Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Moderator: jogiwan

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CamperVan.Helsing
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von CamperVan.Helsing »

Reinifilm hat geschrieben: Mo 1. Feb 2021, 00:01Polizeiruf 110: Monstermutter“ - Mutter vs. Mutter hätte man den auch nennen können, denn Kernthema ist der Kampf zwischen der Kommissarin und Mutter Olga Lenski (das letzte Mal im Polizeiruf dabei: Maria Simon), die von der gewalttätigen Kriminellen (und ebenfalls Mutter einer quasi gleichaltrigen Tochter) Louisa Bronski (unfassbar gut: Luzia Oppermann) als Geisel genommen wird. Hier geht es dann auch nicht um ein "Wer war der Täter", sondern um das Duell zweier Frauen, dass in einem fast westernartigen Show-Down mündet.

Holla-die-Waldfee - der hat mich echt erwischt, und zwar im positiven Sinne: Am Anfang etwas zäh und stark nach Schema F riechend, geht dieser Polizeiruf irgendwann in die Vollen und liefert ein düsteres Roadmovie mit packendem Ende. Daumen hoch - :thup: 08/10.
Ich hatte mich gestern spontan entschieden, den zu gucken, und war dann doch ziemlich gepackt vom Film. Gerade, wenn dann mal einer dieser kurzen Momente kommt, in denen Louisas zerbrechliche Seite kurz durchschimmert, bevor dann wieder die Härte des Irrsinns zurückkehrt und jede Hoffnung auf ein versöhnende Ende zunichte macht.
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Maulwurf
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von Maulwurf »

Tatort: Die Guten und die Bösen (Petra Katharina Wagner, 2019) 6/10

„Polizeiarbeit bedeutet für mich, die Guten zu beschützen, und die Bösen zu bestrafen. Und zwar ohne Ausnahme.“ Der dies sagt ist Polizist. Derjenige Polizist, der den Vergewaltiger seiner Frau gefoltert und getötet, und sich anschließend seinen Kollegen ausgeliefert hat. Jetzt möchte er selber bestraft werden. Die Bösen müssen bestraft werden, auch wenn die Guten das vielleicht nicht so sehen, und verzweifelt versuchen, für ihren geschätzten Kollegen mindestens mildernde Umstände zu suchen. Obwohl der das gar nicht will …

Ein sehr philosophischer Tatort, der da gezeigt wurde. Einer, der hochinteressante Fragen aufwarf und Stoff für Diskussionsrunden liefern kann. Und der unzähligen Erklärbär-Kritikern im Internet die Möglichkeit gibt, eigene Gedanken zu Wort zu bringen. So wie ich es tue …

Tatsächlich ein sehr philosophischer Krimi. Die Denkmodelle „Wir sind die Guten, weil wir Verbrecher jagen“ und „Das sind die Bösen, weil sie Verbrechen begehen“ kollidieren hier auf das Gemeinste. Vielleicht hätte ich gerne sogar noch einen Politiker im Film gehabt, der seinen Wahlkampfschmonzes dazugibt, um die Skurrilität und Grenzwertigkeit von Moralvorstellungen endgültig zu persiflieren. Wieso Grenzwertigkeit von Moralvorstellungen? Ist es denn nicht so, dass jemand, der einen Mord begeht, per Definition böse ist? Doch, so ist es. In den allermeisten Fällen zumindest. Aber was ist, wenn der einzige Mensch, den man so liebt wie sich selbst, wenn dieser Einzige grausam behandelt, unter Umständen getötet wird, und der Täter davon kommt – Was ist dann? Die andere Wange hinhalten? Vergebung? Ich glaube, die allermeisten Menschen würden zur Blutwurst tendieren, ganz unabhängig davon, dass die moderne Medienwelt uns diese Möglichkeit sowieso als die einzig Wahre und Glücklichmachende vorgaukelt.

