bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
Fraktus – Das letzte Kapitel der Musikgeschichte
Die Elektroschocker aus den ‘80ern
„Ey, das ist Psychoakustik!“
Der vornehmlich fürs Fernsehen tätige norddeutsche Regisseur Lars Jessen verfilmte bereits im Jahre 2009 Rocko Schamonis autobiografischen Roman „Dorfpunks“. Schamoni ist Teil des Komiker-Trios „Studio Braun“, das mit der Konzeption der fiktionalen Elektromusik-Pioniere Fraktus auf Spinal Tap’schen Pfaden zu wandern begann. Jessen verfilmte in Form einer an „This is Spinal Tap“, “Hard Core Logo” und „The Story of Anvil” erinnernden Mockumentary die Geschichte vom Aufstieg, tiefen Fall und fulminanter respektive versuchter Wiederkehr des Techno-Trios, die in deutsch-italienischer Koproduktion entstand und im Jahre 2012 veröffentlicht wurde.
„Was weiß ich, was das für‘n scheiß Berg ist!“
Fraktus sind Deutschlands vergessene Pioniere der elektronischen Musik, ohne die es keinen Techno gäbe: Die Band um Dirk „Dickie" Schubert (Rocko Schamoni), Bernd Wand (Jacques Palminger) und Torsten Bage (Heinz Strunk) entstand im Jahre 1980 aus der Formation Freakazzé und veröffentlichte zwei gefeierte, höchst einflussreiche Alben, bevor sie 1983 zu einem Major-Label wechselte, mit ihrem dritten Album floppte und sich unter nie vollständig aufgeklärten Umständen auflöste. Musikmanager Roger Dettner (Devid Striesow, „Freischwimmer“) spürt die verkrachten ehemaligen Bandmitglieder auf: Bage produziert auf Ibiza auf den Spuren DJ Ötzis wandelnd Ballermann-Dancefloor und Kirmestechno, verdient damit gutes Geld und findet sich auch selbst ziemlich töfte, während Wand noch bei seinen Eltern wohnt, mit denen er Eltern Fraktus II gegründet hat, bei seinem Vater im Optikergeschäft aushilft und eine ausgeprägte Hypochondrie pflegt. Der geistig etwas schlichtere Dickie macht den solidesten Eindruck, er betreibt ein Internetcafé. Dettner setzt alle Hebel in Bewegung, die Band wieder zusammenzubringen: Fraktus sollen ein großes Comeback erleben und endlich den Ruhm erhalten, der ihnen seit Jahrzehnten zusteht!
„Verdacht auf Kongozunge!“
Die Mockumentary beginnt mit einem Live-Tribut der Proll-Techno-Affen Scooter an Fraktus und offenbart damit bereits eines von zwei Problemen dieses Films: den Schulterschluss des subversiv-humoristischen „Studio Braun“-Trios mit der Mainstream-, Kommerz- und CDU-Technoszene um besagte Scooter sowie die im weiteren Verlauf ebenfalls sich selbst spielenden U96-Christensen und Marusha. Glücklicherweise bleibt es nicht dabei; mit Dieter Meier von Yello, Jan Delay, Stephan Remmler, Steve Blame, Peter Illmann, Westbam und Blixa Bargeld kommen auch andere Zeitgenossen aus der Musikbranche zu Wort. Fraktus selbst persiflieren wahre Elektropioniere wie Kraftwerk oder die aus der NDW-Ursuppe entstandenen DAF, aber auch andere Acts aus den 1980ern, die heute niemand mehr kennt, wie Fad Gadget, an deren „Collapsing New People“-Playback-Auftritt in Peter Illmanns Popmusiksendung „Formel Eins“ die vermeintlich ebendort stattgefunden habende „Affe sucht Liebe“-Peformance Fraktus‘ angelehnt wurde. Inklusive gefälschten Zeitschriftenausschnitten, Flyern, Fotos und Live-Videos, darüber hinaus musikhistorischen Anspielungen und Querverweisen (der Fraktus-„Smurkey“ als Vorläufer des Acid-Smileys!), gelingt es, auf sehr kreative und detailverliebte Weise die Illusion einer Zeitreise zurück in die 1980er zu erzeugen.
