Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Moderator: jogiwan

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karlAbundzu
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von karlAbundzu »

Tatort Nürnberg: Warum?
Ein junger und allseits beliebter Informatiker wird Opfer eines brutalen Verbrechens. Wir folgen einerseits der Aufklärung des Falles mit dem Team um Ringelhahn und Voss, andererseits den Eltern, die mit der titelgebenden Frage umgehen müssen.
Der Fall ist gut konstruiert und wird bis zum Ende spannend inszeniert. Von den Privatgeschichten der Ermittler gibt es wenig, nur Voss' frische Liebe leidet unter seiner Arbeit.
Die Geschichte der Eltern ist schweres Drama, brillant gespielt von Valentina Sauca und Karl Markovics. Starkes Duo, die hier mit sehr wenigen Worten arbeiten.
Auch sonst gut besetzt, Ralf Bauer fast nicht erkannt; gut, wenn Götz Otto dabei ist, ist der ja automatisch im Verdächtigen -Pool.
Hat mir gut gefallen.
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von buxtebrawler »

Tatort: Die Abrechnung

„Glauben Sie, Sie sind der Erste, der dasteht, als hätt’ er sich in die Hose geschissen?!“

Nach den Fällen 3 und 4 des Essener „Tatort“-Kommissars Heinz Haferkamp (Hansjörg Felmy) und dessen Assistenten Willy Kreutzer (Willy Semmelrogge) griff man auf das bewährte Regie/Drehbuch-Duo Wolfgang Becker und Karl Heinz Willschrei zurück, das für die ersten beiden Essener Episoden verantwortlich zeichnete. Erstmals über bundesdeutsche Bildschirme flimmerte „Die Abrechnung“ am 8. Juni 1975.

„Scheiß reiche Weiber!“

Der vermögende Professor Stürznickel wird in seinem Zuhause erschlagen. Schwiegertochter Evelyn (Maria Schell, „Der Hexentöter von Blackmoor“) sagt aus, dass es ein Einbrecher gewesen sei, den sie im Affekt erschossen habe. Kommissar Haferkamp jedoch ist davon überzeugt, dass Evelyn die Täterin ist und den vermeintlichen Einbrecher, mit dem sie eine Affäre hatte, für ihre Zwecke als nützlichen Idioten ausgenutzt hat. Evelyn wird angeklagt, doch die Beweislage ist schwach. Der renommierte Anwalt Dr. Alexander (Romuald Pekny, „Das Wunder des Malachias“) erwirkt Evelyns Freispruch. Doch kurz darauf verschwindet Evelyns Stieftochter, die 14-jährige Angela (Irina Wanke, „Die Verdammten“), spurlos. Zuvor hatte sie ihren Erbanteil abgelehnt, weil sie mehr wusste, als Evelyn lieb sein konnte…

„Die Menschen brauchen so etwas: Mythen…“

Dieser „Tatort“ wartet mit gleich zwei Toten zu Beginn auf, wobei spannungsfördernd nicht gezeigt wird, wer den Professor erschlagen hat. Dass Evelyn Dreck am Stecken hat, wird indes schon früh deutlich, zumal auch ein Kumpel des nun toten Kriminellen Neugebauer nicht an dessen Täterschaft glaubt und die gemeinsame Ganovenehre beschwört. Haferkamps Telefonat mit dem Münchner Kommissar Veigl (Gustl Bayrhammer) beschert diesem den damals obligatorischen Gastauftritt, wirkt jedoch überflüssig und konstruiert – weshalb er schon recht früh abgefrühstückt wird. Überraschend schnell kommt es dann auch zur Gerichtsverhandlung, in der „Die Abrechnung“ Züge einer Gerichtsposse annimmt. Der geniale Anwalt Dr. Alexander liefert eine formidable Show und schafft es, Haferkamp als Spießer hinzustellen. Der Höhepunkt dieser Episode!

Jedoch ist nun erst die halbe Laufzeit um. Mit Angelas Verschwinden wächst dem bisherigen Fall ein Ableger. Kurze visualisierte Erinnerungsfetzen Angelas sorgen für einen Wissensvorsprung des Publikums gegenüber der Polizei, bei der der gute Kreutzer leider eine sehr untergeordnete Rolle einnimmt. Angelas Tod komplettiert den Bodycount und wird zum Anlass genommen, die damals minderjährige Irina Wanka splitterfasernackt in der Leichenhalle zu zeigen. Das würde man heutzutage so wohl nicht mehr machen, aus Gründen. Erneut darf Dr. Alexander antreten und eine entscheidende Rolle spielen, womit dieser „Tatort“ über eine Femme fatale und die Macht guter Advokat(inn)en zwar unwahrscheinlich überkonstruiert, letztlich aber eben auch rund, in sich schlüssig, endet und der Gerechtigkeit Genüge getan wird.

Da Hafi dabei diesmal eher eine Statistenrolle bekleidet, macht er mitunter ein in sehr distanzlosen Großaufnahmen eingefangenes langes Gesicht und philosophiert desillusioniert seiner Ex-Frau Ingrid (Karin Eickelbaum) gegenüber. Gute, sehr ansprechend besetzte, versiert gefilmte Krimiunterhaltung und vermutlich einer der erinnerungswürdigsten Essener Beiträge zur öffentlich-rechtlichen „Tatort“-Reihe.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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karlAbundzu
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von karlAbundzu »