Aber macht das wirklich glücklich? Wirkt Peter Lohmeyer in DIE GUTEN UND DIE BÖSEN irgendwie befreiter? Glücklicher? Sein Leben wurde von einem Dritten in eine Hölle verwandelt, und jetzt, nach der Tat, entscheidet er sich selber für ein weiteres Leben in einer anderen Hölle. Der Polizist im Gefängnis als Strafe für eine Tat, die das System, an das er fest glaubte, nicht verhindern und nicht sühnen konnte. Und die Kollegen, die „wissen“ dass sie die Guten sind, die versuchen den Bösen davor zu bewahren, zu viel Strafe auf sich zu nehmen …

Denkgebäude, in denen man sich verlaufen kann. So wie der Coach, dessen eigentliche Aufgabe es ist, die Polizisten mit ihrer Aufgabe zu versöhnen soll. Der dabei die Orientierung in den seelenlosen und fremden Gängen verlor, und ganz furchtbar schnell zu einem wimmernden und weinenden Haufen Elend wurde, sobald die rettenden Leitplanken verloren gingen. Meines Erachtens die zentrale Szene der Folge, denn hier wird gezeigt wie schnell wir degenerieren, wenn die Richtlinien der Zivilisation wegfallen. Wenn die selbst gesetzten Wegweiser fehlen, an denen wir uns Tag für Tag entlangtasten um das Leben irgendwie in den Griff zu bekommen und zu funktionieren. Die labyrinthischen Gänge des Polizeipräsidiums als Analogie zu Begriffen wie Recht und Ordnung, oder Recht und Gerechtigkeit, zwischen denen man ebenfalls sehr schnell die „richtige“ Richtung verlieren kann. Wenn die eigenen Worte und der eigene Kompass wegfallen, zu was werden wir dann? Was würde der Leser dieser Zeilen empfinden, wenn ein zweibeiniges Tier den Liebsten oder die Liebste des Lesers grausam an Leib und Seele verstümmelt? Würde er denken „So, und morgen ist alles wieder gut“? Würde er wie der Coach dasitzen und weinen und verzweifeln, unfähig auch nur eine weitere Entscheidung im Leben zu treffen? Oder würde er wie Peter Lohmeyers Charakter Ansgar Matzerath zur Waffe greifen und sich letzten Endes auf die gleiche Stufe begeben wie das zweibeinige Tier? Vom Guten zum Bösen mutieren? Der Coach jedenfalls wurde durch einen Polizisten aus dem Irrgarten gerettet. Einer, der Gutes tut. Einer der Guten. Und der andere Polizist hat zur Waffe gegriffen und Gleiches mit Gleichem vergolten. Einer, der Böses tut. Einer der … Ja was denn nun?

Bild Bild

Interessant auch der Umstand, dass die allermeisten Szenen innerhalb des Polizeipräsidiums spielen, inklusive einer sehr langen und starken Plansequenz durch 2 Stockwerke, also durch mehrere Ebenen einer komplexen Welt. Sicher sind die Kommissare Janneke und Brix oft an den Fenstern gestanden und haben über die Stadt geblickt, haben quasi den Durchblick gesucht, aber das Gebäude verlassen und sich dem Leben gestellt, das haben sie in dieser Tatort-Folge eher selten. Die Scheiben geben das Spiegelbild wieder, und das „wahre“ Leben bleibt außen vor. Die Komfortzone darf bloß nicht verlassen werden. Höchstens zum Umziehen, um eine schönere und edlere äußere Hülle zu zeigen.
Und die Wahrheit, beziehungsweise der Weg dorthin, wird an die Alten übergeben und im Keller versteckt, damit bloß niemand aufgeschreckt wird. Damit die allgemeine Zufriedenheit nicht gestört wird. Ansgar Matzerath, der Mörder des Mörders, wirkt bereits durch seine Größe und seine Präsenz wie ein Störfaktor. Wie etwas Böses, was von außen in das gemütliche Leben der Guten einbricht und alles durcheinanderbringt.
Und wenn am Ende die Aussagen darüber, was sich jeder unter dem Begriff Polizeiarbeit vorstellt, vom Band laufen, dann sind Gemeinsamkeit und Miteinander aufs wunderbarste wieder hergestellt. Nur Matzerath muss auch hier das irritierende Schlusswort haben. Und sorgt dafür, dass die Denkgebäude vielleicht doch ein klein wenig gegeneinander ins Wanken geraten. Das ein klein wenig Unbehagen verbreitet wird.