Das macht ebenso viel Spaß wie die Figurenzeichnung der drei Protagonisten als weltfremde Spinner und deren Maskerade inklusive alberner ‘80er-Frisuren. Alle drei Fraktus-Musiker machen in Bezug auf eine Fraktus-Reunion einen desolaten Eindruck, dennoch wird sie von Dettger des Mammons wegen vorangetrieben. Dieser führt zunächst als Sprecher durch den dokumentarischen Teil des Films und wird später selbst aktiver Teil der Ereignisse, wenn der Film sein Konzept zugunsten eines stärker am Spielfilm orientierten Stils und einer ebensolchen Handlung ändert. Diese Karikaturen alternder Musiker auf der einen und musikgeschäftlicher Mechanismen auf der anderen Seite sind ein Quell viel Situationskomik und Dialogwitzes, werfen aber auch einen skeptischen bis kritischen Blick auf die vermeintliche Bedeutungsschwangerschaft minimalistischer Elektrogruppen und die musikindustriellen Abläufe. Überraschenderweise zieht sich Alex Christensen dabei selbst durch den Kakao, wenn er in seiner Rolle das tut, was zu seinem realen Alltag als Produzent seelenloser Plastikmusik zählt: einen charakteristischen Originalsong bis zur Unkenntlichkeit auf Radio- und Dorfdisco-Einheitsbrei zu trimmen. Auch das Sujet des vermeintlich authentischen Dokumentarfilms bekommt sein Fett weg, wenn man während des Drehs Szenen wiederholen lässt. Diese Illusionssabotage sensibilisiert dafür, wie sehr Dokumentationen häufig ein Kind der jeweiligen Regie und weniger der/des Dokumentierten sind.
Fraktus hantieren mit ungewöhnlichen Instrumenten wie einer Lichtmangel, Schubert beatboxt mit einem Wasserhahn und Wand leidet unter Wehwehchen wie Spreizniere und Harnriss und attestiert sich sogar einen Verdacht auf Kongozunge! Nach unvermeidlichen Pannen beim Videodreh nimmt man der Band jedoch endgültig ihren Song weg, womit die Eskalation (mitsamt sich betrinkendem und randalierendem Filmemacher) perfekt ist und der Film seine finale Wendung nimmt: Die Fraktus-Mitglieder raufen sich zusammen, betreiben Guerilla-Marketing, stehlen ihre alten Instrumente zurück und planen einen Auftritt in einem Parkhaus. Dies wird zum Anlass für ein direktes „This is Spinal Tap“-Zitat, wenn die Band die Bühne nicht findet. Der Abspann weist weitere Gags auf, u.a. Kommentare der kanadischen Metal-Band Anvil, die Teil des eingangs erwähnten, gefeierten Dokumentarfilms waren.
„Fraktus – Das letzte Kapitel der Musikgeschichte“ ist über weite Strecken gelungen und kombiniert typischen schnoddrigen „Studio Braun“-Humor mit deutscher Musikhistorie und viel Mockumentary-Spaß. Da ist es fast ein bisschen schade, dass der Mock-Stil nicht konsequent durchgezogen wird. Andererseits, und das ist das zweite Problem des Films: Die Macher schienen eben diesem Konzept nicht vollumfänglich zu vertrauen und neigten dazu, ihre Gags wenig subtil zu erklären, damit auch der letzte Scooter-Fan sie versteht. Wenn Wand über seine Kongozunge fabuliert, ist es nicht nötig, seine Mutter (Margit Laue, „Jede Menge Leben“) noch einmal klarstellen zu lassen, dass er hypochondriert. Dass manch Beteiligte(r) unschwer als Schauspieler(in) zu erkennen ist, torpediert den Mock-Effekt zusätzlich. Das haben andere Pseudodokus eleganter gelöst. Das Detailreichtum bei gleichzeitig starker lokaler (norddeutscher) Verwurzelung wiederum ist aller Ehren wert. So berichtet sogar das real existierende „Hamburg Journal“ (NDR, tgl. 19:30 Uhr) über die jüngsten Vorfälle in Verbindung mit dem Fraktus-Lager – und überhaupt scheint mir halb Hamburg an diesem Film beteiligt gewesen zu sein, weshalb „Fraktus – Das letzte Kapitel der Musikgeschichte“ auch viel über die Hansemetropole erzählt.