Polizeiruf München: Das Licht, das die Toten sehen
(den Titel kann ich mir übrigens nicht erklären. Nicht, dass es wichtig wäre, aber beim gucken eben "Wie hiess der nochmal" bekomme ich den gar nicht zum Film)
Mädchen wird tot gefunden, an einer Stelle, wo mal der Rucksack eines ähnlich aussehenden vermissten Mädchen gefunden wurde. Wir tauchen ein in eine Szene Jugendlicher um Schlittschuhlaufen, Drogen, Machtspielchen, Verlustbewältigung.
Elisabeth Eyckhoff ermittelt ja ungewöhnlich mit einer hohen Empathie für alle Beteiligten, hier bekommt sie einen neuen alten Kollegen, mit dem sie sich gut versteht, der allerdings eher old schoolig daher kommt.
Ich mag diesen andern Ansatz ja, nur schade, dass sie nicht einfach nur macht, sondern auch sich ständig erklärt und erklären muss. Ein wenig unelegant. Schön allerdings immer ihr Umgang mit Lob ("Das war gut ermittelt" "ich weiß" ohne dabei arrogant zu wirken!)
Tolle Schaupspielerin, auch bei den anderen großen Rollen gut besetzt, die jungen Frauen, die Mütter. Einzig die Rolle des jungen Mannes, der Unternehmersohn war ein wenig zu klischeeig, sehr 90er, und das der in der Firma überhaupt noch was zu machen hat, sehr unglaubwürdig.
Gefiel.
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Beitrag von buxtebrawler »

Tatort: Mordgedanken

„Wer verarscht Sie?“

Nach Kriminalhauptkommissar Brammers (Knut Hinz) erstem Fall, dem enttäuschenden „Kneipenbekanntschaft“, ging es in der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover am 6. Juli 1975 mit „Mordgedanken“ sogar noch schwächer weiter. Der angeblich authentische Fall misslang Regisseur Bruno Jantoss („Frau Brückl muss sich umstellen“) und den Autoren Rainer Boldt und Rüdiger Humpert leider gründlich. Ob es an der Romanvorlage „Mord im September“ aus der Feder Stefan Murrs lag, kann ich nicht beurteilen, denn diese ist mir unbekannt. Es handelte sich um Jantoss‘ erst zweite Regiearbeit und es sollte seine letzte innerhalb der öffentlich-rechtlichen „Tatort“-Krimireihe bleiben.

„Liebe – was ist das schon…“

Irgendjemand verpackt Teile einer Frauenleiche in Kartons und schickt diese mittels Güterzügen auf Reisen nach nirgendwo. Kommissar Brammer, gerade aus dem Urlaub zurück, versucht, der Angelegenheit auf den Grund zu gehen. Derweil reist die attraktive junge Daniele Bontoux (Silvia Reize, „Der Steppenwolf“) von Brüssel in den niedersächsischen Ort Rhüden, um Wurtstfabrikant Edmund Freese (Gunnar Möller, „Hunde, wollt ihr ewig leben?“) zu treffen, zu dem sie eine Affäre unterhält. Während ihrer Reise stellt ihr Bundesbahnoberrat Sperling (Ulrich Matschoss, „Tatort: Strandgut“) nach. Freese möchte sich von seiner zurzeit verreisten Frau Tina scheiden lassen. Sein Schwager Alfred Georgie (Peter Herzog, „Ermittlungen gegen Unbekannt“) wiederum trauert um Freeses jüngst verstorbene Schwester. Georgies Tochter Ricki (Jutta Speidel, „Die letzten Ferien“) hingegen ist ein Verhältnis zum Familienanwalt Robert Kenzie (Herbert Bötticher, „Tatort: Acht Jahre später“) eingegangen, Freeses Sekretärin Frau Kotelecki (Angela Hillebrecht, „Der Pendler“) schwor einst einen Meineid für ihren Chef und sieht daher eher sich denn Daniele als Tinas Nachfolgerin an seiner Seite – und wer durch all diese komplizierten Beziehungskisten noch vollumfänglich durchsteigt, dem sei mein Respekt versichert. Sperling konnte zwar nicht bei Daniele landen, kann aber dem zunächst nur Bahnhof verstehenden Brammer helfen, indem man gemeinsam ermittelt, dass alle Leichenteilewege zurück nach Rhüden führen. Sperling konstruiert einen Zusammenhang mit Daniele und so landet irgendwie Brammer in all dieser Mischpoke…

Nach dem kruden Leichenteilkartonfund im Prolog verfärbt sich das Bild mit einem Animationseffekt effektheischend blutrot und beteuert ein Lauftext die Authentizität des Gezeigten, nur die Namen und Orte habe man geändert. Schon bald wendet man irrsinnig viel Zeit dafür auf, Daniele und ihre Familie zu Hause vorzustellen – die französischen Dialoge werden untertitelt –, bis sie endlich auf Reisen geht. Handelt es sich um Rückblenden zu den letzten Minuten der Toten, stammt der abgetrennte Arm von ihr? Schon zu weit gedacht: An dieser Stelle wird schlicht einer von mehreren parallelen Handlungssträngen etabliert. Bahnblockwart Sperling erweist sich als verschlagener Stalker, verschwindet jedoch erst einmal aus der Handlung. Dafür kommt Herr Freese ins Spiel, dem gegenüber Daniele mal mit französischem Akzent spricht, diesen aber nicht konsequent durchhält. Ein Indiz in einem Mordfall? Wieder zu weit gedacht, denn es handelt sich offenbar schlicht um schauspielerisches Unvermögen.