Ein sehr philosophischer Krimi. Einer, der so spannende Fragen stellt wie „Hast Du schon mal jemanden so sehr geliebt wie Dich selbst?“. Oder genauso gut: „Hast Du schon mal jemanden so sehr gehasst, dass Du ihn töten wolltest?“ Eine aufregende Reise in ein (Denk)-Gebäude mit vielen Gängen und wenigen Türen. Aber leider ein wenig zu kopflastig, der Bauch wurde nicht gekitzelt. Trotzdem, auch solche Tatorte muss es geben. Und das sind dann oft auch diejenigen, an die man sich unter Umständen lange erinnert.
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
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karlAbundzu
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von karlAbundzu »

Tatort Dresden: Rettung so nah
Beim Einsatz am Elbufer wird ein Retttungshelfer hinterrüks erstickt. Später wird ein anderer RTW in einen Unfall gelockt, der Fahrer stirbt, die Beifahrerin kommt schwerverletzt in Krankenhaus. Karin Gorniak ist schwer erkältet, quält sich so durch und auch Leonie WInkler geht bis an die Grenzen. Denn eine Kollegin im Rettungsdienst scheint immer noch edroht.
Nach langem mal wieder ein Tatort der unverhohlen auf Missstände aufmerksam machen will: Der Stress der Rettungshelfer*innen und die Gewalt, die ihnen oft entgegenschlägt. Dazu ein fein gebauter Fall um ein gestorbenes Kind, oder Drogen. Und zur Abwechslung ist es hier mal der Chef (Toll: Brambacher), der am menschlichsten rüberkommt. Dem geneigten Krimigucken (vor allem dem Columbogucker: Man achte immer auf den ersten Satz, den eventuell Verdächtige zu einem Ermittelnden sagen) ist die Auflösung vielleicht schon früher klar als gewollt, aber daran leidet der Film nicht. Neben gewohnt gut spielenden Kommissarinnen-Paar hier Luise Aschenbrenner als Frau in Gefahr hervorragend. Dazu ein moderner guter Geräusche-Score mit gefälligen Songs (Cigarettes after Sex!!!).
Gut!
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
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Maulwurf
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von Maulwurf »

Tatort: Rettung so nah (Isabel Braak, 2021) 7/10
Wenn man mal Hilfe gebraucht hat, so richtig ernsthaft, weil man verletzt war, oder weil es brannte, oder weil man Opfer einer Straftat wurde, dann weiß man wie wohltuend die Hilfe professioneller Retter und Helfer ist. Wie gut es tut, wenn man verletzt irgendwo auf der Straße liegt und freundliche Menschen kommen die einem Gutes tun wollen. Umso unverständlicher der Gedanke, einem dieser Engel etwas Böses anzutun. Ihn zu bedrohen, zu verletzen, oder gar zu töten. Wie degeneriert und verkommen muss man sein, um einen Rettungssanitäter bei der Ausübung seiner Arbeit zu bedrohen?

Im Dresdner Tatort RETTUNG SO NAH passiert genau das: Der Sanitäter Tarik Wasir wird ermordet, mit Kabelbinder an das Lenkrad seines Rettungswagens gefesselt und eine Plastiktüte über dem Kopf. Die beiden Kommissare bekommen schnell heraus, dass es jemand auf diese spezielle Rettungswache abgesehen hat. Und es zeigt sich, dass zwei Retter besonders im Fokus der Mordanschläge stehen.

Es gibt da diese eine Szene, wo die Retter zu einer Schlägerei mit Verletzten gerufen werden, und dann von maskierten Hornochsen mit Baseballschlägern bedroht werden, doch endlich abzuhauen. Schade, dass die Macher dieses Tatorts sich nicht getraut haben, diese eine Szene als zentralen Moment zu führen, dass diese Ihr Helfer seid auch nur Schweine des Systems-Haltung nicht genauer untersucht wird. Aber nicht jeder Tatort kann immer den Finger auf Probleme halten, denn eigentlich ist das ja eine Krimiserie. Und RETTUNG SO NAH ist, auch wenn die starke Ausgangssituation dadurch ein wenig verschenkt wurde, ein guter Krimi, der sich mit ein paar Nebenhandlungen (aber angenehmerweise nicht zu viel) und roten Heringen (aber angenehmerweise nicht zu viel) in ein packendes Finale rettet. Nichts außergewöhnliches, aber spannend gemacht. Schade auch, dass die Kommissare so unbeteiligt wirken, aber das ändert nichts an dem Gesamteindruck, dass im Fernsehen auch noch ordentliche Krimiware geliefert werden kann, ganz ohne Schießereien und Explosionen. Passt.
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buxtebrawler
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von buxtebrawler »

