Soho incident - Vernon Sewell (1956)

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Maulwurf
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Soho incident - Vernon Sewell (1956)

Beitrag von Maulwurf »

 
Soho incident
Soho incident
Großbritannien 1956
Regie: Vernon Sewell
Faith Domergue, Lee Patterson, Rona Anderson, Martin Benson, Robert Arden, Joss Ambler, Peter Hammond, Peter Burton, Sam Kydd, Russell Westwood, Patricia Ryan, Bernard Fox


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Ein junger Mann, der auf der Suche nach einem Auskommen in die Fänge einer Gangsterbande gerät, und Probleme hat da wieder rauszukommen. Warum sollte man sich solch eine ausgetretene Handlung antun?

OK, dann versuchen wir es doch anders: Soho bei Nacht. Die Straßen voller Autos, überall Menschen auf der Suche nach Zerstreuung. Die Türen sind offen und die Musik aus den Bars und Clubs klingt bis auf die Straße. Wir hören Jazz, Rumba, Schlager, und wir folgen einem jungen Mann durch die Nacht und die Vergnügungen, vorbei an Cafés und an Freudenmädchen, bis er sein Ziel erreicht hat. Eine schäbige Adresse, in der im oberen Stockwerk ein paar ziemlich heruntergekommene Gestalten in einem Raum sitzen und warten. Auf jemanden wie ihn, an dem sie ihre schlechte Laune loswerden können. Aber der junge Mann kann sich wehren, sogar ausgesprochen gut, und erst als ein weiterer Mann dazustößt wird die hochexplosive Situation aufgelöst: Der erste junge Mann, Jim, sucht Arbeit, und er hat seinen alten Armeekumpel Buddy wiedergefunden, den dazustoßenden Retter der Situation, der sein Geld bei der Francesi-Gang verdient. Künftig wird auch Jim bei der Francesi-Gang arbeiten. Geld überbringen, Pferderennen manipulieren, solche Sachen halt. Sein Preis? Ein Platz im Bett von Francesis Schwester Bella, und dafür kann man schon mal was riskieren. Auch Mord?

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Betty Walker ist in Jim verliebt, und Jim weiß das auch. Sie himmelt ihn an, wenn er im Boxclub der Walkers trainiert, und sie möchte sich auch so gerne mit ihm verabreden, aber Jim hat einen Job. Oder er sucht einen Job. Was für einen Job? Na einen Job halt. Frag nicht so dumm. Jim hat die Attitüde eines juvenilen Unruhestifters, und wahrscheinlich ist es auch genau das, was ihn für Betty so attraktiv macht. Nicht so verknöchert wie ihr Vater, der Boxtrainer. Nicht so spießig wie Bill, der junge Boxer und Bettys Bruder, sondern irgendwie … anders. Aufbegehrend. Unruhig. Ein zorniger junger Mann, der da in einer amerikanischen Produktion auf der Leinwand auftaucht, und der durch die Straßen Londons zieht auf der Suche nach Ärger.

Sein Freund Buddy meint, dass Jim Hirn und Muskeln hat. Ich bin mir da nicht immer so sicher. Was er aber auf jeden Fall hat ist die Grundhaltung, die so viele Jugendliche in den Nachkriegsgenerationen hatten, gleich ob Beat oder Mod oder Punk oder wasauchimmer. Jim sitzt mit Betty in einem Café, und man spürt seine Unruhe. Betty versucht ihn auszuhorchen, aber Jim lässt sich nicht darauf ein. Er wartet eigentlich auf Bella, und im Hintergrund läuft ein jazziger Loop, der die unstete Stimmung unmerklich immer mehr anheizt und die Nervosität merklich steigert. Bis zum Höhepunkt, als Bella das Café betritt und Betty, die wütend fortgeht, vertreibt. Bella steht direkt unter dem Dach der Bar, die ein Schachbrettmuster ziert. Das gleiche Schachbrettmuster, das in ihrer Wohnung auf dem Fußboden liegt. Und wie Schachfiguren bewegen sich die Personen, versuchen gegenseitig einen Vorteil zu erhaschen und nah an den König ranzukommen. Wobei Jim den Vorteil hat, dass er die Königin bereits besitzt.

Nein, das ist nicht richtig - Eigentlich hat die Königin ihn, den kleinen Bauern, in ihrer Gewalt. Denn Bella ist die Herrscherin der Gang. Sie, und nicht der familiäre und leutselige Rico, der sich mehr um die Qualität seiner Spaghetti sorgt als um die Qualität seiner Leute. Nachdem einer von ihnen, MacLeod, Bettys Bruder ermordet hat, drängt Bella auf MacLeods Tod, aber Rico wiegelt ab. Rico lässt sich erpressen, er ist einfach nicht hart genug um eine Gang zu führen. Das macht Bella, und Bella ist es auch, die MacLeods Tod befiehlt. Rico ist in diesem Moment nur der simple Befehlsempfänger.