Zu Daniele, Sperling und Freese gesellen sich nach und nach die zahlreichen weiteren Figuren aus der Inhaltsangabe, bis das Seifenoper-Ensemble mit seinen komplizierten Verhältnissen, durch die kaum noch jemand durchsteigt, komplett ist. Brammer, der junge Kommissar in Lederjacke, bekommt einen Rüffel wegen Verstoßes gegen die Vorschriften, was wie ein hilfloser Versuch wirkt, ihm Charakter angedeihen zu lassen. Aufhorchen lässt da eher der Kirschlikörkonsum Sperlings, der, kaum greift die Handlung diesen Bahnfuzzi wieder auf, bedenkliche Ausmaße annimmt. Was seiner Figur eine tragische Note verleihen soll, avanciert zu einer Art Running Gag. Dafür arbeiten Sperling und Brammer nun eng zusammen, und auf den Badener „Tatort“-Kommissar Gerber (Heinz Schimmelpfennig) entfällt der damals obligatorische Gastauftritt – als sei das Figurenensemble noch nicht groß genug. Immerhin hat er den Überraschungsmoment auf seiner Seite, denn angetäuscht wurde zunächst ein weiterer der unzähligen Gastauftritte Kommissar Veigls aus München.

So plätschert die Handlung ohne erkennbaren roten Faden lange vor sich hin, frei von jeder Action, kaum spannend und von einer derart drögen, seifigen Stimmung, dass man inständig darauf hofft, die Auflösung möge es noch herausreißen. Im Finale lässt man noch ein enervierend lautes Uhrenticken über sich ergehen, um schlussendlich zu realisieren, dass (Achtung, Spoiler!) es hier nicht einmal einen Mord gibt! Brammer klugscheißt unangenehm belehrend am Schluss, doch woran die Tote letztendlich verstorben ist, behält dieser „Tatort“ für sich. Ein weiterer Lauftext verkündet am Ende die Gerichtsurteile. Pickt man sich nur die Rosinen unter den Wiederholungen klassischer „Tatort“-Episoden heraus, läuft man Gefahr, zu vergessen: Auch so war der bundesdeutsche Kriminalfilm damals – bieder, hölzern, ereignisarm und langweilig. 3,5 von 10 Leichenteilen behalte ich, der Rest geht postwendend an den NDR retour!
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Beitrag von buxtebrawler »

Polizeiruf 110: Das Licht, das die Toten sehen

„Der Schlittschuh-Mörder von der Isar?“

Im Münchner „Polizeiruf 110“-Arm hatte es Elisabeth „Bessie“ Eyckhoff (Verena Altenberger) in ihrem vierten Fall „Bis Mitternacht“ zur Oberkommissarin bei der Mordkommission gebracht. Regisseur Filippos Tsitos („Tanze Tango mit mir“) verfilmte für Eyckhoffs am 15. Mai 2022 erstausgestrahlten fünften Einsatz ein Drehbuch Sebastian Brauneis‘ und Roderick Warichs und schuf damit eine ungewöhnliche Mischung aus Kriminalfilm und Psychodrama.

„Hey, nicer Drop!“

An einem Waldstück wird der in Plastikfolie eingepackte Leichnam Laura Langhammers gefunden, einer Jugendlichen, die in ihrer Freizeit gern den Münchner Eistanz-Palast aufsuchte. Oberkommissarin Eyckhoff wird von Caroline Ludwig (Anna Grisebach, „Heiter bis tödlich – Koslowski & Haferkamp“) darauf gestoßen, dass Parallelen zum Fall ihrer vor zwei Jahren spurlos verschwundenen Tochter Anne existieren. Tatsächlich sahen sich beide Mädchen sehr ähnlich und in beiden Fällen wurde ein weißer Transporter gesichtet. Die Ermittlungen Eyckhoffs und ihres ihr bereits aus Streifendienstzeiten bekannten neuen Kollegen innerhalb der Mordkommission, Dennis Eden (Stephan Zinner), führen jedoch ausgerechnet zu Caroline: Überwachungskamerabildern zufolge hatte sie sich kurz vor deren Ermordung mit Laura an der Schlittschuhbahn unterhalten. Caroline ertränkt seit Annes Verschwinden ihren Kummer im Alkohol und stellt Mädchen, die ihr ähnlichsehen, nach – so auch Stefanie Reither (Zoë Valks, „Meine Nachbarn mit dem dicken Hund“), die mit ihrem dauerbekifften und sehr anhänglichen Halbbruder Patrick Kundisch (Aniol Kirberg) zusammenlebt und Drogen vertickt. Eyckhoff tastet sich vorsichtig an die Gemengelage heran und versucht, sich einen Gesamtüberblick über sämtliche Verstrickungen zu verschaffen…

„Das Licht, das die Toten sehen“ ist kein gewöhnlicher Krimi. Nicht nur der Leichenfund gibt Rätsel auf (Täter? Motiv?), sondern auch die äußerlichen Ähnlichkeiten zwischen den drei jungen Frauen und zwischen den Müttern der verschwundenen bzw. toten Mädchen. Nicht minder rätselhaft ist die Beziehung zwischen der attraktiven, selbstbewussten Stefanie und ihrem nichtsnutzigen, schmalbrüstigen Halbbruder, der die gemeinsame Wohnung nie zu verlassen scheint. Undurchsichtig sind auch Carolines familiäre Verhältnisse um ihre Tochter und ihren Ex-Mann (Gerhard Wittmann, „Die reichen Leichen. Ein Starnbergkrimi“). Offensichtlich hingegen sind ihre Trauer sowie die quälende Ungewissheit den Verbleib Annes betreffend, an der sie endgültig zu zerbrechen droht. Zugleich macht sie sich verdächtig. Hat sie eines der Mädchen auf dem Gewissen? Oder gar beide?