Tatort: Rettung so nah

„Wir werden ständig beschimpft, bespuckt, bedroht!“

Dem elften „Tatort“ des Dresdner Ermittlungsteams um Kommissariatsleiter Peter Michael Schnabel (Martin Brambach), seit fünf Episoden hauptamtlich aus den Kommissarinnen Karin Gorniak (Karin Hanczewski) und Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) bestehend, liegt ein Drehbuch Christoph Busches zugrunde, mit dessen Inszenierung die Regisseurin Isabel Braak („Plötzlich Türke“) innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe debütierte. Der im Frühjahr 2020 gedrehte Fall spielt im Milieu von Rettungssanitäterinnen und -sanitätern und wurde am 7. Februar 2021 erstausgestrahlt.

„Wir sind da inzwischen Blitzableiter für jedweden Frust!“

Rettungssanitäter Tarik Wasir (Zejhun Demirov, „Little Thirteen“), der als syrischer Flüchtling nach Deutschland gekommen war, wird während eines Einsatzes am Elbufer mittels Elektroschocker, Kabelbinder und einer Plastiktüte im Wagen sitzend erstickt. Seine Kollegin Greta Blaschke (Luise Aschenbrenner, „Hanne“) hatte währenddessen mit einer verwirrten, obdachlosen Frau gesprochen, die den Einsatz ausgelöst hatte. Die Kommissarinnen Karin Gorniak und Leonie Winkler übernehmen die Ermittlungen, in deren Verlauf sowohl ein ausländerfeindliches Motiv in Betracht gezogen als auch unter Sanitäterinnen und Sanitätern sowie in deren direktem Umfeld ermittelt wird. Ersteres scheint auszuscheiden, als ein weiterer Sanitäter einen Einsatz mit seinem Leben bezahlen muss. Man sei ständig Anfeindungen bis hin zu Übergriffen ausgeliefert, wissen die Sanitäterinnen und Sanitäter zu berichten, doch diese Dimension der Gewalt ist neu. Die Situation belastet die Einsatzkräfte nicht nur psychisch, die Gefahr scheint handfest. Kommissariatsleiter Schnabel verordnet Polizeischutz, während man ein besonderes Augenmerk sowohl auf den zu Aggressionen neigenden Berufssoldaten Arnold Liebig (Jochen Strodthoff, „Fack ju Göhte“) als auch den sich verdächtig verhaltenden Sanitäter Rigmers (Matthias Kelle, „Lang lebe die Königin“) richtet…

„Für die Junkies sind wir doch ’ne rollende Apotheke!“

Wenn dieser „Tatort“ seine Geschichte zu erzählen beginnt, ist der Mord bereits geschehen und die Leiche aufgefunden worden. Die Ereignisse zuvor werden im Gespräch mit Greta Blaschke, der Kollegin des Toten, erörtert und in Form einer kommentierten Rückblende visualisiert – ein Stilmittel, das Regisseurin Braak wiederholt aufgreifen wird. „Rettung so nah“ wirft ein Schlaglicht auf die unwirtliche Situation von Rettungskräften im Allgemeinen und schärft das Bewusstsein für diesen Berufsstand sowie die speziellen Herausforderungen, die dieser mit sich bringt. Sich beschimpfen, bedrohen und körperlich angreifen zu lassen, sollte eigentlich nicht dazuzählen, gehört aber, darf man entsprechenden Pressemeldungen Glauben schenken, längst zum Alltag von Sanitäterinnen und Sanitätern – und zwar anscheinend nicht nur durch betrunkene oder drogenvernebelte Klientel. Eine besorgniserregende Entwicklung, für die dieser „Tatort“ sensibilisiert – ohne jedoch das Rettungspersonal zu glorifizieren.

„Mit Waffe würde ich mich hier auf jeden Fall sicherer fühlen!“

Dieses wird durchaus ambivalent dargestellt; so wird sich illegal an Medikamenten bedient oder zur Selbstverteidigung zur Schusswaffe gegriffen. Im Speziellen folgt die Handlung Greta Blaschke, die befürchten muss, das nächste Opfer des Mörders zu werden. Man zeigt die alleinerziehende Mutter privat mit ihrer kleinen Tochter, beim Entspannungs-Joint und beim Versuch, mit jemandem aus der Nachbarschaft (Golo Euler, „Tatort: Im Schmerz geboren“) eine leidenschaftliche Nacht zu verbringen. Weiß sie mehr, als sie sagt? Luise Aschenbrenner ist die schauspielerische Entdeckung dieser Produktion: Pausbackig und mit müdem bis traurigem Blick spielt sie eine junge Frau, die aufgrund ihres Berufs psychisch schneller zu altern scheint als körperlich. Ohne zu wissen, was es ist, merkt man ihr an, dass sie eine zentnerschwere Last mit sich herumschleppt. Seit 2014 ist Aschenbrenner immer mal wieder im TV zu sehen, vor dieser sogar bereits in zwei anderen „Tatort“-Episoden – und hoffentlich nicht zum letzten Mal.