Die Filmveröffentlichung ging mit einer echten Fraktus-Album-Veröffentlichung einher, und der Gag wurde und wird – eine weitere Spinal-Tap-Parallele – weiter gepflegt: 2015 erschien das Album „Welcome to the Internet“. Der Videoclip zum Titelstück sei jedem ans Herz gelegt.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Diese Filme sind züchisch krank!
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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
Tatort: Acht Jahre später
„Warum sind Sie so erregt?“
Am 28. April 1974 betrat eine neue Ermittlerfigur das Parkett des WDR-„Tatorts“: Hansjörg Felmy („Buddenbrooks“, „Der Henker von London“) verkörperte Kommissar Haferkamp aus Essen, einen in Scheidung lebenden, Bier und Korn alles andere als abgeneigten, drahtig schlanken Mann in den besten Jahren, der unter seiner betont sachlichen Analytik und scheinbaren Gefühlsarmut seine Desillusionierung in Bezug aufs große Lebensglück zu verbergen scheint. Das Drehbuch Karl Heinz Willschreis inszenierte Wolfgang Becker („Ich schlafe mit meinem Mörder“), der damit innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe debütierte. Neun weitere Episoden unter Beckers Regie folgten, die meisten davon mit Haferkamp als Ermittler. Haferkamp zur Seite steht sein Assistent Willy Kreutzer (Willy Semmelrogge, „Der Nachtkurier meldet …“), ein etwas untersetzter und einfach gestrickter, aber nicht unsympathischer Malochertyp. Haferkamp ermittelte bis ins Jahr 1980 und war der meistbeschäftigte „Tatort“-Kommissar jener Ära.
„Statistik ist mein Hobby!“
Kommissar Heinz Haferkamp von der Essener Kripo stellt Serieneinbrecher Brossberg (Relja Bašić, „Malastrana“) und wird beschossen. Er zielt in Richtung des Mündungsfeuers, schießt zurück – und tötet dabei Brossbergs unbewaffneten Bruder. Brossberg wird verhaftet und zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Noch im Gerichtssaal schwört er Rache: sowohl an Haferkamp als auch an seiner ehemaligen Geliebten Frau Pallenburg (Christine Ostermayer, „Der zerbrochene Krug“), die ihn an die Polizei verriet. Nach acht Jahren wird er aus der Haft entlassen und Haferkamp rechnet nicht wirklich damit, dass sich Brossberg noch seinem Vergeltungsschwur verpflichtet fühlt, doch Frau Pallenburg scheint das ganz anders zu sehen – und quartiert sich kurzerhand schutzsuchend beim Kommissar ein…
„Zwei Weiber, die gemeinsam auf mich losgehen!“
Nach der aufsehenerregenden Schießerei im Prolog kristallisiert sich bald heraus, dass unter Kommissar Haferkamp die Fernsehsiebziger wieder so grau wurden, wie sie in Deutschland wirklich waren. Die Wohnzimmer-mit-Stehlampe-Ästhetik des Interieurs wirkt mehr spießig als gemütlich, sieht jedenfalls so gar nicht nach Post-‘68er-Freiheit aus. Haferkamp ist von seiner Frau Ingrid (Karin Eickelbaum, „La Femme, le Mari et la Mort oder Über die Schwierigkeiten, seinen Mann umzubringen“) geschieden, wenngleich sie auf freundschaftlicher Basis weiterhin eine Rolle in seinem Leben – und in den „Tatorten“ – spielt. Aus den Dialogen mit Haferkamp lässt sich heraushören, dass man eine glückliche Ehe einfach nicht auf die Reihe bekommen hat, ohne dass konkret würde, woran sie letztlich genau gescheitert ist. Wahrscheinlich gibt es diesen einen bestimmten Grund gar nicht.