Da Tsitos’ erster „Polizeiruf 110“-Beitrag alles andere als geschwätzig ist, wird die mysteriöse Grundstimmung lange aufrechterhalten und in ein urbanes Ambiente eingebettet, in dem Hochhausschluchten auf Stroboskop und Kälte der Eislaufbahn treffen, jugendliche Verunsicherung und Langeweile mit Drogen bekämpft werden und die Manipulation von Mitmenschen als besonderer Kick herhalten muss. Erzählt wird diese Geschichte in zwei lange Zeit parallel verlaufenden Handlungssträngen (inklusive einer Rückblende), die nach und nach immer mehr Berührungspunkte aufweisen, bis sie im Finale aufeinanderprallen. Dieses bestreitet Eyckhoff mit psychologischer Finesse und Empathie in einer Art klassischer Verhörsituation, ohne dass dieser „Polizeiruf 110“ dadurch auch nur annährend angestaubt oder langatmig wirken würde. Stattdessen vermengen sich Spannung und Suspense zu einer reizvollen Melange. Melancholie und Tristesse bestimmen die besondere frühherbstliche Atmosphäre dieses Falls, zu der Eyckhoff mit ihrer Menschlichkeit und positiven Lebenseinstellung einen Gegenpol bildet.

Die fein austarierte, neugierig machende Figurenpsychologie fordert etwas Konzentration ab. Gelingt es, sie aufzubringen und sich auf die Figuren einzulassen, sich zu versuchen, in sie hineinzudenken, wird dies mit unheimlichen guten schauspielerischen Leistungen sowie einem beeindruckenden Stilwillen Tsitos‘ und Kameramann Netzers belohnt. Zoë Valks ist die Entdeckung dieser Episode und deren visuelle Ausgestaltung eine Klasse für sich, ohne in Artyfarty-Niederungen abzudriften. Auf der horizontalen Erzählebene scheint man in Eyckhoff/Eden ein ungleiches Ermittlerduo etablieren zu wollen, das grundverschieden (menschelnd empathisch versus sachlich distanziert), aber dennoch in der Lage zur konstruktiven Zusammenarbeit ist. „Das Licht, das die Toten sehen“ beantwortet am Ende viel und doch so wenig – was jedoch seinen Teil dazu beiträgt, ihn zu einem der auf eine böse Weise faszinierendsten Fälle dieser öffentlich-rechtlichen Krimireihe zu machen, der lange in mir nachhallt.

8,5 von 10 Schlucken direkt aus der O-Saft-Flasche rinnen dafür meine Kehle hinunter.
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Tatort: Fortuna III

„Um jeden Preis… um jeden!“

Fall Nummer 8 des Essener „Tatort“-Kommissars Heinz Haferkamp (Hansjörg Felmy) und dessen Assistenten Willy Kreutzer (Willy Semmelrogge), die einmal mehr von Stammregisseur Wolfgang Becker inszenierte Episode „Fortuna III“, wurde nicht wie üblich an einem Sonntag gesendet, sondern ausnahmsweise an einem Montag: dem Pfingstmontag des Jahres 1976. Das Drehbuch verfassten Hanuš Burger und Wolfgang Mühlbauer.

Der zwölfjährige Paul Starczik (Oliver Urlichs) ist ein echter Lausebengel, an dem sein Vater (Ferdinand Dux, „Chinesische Mauer“), Platzwart eines Betriebssportvereins, verzweifelt. Schon oft ist Paul weggelaufen und hat sich auf dem Gelände der verlassenen Zeche „Fortuna III“ versteckt, wo er Ruhe vor seinem Vater hat. So auch an diesem Abend, als er Zeuge wird, wie der angetrunkene Likörfabrikbesitzer Jul (Gerd Böckmann, „Jeder stirbt für sich allein“) die neue Vereinsheimsaushilfe Ellen Schelle (Evelyn Palek, „Der gestohlene Himmel“) auf ihrem Heimweg belästigt und zu vergewaltigen versucht, sie dabei versehentlich totschlägt. Wie soll Paul sich nun verhalten? Jul ist einer der wenigen, die immer zu ihm gehalten haben. Er hat ihm eine Lehrstelle in seiner Fabrik in Aussicht gestellt und ist außerdem mit Pauls großer Schwester Birgit (Gracia-Maria Kaus, „Das Spukschloss von Baskermore“) verlobt. Paul verspricht Jul auf dessen Drängen hin, Stillschweigen zu bewahren. Kommissar Haferkamp und dessen Assistent Kreutzer nehmen die Ermittlungen auf und treten dabei auch an den widerborstigen Paul heran. Mit Paul, der mittlerweile von seinem überforderten Vater ins Erziehungsheim gesteckt wurde, war auch vorm Totschlag nicht gut Kirschen essen: Seit sein bester Freund Ali zusammen mit seiner Familie nach Australien ausgewandert ist, hat er gar keine Freunde mehr. Am liebsten würde er auch nach Australien abhauen, benötigt dafür jedoch 2.000 Mark. Die sollten Jul Pauls Schweigen doch wert sein, oder…?

„Er mag eben keine Bullen!“

„Fortuna III“ erobert mit seinen authentischen Ruhrpott-Bildern, die von einer Kamera mit viel Verve eingefangen werden, die Herzen des Publikums – insbesondere in der Retrospektive mit ein paar Dekaden Abstand. Vergewaltigungsversuch und Totschlag werden in allen Details gezeigt und bereiten angemessenes Unwohlsein, Täter und Motiv stehen dadurch jedoch von vornherein fest. Dafür entbrennt ein ungleiches Psychoduell zwischen Jul, der Paul unter Druck setzt, ihm Angst macht und droht, und Paul, der sich zwischen Loyalität zu Jul, etwaigen unangenehmen Folgen, Zusammenarbeit mit der Polizei oder Ausnutzen der Situation für seine eigenen Zwecke entscheiden muss. Das ist von Jungdarsteller Oliver Urlichs fantastisch gespielt, dessen einzige Filmrolle diese Verpflichtung blieb. Anhand der zerrütteten Beziehung zwischen Pauls Vater und Paul wird das Versagen autoritärer Erziehungsmethoden offenbar, und dass Paul seinem Umfeld entkommen und alles hinter sich lassen möchte, ist nur allzu verständlich: Der Junge braucht eine Art Neuanfang.