Obwohl während des ersten Covid-19-Pandemie-bedingten Shutdowns gedreht, grassiert gemäß Drehbuch eine Grippewelle in der Stadt, die insbesondere Gorniak zu schaffen macht. Dennoch sprechen sie und Winkler sich in aller Kürze aus, und auch ihr Vorgesetzter Schnabel ist mittlerweile weit von der konservativen Witzfigur, die die Rolle in den ersten Episoden zumindest zeitweise darstellte, entfernt. Das Dresdner Trio ist zu einem sehr funktionalen Team zusammengewachsen. Die mehrere Verdächtige einführende Handlung übertreibt es in Einzelszenen, beispielsweise mit dem unvermittelten Ableben einer dieser Figuren. Auch die Szene, in der Vermummte, die offenbar Dresdner Ultras darstellen sollen, auf vollkommen sinnlose und idiotische Weise einen Sanitäter angreifen, bereitet mir ein wenig Kopfschmerzen: Einerseits wird dadurch endlich einmal ganz konkret gezeigt, worüber die Rettungskräfte zuvor nur redeten, andererseits drohen derartige Momente in TV-Produktionen mit der Reichweite eines „Tatorts“ auch stets, ein gesellschaftliches Zerrbild gewalttätiger, krimineller und völlig durchgeknallter Fußballfans zu zementieren. Nichtsdestotrotz ist die eskalative Zuspitzung, die sich aus dieser Szene ergibt, überaus effektiv. Mitunter mäandert man aber auch etwas ereignisarm vor sich hin, bis im letzten Drittel mit einer nahegehenden Hintergrundgeschichte um einen Kindstod Dramaturgie und Tragik gleichermaßen hochgeschraubt werden.

Dazu passt dann auch die ungemütliche, insbesondere in Gretas Szenen melancholische bis bedrückende Atmosphäre, die zu erzeugen die basslastigen Elektroklänge des Duos Dürbeck & Dohmen sich als hilfreich erweisen. Der „Tatort: Rettung so nah“ entpuppt sich als gelungene Mischung aus klassischem Whodunit?-Krimi und Milieu- bzw. Berufsgruppenporträt mit starker dramatischer Note und sowohl einer sozialen Botschaft als auch nicht ganz leicht zu beantwortenden Fragen nach Schuld, Sühne und Akzeptanz sowie Verarbeitung tragischer Unglücksfälle. Damit dürfte Busche, Braak und ihrem Team das Kunststück geglückt sein, sowohl ein konservatives „Tatort“-Publikum zu befriedigen als auch diejenigen zufrieden zu stellen, die soziale Missstände aufgegriffen wissen und neben polizeilicher Entwicklungsarbeit interessante Figuren zu sehen bekommen wollen.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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purgatorio
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von purgatorio »

Den Dresden-Tartort hatte ich mir aus Gründen mit meiner Frau angesehen.
Am Anfang hatte der die Spannungskurve ganz ordentlich angezogen. Unter der Brücke bei der Obdachlosen fand ich das ganze sogar richtig creepy inszeniert. Zügig schien mir dann Dampf und Tempo raus zu sein, aber die Luft ging der Story nicht aus. Finger in eine offene Wunde, interessant inszeniert - das hielt alles schon noch bei der Stange, wenn auch mit nur mittelmäßigem Spannungsniveau. Da fällt mir als eigentlich-eher-nicht-so-Tartort-Zuschauer-in-Regelmäßigkeit ein, dass ich das Opening eines früheren Dresden-Tartorts ebenfalls sehr finster und creepy fand. Einsame abgefuckte Villa im Wald (Dresdner Heide) - Autounfall - in der Villa Leichen zu surrealen Normaloszenerien arrangiert. Wohlige Spannung :mrgreen:
Im Prinzip funktioniere ich wie ein Gremlin:
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karlAbundzu
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von karlAbundzu »