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Ein Moment, der die Quadratur des Schachbretts durcheinanderbringt. Denn Jim weiß jetzt was für ein Mensch Bella wirklich ist, und will sie verlassen. „You don’t leave me, you don’t leave me. Nobody leaves me – I walk out when I am ready, and you don’t go until I tell you“ schreit sie ihm entgegen, und demaskiert sich spätestens hier als klassische Femme Fatale, als Herrin über Tod und Leben. Es kommt zum Kampf, und Bella und Jim wälzen sich tatsächlich ringend und kratzend über den Boden. Bis die Gang kommt und Jim flüchten muss. Doch Bella weiß um Jims Verhältnis zu Betty, überfällt die Familie Walker, und erpresst mit diesen Geiseln Jim, zurückzukehren. Zu ihr. Zu seinem beschlossenen Tod. Wenn am Ende die Situation eskaliert, die Familie Walker als Geisel genommen wurde und die Polizei das Haus der Walkers umstellt hat, dann laufen die Westentaschengauner herum wie ein Haufen aufgescheuchter Hühner, und Rico beschimpft Bella wild in einer nicht enden wollenden Tirade italienischer Flüche. Nur Bella bleibt cool, greift zum Telefonhörer, und befiehlt der Polizei was SIE will.

SOHO INCIDENT, wie der Film im englischen Original heißt (in den USA lief er als SPIN A DARK WEB), punktet in erster Linie durch seine realistischen Bilder. Sobald die Kamera die Studiokulissen verlässt und in das Leben der Millionenstadt London eintaucht wird die Atmosphäre heiß und geschäftig. Gleich ob auf einem Markt in Soho, in den von Arbeitern bevölkerten Straßen am Rande des East Ends oder auf der Pferderennbahn. Diese Szenen sind mit natürlichem Licht gedreht und mit zufälligen Passanten besetzt, da hat der Film Stil und Atmosphäre, hier lohnt das Ansehen sehr.

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An anderen Stellen ist das nicht immer so, denn leider ist die erste Hälfte oft etwas geschwätzig. Jim ist ein smarter Junge, und wenn er aus dem East End kommen würde, dann wäre die weitere Entwicklung bis hin zum Kapo bei den Krays auch logisch. Aber so, als Kanadier in einer Gang die von einem Sizilianer geführt wird, wirkt das im Kontext alles etwas merkwürdig. Die Gang selber ist als große Familie angelegt, der Sizilianer wirkt wie die Karikatur eines Bandenchefs, und das alles bietet sehr viel heile Welt. Wie die Familie Hesselbach im West End, oder eine Fernsehserie aus den 50er-Jahren. Die CORONATION STREET als Krimi, wobei die Fernsehserien in ihrem Grundton teilweise oft düsterer waren. Die Entfernung zwischen den Francesis und den real existierenden Krays ist deutlich weiter als die zwischen dem East End, wo die Krays zuhause waren, und dem Westend und den Rennbahnen der Francesis. Rico Francesi, der vermeintliche Anführer, der eigentlich eher ein Strohmann ist, spricht in seiner ersten Szene leichten italienischen Akzent (den er dann leider ablegt), und ist zu seinen Männern gut und freundlich. Zu seinen Opfern übrigens auch – Als er MacLeod losschickt, um den Boxer, der gestern Abend unerlaubterweise gewonnen hat, zur Rede zu stellen, schärft der diesem ein, auf jeden Fall und unbedingt freundlich und höflich zu bleiben. Was MacLeod nicht schafft – Er tötet den Boxer, und damit kommt die Geschichte überhaupt ins Rollen. Aber die „bösen“ Menschen sind hier alle so nett und freundlich … In der Southside von Chicago sieht das alles irgendwie anders aus, genauso wie eben auch im East End.

Und so gliedert sich der Film auf in zwei relativ deutlich getrennte Hälften. Die erste Hälfte ist Ricos Hälfte. Sie ist redselig, familiär, freundlich, und tut niemandem wirklich weh. Aber spätestens ab dem Mord an MacLeod ist dies vorbei. Diese zweite Hälfte gehört Bella, und jene Seite der Welt ist düster und spannend und hat eine Wucht wie eine vorbeifahrende Limousine aus deren Fenster MG-Salven ballern. Jim ist in Ungnade gefallen, wohlgemerkt in Bellas Ungnade, und muss vor der Bande flüchten, und diese Hälfte ist ein starker und gut inszenierter Krimi mit viel Street Credibility und einem Set Design von Ken Adam, dem späteren James Bond-Designer, der sich hier an einigen Stellen hervorragend und mit hohem Wiedererkennungswert austoben konnte.

SOHO INCIDENT mag vielleicht kein großer oder wichtiger Film sein, aber er ist ein spannender Film mit tollen Charakteren, und allein dies und die authentischen Bilder aus dem alten London machen ihn sehenswert.

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