„Sie sind gegen mich!“

Haferkamp hat als einziger den richtigen Riecher, dass Paul etwas mit dem Fall zu tun hat. Eigentlich kann er mit Kindern nicht umgehen, muss aber einen Zugang zu Paul finden – was zum einen die Kommissarsfigur weiter charakterisiert und zum anderen einen besonderen Reiz dieser Episode ausmacht. Kreutzer recherchiert entscheidende Hinweise, Haferkamps Ex-Frau Ingrid hingegen taucht diesmal überraschenderweise nicht auf. Paul fährt bereits selbst Auto und raucht, Hafi gibt ihm sogar Feuer, um sich mit ihm gutzustellen – und beißt doch immer wieder auf Granit. Damit nicht genug: Paul lernt die „Hot Wheels“ kennen und wird zum Rocker gemacht, wenngleich die es nur auf sein Geld abgesehen haben. Dafür sieht er nun aus wie einer von Judas Priest. Der Showdown an der Autobahn ist spannend und brutal, der Fall am Ende gelöst, das eigentliche Ende aber offen.

„Ehrenwort gegen Bullen zählt nicht!“

Auffallend hübsch sind die die Frauen in diesem „Tatort“. Evelyn Palek als Ellen verschwindet zwar recht bald aus der Handlung, dafür ist Gracia-Maria Kaus als Birgit in jeder ihrer Szenen ein Hingucker. Der Fall ist insgesamt etwas sehr konstruiert und mit ein paar Unwahrscheinlichkeiten gespickt, hat aber Stil, ist gut und relativ temporeich erzählt und verbreitet mit seiner Geschichte vom juvenilen Delinquenten, der tapfer gegen die Erwachsenenwelt und ihn überfordernde Entscheidungen ankämpft, diese spezielle Außenseiter-Abenteuer-Stimmung. Vivaldi und Black Sabbath („Laguna Sunrise“) spielen den Soundtrack dazu, und am liebsten würde man sich nach dem Abspann in eine Ruhrpottpinte setzen und mit Haferkamp das eine oder andere Pilsken heben.
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Beitrag von buxtebrawler »

Tatort: Liebeswut

„Warum war da dein Kopf im Kleid?“

Das noch junge Bremer „Tatort“-Trio schrumpft für seinen dritten Einsatz auf Liv Moormann (Jasna Fritzi Bauer) und Linda Selb (Luise Wolfram), denn Mads Andersen (Dar Salim) ist diesmal nicht dabei. Das Psycho-Thrill-Kriminaldrama „Liebeswut“ wurde von Martina Mouchot geschrieben und von Anne Zohra Berrached inszeniert, die im Jahre 2017 mit der Episode „Der Fall Holdt“ innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe debütierte. Ihr zweiter „Tatort“, „Das kalte Haus“, wird erst am 06. Juni 2022 gesendet; vorgezogen wurde ihre dritte „Tatort“-Regiearbeit, die im Herbst 2021 gedreht und am 29. Mai 2022 erstausgestrahlt wurde.

„Loben Sie mich!“

Ein Feuer hat in einer Wohnung gewütet, doch das Schlafzimmer ist unversehrt. Im Bett liegt eine Frau (Ilona Thor), tot, möglicherweise Selbstmord. Am Körper trägt sie ihr knallrotes altes Hochzeitskleid, an die Wände sind dubiose Botschaften von sprechenden Teufeln gekritzelt. Was war hier los? Kommissarin Liv Moormann und BKA-Ermittlerin Linda Selb ermitteln im Umfeld der Toten. Als sich herausstellt, dass beide Töchter der Toten, die sie mit ihrem getrenntlebenden Mann Thomas Kramer (Matthias Matschke, „Pastewka“) hatte, spurlos verschwunden sind, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit – der dadurch erschwert wird, dass die Ermittlungen Flashbacks in Moormanns Kindheit auslösen. Der Fall triggert sie, ohne dass sie genau wüsste, weshalb…

„Was ist da unten?“ – „Der Teufel.“

Bilder in knalligem Rot, Moormann aus dem Off sprechend – so beginnt dieser „Tatort“, der kurz darauf Moormann zeigt, wie sie ihren Kopf im knallroten Brautkleid der Toten versenkt und vom ersten von mehreren (visualisierten) Flashbacks mental durchgeschüttelt wird, die sich als wiederkehrendes Element durch den gesamten Fall ziehen werden. Regisseurin Berrached bemüht sich redlich um eine mystisch-düstere Atmosphäre, oder besser: Was zunächst noch etwas bemüht wirken mag, ist lediglich ein wenig gewöhnungsbedürftig und entfaltet sich bald zu einer unheiligen Stimmung, zu der auch die durch die Bank weg unangenehm schrägen Figuren passen: Während Thomas Kramer noch einen recht zurechnungsfähigen Eindruck macht, entpuppt sich seine neue Lebensgefährtin Jaqueline Deppe (Milena Kaltenbach, „Tatort: Die Kalten und die Toten“) als die Ermittlungen behindernde Narzisstin mit peinlich infantilem, der Realität entrücktem Manga-, K-Pop oder Was-auch-immer-Fetisch. Schulhausmeister Joachim Conradi (Dirk Martens, „Die Liebe des Hans Albers“) ist ein Pädophiler, der gern an Mädchenkleidung schnüffelt und sich erhängt, nachdem die Empathie noch übende Autistin Selb ihn dabei beobachtet und harsch konfrontiert hat. Nun hat sie einen Suizid mitzuverantworten. Die Eltern der Toten, Sybille (Ulrike Krumbiegel, „Nächste Ausfahrt Glück“) und Burkhard Dobeleit (Thomas Schendel, „Lammbock – Alles in Handarbeit“), haderten zeitlebens mit ihrem Schwiegersohn und sind ebenfalls keine große Hilfe. Ganz zu schweigen vom Nachbarn Gernot Schaballa (Aljoscha Stadelmann, „Harter Brocken“), einem übergewichtigen, verwahrlosten Speiseeis-Junkie im speckigem Unterhemd, der mit seiner pflegebedürftigen Mutter zusammenlebt und Moormann in ihren Flashbacks verfolgt. War er in ihrer Kindheit ihr gegenüber übergriffig geworden?