Jetzt habe ich Appetit auf eine schöne Tarte. :wink:
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
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karlAbundzu
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von karlAbundzu »

Tatort Ludwigshafen: Hetzjagd
In den Berichten hiess der immer der Nazi-Tatort, nungut.
Eins vorweg: Entweder ist Ludwigshafen wohl nicht so hübsch, oder die wollen partout nix Schönes zeigen: Selbst die beliebten Establishing Shots, die ansonsten immer gerne über Wahrzeichen der Stadt mit Tourismuswirkung fliegen, bestehen hier aus aus allgemeiner Sicht Häßlichem.
Ein Rock gegen Rechts Veranstalter wird vom Nazinetzwerk Revenge 88 bedroht, er bekommt kein Personenschutz. Eines morgens verläßt er die WOhnung zum Joggen. Ein Nazi will ihm auflauern und ihn abballern, findet die Zcke aber nur noch tot vor. Die Sirenen heulen, und auf der Flucht mit seiner Freundin erschießt er eine Polizistin. DIe Freundin kann abhauen, er kommt in den Knast. Derweil zerstreitet sich die Freundin des Toten mit ihrer Mutter und findet nichts, wo sie hinkann. Bis sie die Freundin des Nazis trifft.
An sich schöne paralell erzählte Geschichte zweier Pärchen, und eben auch aktuell, wo sich die Nzaideppen immer mehr trauen. Dazu endlich mal ein Verfassungsschützer, der zwar zwielichtig bleibt, aber eben keiner der finstren Sorte ist. Die Ermittler sind gut dabei, mit Johanna Stern werde ich immer mehr warm. Und auch die Auflösung, die in den Medien kritisiert wurde, störte mich nicht.
Doch an zwei Stellen schlägt die Zufälligkeit doch allzu große Kapriolen, wo ch geneigt war, den Kopf zu schütteln.
Nun, aber ich wurde unterhalten.
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
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Reinifilm
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von Reinifilm »

"Tatort: Schoggiläbe" - Hier kann ich glatt den Kommentar zum letzten Schweizer Tatort recyceln: Schnarcher mit schönen Bildern, Keine Ahnung warum der von der Kritik so abgefeiert wurde (insbesondere von Spiegel Online).
Allerdings fällt für mich die Gesamtwertung diesmal ein klein wenig höher aus, da mir die Story etwas besser gefiel und es einige originelle Einfälle von der Regie gab. 05/10
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buxtebrawler
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von buxtebrawler »

Tatort: Kressin und die Frau des Malers

„Jede Frau ist unglücklich…“

Nachdem die ersten drei Fälle des Kölner Zolloberinspektors und Playboys Kressin (Sieghardt Rupp) im Abstand von jeweils zwei Monaten ausgestrahlt worden waren, ließ sich die noch junge öffentlich-rechtliche „Tatort“-Krimireihe für die vierte Kressin-Episode über ein Jahr Zeit. Die am 28. Mai 1972 gezeigte Folge „Kressin und die Frau des Malers“ wurde nicht mehr von Wolfang Menge geschrieben, sondern vom in den Niederlanden lebenden jungen Surinamesen Pim de la Parra Jr. zusammen mit Klaus Recht und Hans Heinrich Ziemann. De la Parra Jr. nahm auch auf dem Regiestuhl Platz, es sollte seine einzige Regiearbeit bleiben.

„Sie sehen aus wie einer, der nichts tut.“

In und bei Köln treibt seit geraumer Zeit eine Kunstdiebstahlbande ihr Unwesen. Als eine Lieferung Schaufensterpuppen zu viel Hitze abbekommen hat, entdecken Zollbeamte, dass diese aus Wachs gefertigt wurden und zum Schmuggel von Kunstskulpturen genutzt werden sollten. Zolloberinspektor Kressin wird mit dem Fall betraut, die Spur führt nach Amsterdam – und in die Arme einer attraktiven jungen Frau…