„Sie sind nicht logisch, Sie sind gemein!“
In Haferkamps nur von einem „Casablanca“-Filmplakat aufgebrochener Wohntristesse (wähnt er sich als eine Art Hafi Bogart?) platzt also plötzlich diese verzweifelte Frau hinein. Zu trinken hat er leider nur Bier und Korn im Haus; und obwohl er sich gerade sein karges Abendessen zubereitet – Spiegeleier –, isst er kaum etwas. Dies dürfte seine körperliche Statur erklären, mehr Hagerkamp denn Haferkamp. Versuche, die Pallenburg mit streifenpolizeilicher Hilfe wieder loszuwerden, quittiert sie mit Selbstmorddrohungen, drunter macht sie’s nicht mehr. Also bleibt sie und lernt auch Ingrid, Haferkamps Ex, kennen. Im Zuge eines Streitgesprächs scheinen sich beide Weibsbilder gegen ihn zu verschwören. Auch das noch! Da hilft nur noch die Kneipe, ordentlich einen hinter die Schrankwand nageln. Hatte jemals zuvor ein „Tatort“-Kommissar derlei Probleme?
Beeindruckende Bilder aus einer Stahlfabrik leiten über in gewitzte Wendungen, eine davon: Ingrid ist schlauer als Haferkamp. Weniger Wendung als vielmehr zu erwarten ist es indes, dass Brossberg tatsächlich noch auf Rache sinnt. Keine Täter- oder Motivsuche in dieser Episode, ist man anzunehmen geneigt. Oder etwa doch…? Auf den schleswig-holsteinischen „Tatort“-Kommissar Finke (Klaus Schwarzkopf) entfällt der damals noch obligatorische Gastauftritt. Haferkamp ist aufgerufen, listig und immer ein, zwei Schritte vorausdenkend zu agieren, wie ihm die Konfrontation mit Brossberg in der Stahlfabrik lehrte. Kreutzer versucht seinem Chef so gut wie möglich zuzuarbeiten, konnte dessen Kohlenmonoxidvergiftung jedoch auch nicht verhindern.
Das Finale fällt ebenso betrunken wie aufregend aus, wurde spannend und mit überraschend viel Stilwillen inszeniert. Durch diese Episode zieht sich ein Panflötenspiel als musikalisches Thema, was nach Jahren der Panflötenomnipräsenz in deutschen Fußgängerzonen etwas befremdlich wirken mag, jedoch durchaus seinen Teil zur atmosphärischen Ausgestaltung dieses Falls beiträgt, der mit seinen Anleihen beim Film noir und einer interessanten Charakterisierung Haferkamps einen starken Essener Einstand bildete.
Die Figur Haferkamp nimmt hier zumindest in Teilen bereits ihren Nachfolger Horst Schimanski (Götz George) vorweg; und da ist es sicher kein Zufall, dass der Schimmi-Erfinder und spätere „Tatort“-Routinier Hajo Gies drei Jahre später als „Tatort“-Regisseur ausgerechnet mit einer Haferkamp-Episode („Das Mädchen von gegenüber“) debütieren sollte.
„Warum sind Sie so erregt?“
Am 28. April 1974 betrat eine neue Ermittlerfigur das Parkett des WDR-„Tatorts“: Hansjörg Felmy („Buddenbrooks“, „Der Henker von London“) verkörperte Kommissar Haferkamp aus Essen, einen in Scheidung lebenden, Bier und Korn alles andere als abgeneigten, drahtig schlanken Mann in den besten Jahren, der unter seiner betont sachlichen Analytik und scheinbaren Gefühlsarmut seine Desillusionierung in Bezug aufs große Lebensglück zu verbergen scheint. Das Drehbuch Karl Heinz Willschreis inszenierte Wolfgang Becker („Ich schlafe mit meinem Mörder“), der damit innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe debütierte. Neun weitere Episoden unter Beckers Regie folgten, die meisten davon mit Haferkamp als Ermittler. Haferkamp zur Seite steht sein Assistent Willy Kreutzer (Willy Semmelrogge, „Der Nachtkurier meldet …“), ein etwas untersetzter und einfach gestrickter, aber nicht unsympathischer Malochertyp. Haferkamp ermittelte bis ins Jahr 1980 und war der meistbeschäftigte „Tatort“-Kommissar jener Ära.