Moormanns und Selbs Verdächtigungen gehen zunächst in unterschiedliche Richtungen, bis sie auch ganz ohne männliche Hilfe durch Andersen gemeinsam an einem Strang ziehen, um nach und nach Licht ins Dunkel dieses vertrackten Falls zu bringen – und dabei doch ständig auf der Stelle zu treten scheinen. Ihnen begegnen menschliche Abgründe, Moormann wird zudem mit ihren eigenen konfrontiert, doch von den Kindern weiterhin keine zielführende Spur. „Liebeswut“ kommt ohne einen parallel erzählten Handlungsstrang aus, sein Publikum verfolgt fast ausschließlich die Polizeiarbeit – die dennoch sehr spannend und mit manch Überraschung gespickt ausfällt. Die finale Wendung ist zwar vielleicht eine zu viel, dafür ging ihr ein wahrlich unheimliches Finale voraus. Berrached und Co. ist ein starkes Kriminaldrama mit durchstilisierten Bildern, hervorstechender Farbsymbolik, beeindruckenden schauspielerischen Leistungen und begnadeter Kameraarbeit mit stets korrespondierender musikalischer Untermalung gelungen, das falsch verstandene Liebe auf mehreren Ebenen thematisiert. Die aus ihre resultierende „Liebeswut“ stellt sie eklatantem Liebesmangel gegenüber, der offenbar Moormanns Psyche prägte. So abgedroschen das Sujet privat involvierter Ermittler(innen) mit Psychoknacks mittlerweile auch sein mag, so hochwertig ist dieses weitere Beitrag zum Kanon.

Trotzdem würde ich mir wünschen, dass Kripo- und BKA-Beamtinnen skeptisch werden, wenn man ihnen einen quasi leeren Heizungskeller als den privaten Kellerraum präsentiert. Da dies für die Handlung jedoch keine Rolle spielte, scheint dies am Set niemandem aufgefallen zu sein…?
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von karlAbundzu »

Tatort Dresden: Das kalte Haus
Eine Frau verschwindet, der Mann sucht verzweifelt nach Hilfe, im Haus sehr viel Blut. Gorniak, Winkler und Schnabel ermitteln in unterschiedlichen Richtungen und es kirscht.....
Holla, hier gibt es beinahe nur toxisches. Keine Opfer, nur Täter. Die Kommissare machen alle Fehler, die nachvollziehbar sind.
Einiges schönes Die beiden Kommissarinnen beginnen am Anfang fast wie bff, die sich auch optisch annähern, während der Ermittlungen und ihren unterschiedlichen Ansätzen trennt sich das wieder, Schnabel, empathie vergessend und dann wieder energisch, wie immer toll: Martin Brambach.
Dresden unterkellert: doch hier lauert mal ausnahmsweise nicht das unterbewußte.
Klarer: Spannend erzählter Tatort, bei dem wir lange nicht wissen, was und ob wir überhaupt ein klassischen Mordfall haben, die Schauspieler top, Drehbuch intelligent, Score und Kamera stark.
Und in ihrem Thema differenzierte Position einnehmend. Inklusive düsterem Humor.
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Tatort: Das stille Geschäft

„Ich habe Geld gebraucht…“

Krimi-Experte Jürgen Roland („Stahlnetz“, „Dem Täter auf der Spur“) debütierte im Jahre 1976 mit der Episode „...und dann ist Zahltag“ innerhalb der öffentlich-rechtlichen „Tatort“-Reihe – und bescherte dem glücklosen Kriminalkommissar Brammer (Knut Hinz) seinen ersten wirklich gelungenen Fall. Ein gutes Jahr später, am 6. November 1977, wurde Rolands zweiter, von Joachim Wedegärtner und Fred Zander geschriebener „Tatort“ ausgestrahlt, der zugleich Brammers Schwanengesang wurde: In „Das stille Geschäft“ übergibt er den Staffelstab an Major Delius (Horst Bollmann, „Wie ein Blitz“) vom Militärischen Abschirmdienst, der ab 1979 seinen eigenen „Tatort“-Zweig erhielt.

„Ich habe es gerne, wenn es so friedlich ist.“

Boutique-Besitzerin Ina Meineke (Cilla Karni) befindet sich in einem finanziellen Engpass, aus der ihr der mysteriöse Herr Jahn (Günther Ungeheuer, „Polizeirevier Davidswache“) heraushilft. Was sie zunächst nicht ahnt: Sie hat gewissermaßen einen Pakt mit dem Teufel geschlossen, denn Jahn ist ein Kundschafter der DDR, der sie nötigt, ihm geheime Konstruktionspläne ihres Mannes Ulli (Claus Theo Gärtner, „Ein Fall für zwei“), einem Bundeswehr-Hauptfeldwebel, zu fotografieren. Militärspionage! Eigentlich müsste Ulli umgehend den Militärischen Abschirmdienst verständigen, doch seine Frau hängt viel zu tief in diesen Verwicklungen drin und er will sie schützen. Jahn verlangt von ihm, ihm eines der neuen Panzersteuermodule auszuhändigen. Meineke willigt ihm ein und übergibt das Modul einem Kontaktmann Jahns, der jedoch bei einem Autounfall stirbt. Das Modul landet daraufhin bei Kommissar Brammer. Gemeinsam mit MAD-Major Delius nimmt er die Ermittlungen in diesem verzwickten Fall auf, während Meineke zu vertuschen und den Verdacht zusammen mit Jahn auf seinen stellvertretenden Vorgesetzten Lanz (Hans Peter Hallwachs, „Tatort: Taxi nach Leipzig“) zu lenken versucht. Gleichzeitig sitzt ihm Jahn im Nacken: Er will ein neues Modul haben – koste es, was es wolle…