„Fast so schön wie Frankfurt!“ – „Stinkt ein bisschen weniger…“

Ein Gemäldediebstahl wird im Prolog minutiös und spannend inszeniert dargestellt. Kressin findet sich anschließend auf einer hippen Party wieder, wo er Ausschau nach Frauen hält. Eine alberne Tanzszene später blitzt er bei einer mondänen Blondine (Heidi Stroh, „Der Stoff, aus dem die Träume sind“) ab, schnappt sich aber gleich die nächste Dame (Maria Brockerhoff, „Ich kauf mir lieber einen Tirolerhut“). Als er in Sachen Kunstschmuggel zu ermitteln beginnt, sucht er zunächst die Spedition IKS auf, wo er gleich mit der heißen Speditionskauffrau Eva (Brigitte Skay, „Zu dumm zum…“) schäkert – und genügend Zeit bekommt, sie näher kennenzulernen, denn als ihr verdächtiger Chef Jan Morton (Hans Quest, „Birdie“) auftaucht, schließt dieser beide im Büro ein und sucht das Weite.

Gab es bisher keinen Toten, ändert sich dies mit dem nächsten Coup der Bande: Bei einem Kirchendiebstahl wird sie ertappt und überfährt auf ihrer Flucht einen Polizisten. Dieser soll nicht lange die einzige Leiche bleiben, auch die Gangsterbande dezimiert sich gegenseitig. Die Handlung hat ein ordentliches Tempo vorgelegt, auch Kressins erster Ermittlungserfolg lässt nicht lang auf sich warten – noch bevor sich der Schauplatz nach Amsterdam verlagert. Etwas erzwungen wird Oberganove Sievers (Ivan Desny), Kressins Nemesis, ins Spiel gebracht, der hier jedoch lediglich einen Kurzauftritt hat und im gesamten Verlauf so gut wie keine Rolle spielt. In Amsterdam leistet Kressin dann zumindest ansatzweise so etwas wie klassische Ermittlungsarbeit, wenn er sich nicht gerade mit der kurzerhand mitgereisten Eva vergnügt.

Kunstdiebstahl wird für das Publikum aufbereitet als ein Geschäft, an dessen Ende narzisstische Sammler stehen, die von gewieften, aber skrupellosen Verbrechern für viel Geld beliefert werden. Man erhält einen Einblick in die Möglichkeiten des unbemerkten Diebesgutschmuggels und verbindet all das mit einer verruchtem Femme fatale – Anna, der kühlen Blonden vom Beginn –, herrlich altmodischen Krimiideen wie einer versteckten Galerie hinter einer Geheimtür und der Diskrepanz zwischen kriminelle Machenschaften billigenden Kunstsammlern und den von ihnen beauftragten Ganoven, die absolute Kunstbanausen und zudem enorm habgierig sind, sodass entsprechende Konflikte vorprogrammiert sind.

Die ohnehin schon rasante Handlung übernimmt sich jedoch etwas mit einer weiteren Wendung, die einen weiteren Toten zur Folge hat und in ein recht dämlich inszeniertes Duell zwischen Anna und Kressin mündet, in dem Kressin auf jeglichen Selbstschutz verzichtet und damit unverständlicherweise auch noch durchkommt. Besser weiß da die finale Pointe zu gefallen, die eine weitere Überraschung bereithält. Kressins Schürzenjäger-Image scheint sich jedoch langsam etwas abzunutzen, zumal hier ein wenig die ironische Ebene fehlt. Stattdessen wird das fragwürdige Frauenbild einer auch für Kressin unnahbaren, ihren eigenen – wenn auch illegalen – Weg gehenden Frau, die die Antagonistin darstellt, gezeichnet, während man das naive Dummchen Eva, das sich mir nichts, dir nichts von Kressin vernaschen und sich als sein Anhängsel mitnehmen lässt, offenbar als erstrebenswerteren Lebensentwurf präsentiert. Dafür ist die gern erotische Rollen spielende Brigitte Skay aber auch ein echter Hingucker, der viel nackte Haut zeigt, fröhlich aufspielt und es so richtig schön tumb aus der Wäsche zu schauen versteht.

Ein Hingucker ist auch Kressins schickes Cabriolet, eher verzichtbar hingegen der obligatorische „Tatort“-Kommissar-Kurzauftritt, den diesmal der Kollege Konrad (Klaus Höhne) aus Frankfurt bestreitet. Klaus Doldingers Musik macht nach wie vor viel Spaß und geht gut ins Bein – und wenn Kressin gegen Ende selbst die eine oder andere Ware über die Grenze schmuggeln will, schlicht weil er’s kann, ist die selbstironische Ebene doch überdeutlich wieder präsent und hat die Lacher – oder auch die Empörung – auf ihrer Seite.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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