„Statistik ist mein Hobby!“
Kommissar Heinz Haferkamp von der Essener Kripo stellt Serieneinbrecher Brossberg (Relja Bašić, „Malastrana“) und wird beschossen. Er zielt in Richtung des Mündungsfeuers, schießt zurück – und tötet dabei Brossbergs unbewaffneten Bruder. Brossberg wird verhaftet und zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Noch im Gerichtssaal schwört er Rache: sowohl an Haferkamp als auch an seiner ehemaligen Geliebten Frau Pallenburg (Christine Ostermayer, „Der zerbrochene Krug“), die ihn an die Polizei verriet. Nach acht Jahren wird er aus der Haft entlassen und Haferkamp rechnet nicht wirklich damit, dass sich Brossberg noch seinem Vergeltungsschwur verpflichtet fühlt, doch Frau Pallenburg scheint das ganz anders zu sehen – und quartiert sich kurzerhand schutzsuchend beim Kommissar ein…
„Zwei Weiber, die gemeinsam auf mich losgehen!“
Nach der aufsehenerregenden Schießerei im Prolog kristallisiert sich bald heraus, dass unter Kommissar Haferkamp die Fernsehsiebziger wieder so grau wurden, wie sie in Deutschland wirklich waren. Die Wohnzimmer-mit-Stehlampe-Ästhetik des Interieurs wirkt mehr spießig als gemütlich, sieht jedenfalls so gar nicht nach Post-‘68er-Freiheit aus. Haferkamp ist von seiner Frau Ingrid (Karin Eickelbaum, „La Femme, le Mari et la Mort oder Über die Schwierigkeiten, seinen Mann umzubringen“) geschieden, wenngleich sie auf freundschaftlicher Basis weiterhin eine Rolle in seinem Leben – und in den „Tatorten“ – spielt. Aus den Dialogen mit Haferkamp lässt sich heraushören, dass man eine glückliche Ehe einfach nicht auf die Reihe bekommen hat, ohne dass konkret würde, woran sie letztlich genau gescheitert ist. Wahrscheinlich gibt es diesen einen bestimmten Grund gar nicht.
„Sie sind nicht logisch, Sie sind gemein!“
In Haferkamps nur von einem „Casablanca“-Filmplakat aufgebrochener Wohntristesse (wähnt er sich als eine Art Hafi Bogart?) platzt also plötzlich diese verzweifelte Frau hinein. Zu trinken hat er leider nur Bier und Korn im Haus; und obwohl er sich gerade sein karges Abendessen zubereitet – Spiegeleier –, isst er kaum etwas. Dies dürfte seine körperliche Statur erklären, mehr Hagerkamp denn Haferkamp. Versuche, die Pallenburg mit streifenpolizeilicher Hilfe wieder loszuwerden, quittiert sie mit Selbstmorddrohungen, drunter macht sie’s nicht mehr. Also bleibt sie und lernt auch Ingrid, Haferkamps Ex, kennen. Im Zuge eines Streitgesprächs scheinen sich beide Weibsbilder gegen ihn zu verschwören. Auch das noch! Da hilft nur noch die Kneipe, ordentlich einen hinter die Schrankwand nageln. Hatte jemals zuvor ein „Tatort“-Kommissar derlei Probleme?
Beeindruckende Bilder aus einer Stahlfabrik leiten über in gewitzte Wendungen, eine davon: Ingrid ist schlauer als Haferkamp. Weniger Wendung als vielmehr zu erwarten ist es indes, dass Brossberg tatsächlich noch auf Rache sinnt. Keine Täter- oder Motivsuche in dieser Episode, ist man anzunehmen geneigt. Oder etwa doch…? Auf den schleswig-holsteinischen „Tatort“-Kommissar Finke (Klaus Schwarzkopf) entfällt der damals noch obligatorische Gastauftritt. Haferkamp ist aufgerufen, listig und immer ein, zwei Schritte vorausdenkend zu agieren, wie ihm die Konfrontation mit Brossberg in der Stahlfabrik lehrte. Kreutzer versucht seinem Chef so gut wie möglich zuzuarbeiten, konnte dessen Kohlenmonoxidvergiftung jedoch auch nicht verhindern.