„Ich versteh‘ kein Wort!“

Der Prolog zeigt den tödlichen Verkehrsunfall, Polizisten überbringen daraufhin die traurige Nachricht der vermeintlichen Frau des Toten – der jedoch wohlauf ist. Jemand hatte seine Identität angenommen. Texteinblendungen informieren anschließend über das Themengebiet der Spionage und diesen speziellen Fall, suggerieren Authentizität. Es folgt eine Rückblende, in der den Zuschauerinnen und Zuschauern Ina Meineke als polnischstämmige Boutiquebesitzerin in Lüneburg vorgestellt wird. Sie führt gerade eine Schau leichter Sommermode (mit Alida Gundlach respektive – damals noch – Fischer als Moderatorin) durch, als sich ihr Jahn als vermeintlicher Lieferant andient, der Geschäfte mit ihr machen möchte und sie bald über die Bundeswehr ausquetscht. Wir erfahren, dass ihr Mann dort in leitender Position tätig ist, illustriert von Schussübungsbildern mit heftigen Explosionen. Als sich die verzweifelte Ina ihrem Mann offenbart, steht sie bereits mit 15.000 DM in Jahns Kreide – und das Publikum weiß, wie diese Art der Spionage funktioniert. Inwieweit ein solches Vorgehen tatsächlich authentisch ist, entzieht sich indes meiner Kenntnis.

„Ich hab‘ nicht die leiseste Ahnung!“

Nachdem sich Ulli Meineke eingemischt und sich auf den Deal mit Jahn eingelassen hat, wirkt der Schnitt dieses „Tatorts“ erstmals eher unbeholfen, denn nun wird der Unfall aus dem Prolog exakt identisch noch einmal gezeigt. Immerhin weiß man nun, wo dieser zeitlich-dramaturgisch einzuordnen ist. Bilder einer Soldatenfeier werden von den expressionistischen Schattenspielen eines Spions oder einem seiner Handlanger, dessen Gesicht man nicht sieht, bei der Arbeit kontrastiert. Im Anschluss wird an die Szene mit den Polizisten bei der vermeintlichen Witwe angeknüpft, dieses Handlungselement wieder aufgenommen. Die Narration wirkt nun reichlich konfus. Brammer, mittlerweile – ganz der Bulle – schnauzbärtig, kommt erst nach einer halben Stunde ins Spiel; als Forensiker (o.ä.) tritt Edgar Hoppe („Großstadtrevier“) in Erscheinung, den regelmäßige „Tatort“-Gucker(innen) damals bereits als Kriminalmeister Höffgen aus den Kressin-Episoden kannten.

„Der Mann war ein Säufer!“ – „Der Mann war Agent!“

Zwischenzeitlich wirkt es, als wolle Roland (bzw. das Drehbuch) den Verdacht erwecken, einer der Polizisten habe etwas zu vertuschen, möglicherweise spielte meiner Wahrnehmung aber auch die ungewöhnliche Erzählweise einen Streich. In erster Linie vermitteln Roland und sein Team inmitten des Kalten Kriegs Einblicke in Geheimdiensttätigkeiten – in die der DDR einer- und die der BRD in Form des MAD andererseits –, was Brammer zu einer engen Zusammenarbeit mit MAD-Mann Delius zwingt. Bei dieser macht Brammer keinen sonderlich guten Eindruck: Wann immer man aufs gefundene Modul zu sprechen kommt, versteht er kein Wort und wirkt ein bisschen dümmlich. Schrieb man ihm auf diese Weise bereits seinen bevorstehenden Abschied aus der „Tatort“-Reihe ins Buch? Damit nicht genug ist er hier schlicht ein unsympathischer, unfreundlicher, ignoranter Arsch.

Einerseits kongenial ist es hingegen, wie man den Verdacht auf den bemitleidenswerten Lanz lenkt, idiotisch jedoch, dass Jahn in dessen Wohnung genüsslich qualmt und damit olfaktorische Spuren hinterlässt. Lächerlich ausgefallen ist Brammers Durchsuchung Meinekes. Für Zeitkolorit sorgen eingewobene Bilder eines echten Fußballspiels Hannovers gegen Köln um die Meisterschaft. Aufnahmen von Panzerübungen verdeutlichen, worum es bei diesem ominösen Modul eigentlich genau geht. Und fiese Möpp Jahn scheint hauptberuflich Expressionist, wirft nämlich mit Vorliebe lange Schatten.

„Das stille Geschäft“ ist nicht zu verwechseln mit einem Geschäft auf dem stillen Örtchen, sondern Rolands etwas ungelenker Versuch einer Agentenposse mit erschütterndem Ausgang, eine reißerische Mahnung ans Publikum. Sind die erwähnten erzählerischen Konfusionen erst einmal überwunden, ist dieser Fall durchaus spannend erzählt, ansprechend bebildert sowieso und zweifelsohne ein historisch interessantes Zeitdokument des Kalten Kriegs.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Beitrag von buxtebrawler »

Tatort: Das kalte Haus

„Das ist ein Tatort!“

„Tatort“, Team Dresden, Fall 13 für Karin Gorniak (Karin Hanczewski) und Peter Michael Schnabel (Martin Brambach), Fall 7 für Leonie Winkler (Cornelia Gröschel). Regisseurin/Autorin Anne Zohra Berrached und Co-Autor Christoph Busche gelang der vielleicht beste Dresdner „Tatort“ seit Winklers Einstieg. Die im Frühjahr 2021 gedrehte Episode wurde am Pfingstmontag 2022 erstausgestrahlt – und damit eine Woche nach dem von Berrached früher gedrehten „Tatort: Liebeswut“, ihrem eigentlichen dritten Beitrag zur öffentlich-rechtlichen Fernsehkrimireihe.

