TANZT zu greifen für den richtigen Overkill an Unangenehmem…
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