„Wir sind die Dresdner Polizei – kein Gesangsverein!“

Eigentlich wollten die Kommissarinnen Gorniak und Winkler in Gorniaks Geburtstag reinfeiern, doch kurz nach dem gemeinsamen Aufbruch meldet sich ihr Abteilungsleiter Schnabel: Man solle auf schnellstem Wege zu Simon Fischers (Christian Bayer, „Liebe Mauer“) Villa kommen. Fischer, für den Standort wichtiger Unternehmer und persönlicher Bekannter manch hohen Tiers, hat seine Frau Kathrin (Amelie Kiefer, „Blond bringt nix“) als vermisst gemeldet. Fischer selbst ist nicht zu Hause, als die Polizei eintrifft, doch kurze Zeit später läuft er Schnabel vors Auto. Er macht einen unter Schock stehenden, verwirrten Eindruck. Im Haus findet sich eine größere Menge Blut. Wo also steckt Kathrin, die sich unter „Die Glückssucherin“ auf YouTube einen Namen als Lebensberaterin machte? Fischer durchlebt ein Wechselbad der Gefühle, kann zu den Ermittlungen jedoch nicht viel beitragen. Gorniak ist sich sicher: Fischer hat seine Frau auf dem Gewissen. Winkler jedoch zweifelt. Und Brambach glaubt, dass der hochangesehene VIP-Verdächtige kein Täter sein könne…

„So ein Scheißfall!“

Kein klassisches Whodunit?, vielmehr ein Whathappened? Ist die Grundlage dieses interessanten „Tatorts“, der zunächst viel im titelgebenden, mit allerlei Smarthome-Technik zum Abgewöhnen ausgestatteten Haus spielt und nach und nach zum Psychogramm eines undurchsichtigen, schnell aufbrausenden Mannes wird. Immerhin scheint er von seiner Frau derart besessen, dass er sich immer wieder ihre Anwesenheit herbeifantasiert, visualisiert von Berrached respektive ihrem Kamerateam. Als Begleitmotiv zieht sich Gorniaks verhinderte Geburtstagsfeier durch die Szenerie, immerhin singt man ihr zu Schnabels Missfallen ein Ständchen, später gibt’s alkoholfreien Sekt und Kuchen. Der Gipfel Schnabels Empathiemangels ist sein Herausposaunen persönlicher Erinnerungen an familiäre Gewalterfahrungen, die Gorniak ihm einst anvertraut hatte. Daraus entsteht ein ernsthafter Konflikt innerhalb einer ohnehin konfliktreichen Handlung, in der die Figuren nicht nur mit diesem Fall, einem cholerischen Vielleicht-Verdächtigen, persönlichen Verwerfungen und Kompetenzgerangel zu kämpfen haben, sondern auch mit der Uhrzeit: Die Nacht wurde durchgemacht, alle sind übermüdet.

Spielt Gorniaks Psyche ihr einen Streich, verdächtigt sie Fischer aufgrund ihrer eigenen traumatischen Erfahrungen? Diese Frage steht im Mittelpunkt eines auch ohne Actioneinlagen spannend erzählten Falls, der mit seiner Ausstattung und seiner unbehaglichen Stimmung punktet und die Polizeiarbeit recht akribisch zeigt. Auf einer SD-Karte der Fischers findet sich ein peinliches privates Sexrollenspielvideo, was weniger Simon Fischer düpiert als vielmehr verständlich macht, dass er die Karte zunächst nicht herausrücken wollte und Gorniak in jenem Moment tatsächlich übergriffig war. So unsympathisch Fischers Anwalt auch auftreten mag, sein Einschreiten war hier offenbar richtig. Derlei eingestreute Ambivalenzen sind es, die konstant das Interesse an den Figuren und ihrer weiteren Entwicklung aufrechterhalten. Moralisiert wird hier nicht, stattdessen erhält man einen zwar stets punktuellen, sich langsam aber zusammenfügenden Eindruck von der bizarren Beziehung der Fischers miteinander.

Schnabel und „seine“ Kripobeamtinnen ermitteln getrennt voneinander und werden doch wieder als Team zusammengeführt. Parallel montierte Nachbarsbefragungen verdeutlichen den zeitlichen Ablauf der polizeilichen Ermittlungen ebenso wie Mobilfunkkontakte zwischen den Parteien, bis sich die Figur Simon Fischer immer mehr verselbständigt, der Fokus auf sie gelenkt und dem Fernsehpublikum doch noch ein Informationsvorsprung gewährt wird. Ein bitterer Showdown setzt den Schlusspunkt unter diesen sehr gelungenen, stark geschauspielerten und insbesondere von Martin Brambachs Schauspielkunst veredelten „Tatort“. Parallelen zu einem bestimmten David-Fincher-Thriller sind nicht von der Hand zu weisen; wie gut sich dieser jedoch fürs tiefste Sachsen adaptieren, modifizieren und fürs „Tatort“-Publikum aufbereiten lässt, ist das Verdienst Anne Zohra Berracheds und ihrem Team sowie der tollen Chemie zwischen Hanczewski, Gröschel und Brambach.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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