Das Finale fällt ebenso betrunken wie aufregend aus, wurde spannend und mit überraschend viel Stilwillen inszeniert. Durch diese Episode zieht sich ein Panflötenspiel als musikalisches Thema, was nach Jahren der Panflötenomnipräsenz in deutschen Fußgängerzonen etwas befremdlich wirken mag, jedoch durchaus seinen Teil zur atmosphärischen Ausgestaltung dieses Falls beiträgt, der mit seinen Anleihen beim Film noir und einer interessanten Charakterisierung Haferkamps einen starken Essener Einstand bildete.
Die Figur Haferkamp nimmt hier zumindest in Teilen bereits ihren Nachfolger Horst Schimanski (Götz George) vorweg; und da ist es sicher kein Zufall, dass der Schimmi-Erfinder und spätere „Tatort“-Routinier Hajo Gies drei Jahre später als „Tatort“-Regisseur ausgerechnet mit einer Haferkamp-Episode („Das Mädchen von gegenüber“) debütieren sollte.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Diese Filme sind züchisch krank!
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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
Tatort: Zweikampf
„Was ist mit meinen Augen? Bin ich blind?!“
Nur knapp zwei Monate nach seinem Debüt bekam der Essener „Tatort“-Kommissar Heinz Haferkamp (Hansjörg Felmy) seine zweite schwere Nuss zu knacken: Am 23. Juni 1974 wurde die 1973 gedrehte Episode „Zweikampf“ erstausgestrahlt. Regisseur Wolfgang Becker war wie im ersten Haferkamp-Fall für die Inszenierung verantwortlich, das Drehbuch stammte erneut von Karl Heinz Willschrei.
„Sie müssen versprechen, dass Sie nicht schlecht von mir denken!“
Millionärsgattin Marion Mezger (Ursula Lingen, „Der Mustergatte“) wird von zwei Gentleman-Gangstern entführt, die ihr die Augen verbinden und penibel darauf achten, dass nur einer von beiden mit ihr spricht, sie ansonsten aber höflich und gut behandeln. Sie fordern fünf Millionen DM Lösegeld von ihrem Mann (Werner Bruhns, „Wenn süß das Mondlicht auf den Hügeln schläft“), einem Möbelfabrikanten, die sie auch erhalten. Marion Mezger wird freigelassen, die Beute gut versteckt. Ein Hinweis aus der Bevölkerung führt Kommissar Haferkamp auf die Spur des Bauunternehmers Degenhart (Heinz Baumann, „Und Jimmy ging zum Regenbogen“), der sich seiner Sache jedoch sehr sicher ist. Das von ihm unbewohnte Appartement, in dem er und sein Komplize Frau Mezger festgehalten hatten, gibt er Haferkamp gegenüber als Liebesspielwiese aus, die er nur ab und an verwende. Haferkamp führt Mezger mit verbundenen Augen durch die Wohnung und fragt, ob sie sie wiedererkenne – doch sie verneint… Degenhart muss freigelassen werden, aber Haferkamp heftet sich weiter hartnäckig an dessen Fersen.
„Ich glaube, ich bin ein ziemlich sentimentaler Bursche…“
Zu einem schmissigen Psychedelic-Rock-Stück eröffnet „Zweikampf“ mit der Entführung und handelt auch die Ereigniskette ab, die durch sie ausgelöst wird: Herr Mezger alarmiert die Polizei, doch Haferkamp nimmt die Vermisstenmeldung zunächst nicht ernst. Dafür wird er von seinem Vorgesetzten gerügt, polizeiintern wird ein großer Bahnhof aufgefahren. Dass dies wohl kaum der Fall wäre, handelte es sich nicht um eine Millionärsgattin, bleibt unausgesprochen, schwingt in diesen Bildern aber mit. Mit Herrn Mezger stehen die Entführer während der geplanten Lösegeldübergabe in Funkkontakt, denn das Geld soll aus einem fahrenden Zug geworfen werden. Das ist spannend und rasant inszeniert, die zeitweise zum Einsatz kommende Wackelkamera vermittelt eine ordentliche Portion Realismus. Hier waren Könner am Werk.
„Wer kastriert raucht, ist kein Kerl!“
Im Zuge der anschließenden Ermittlungen spielt Haferkamps Assistent Kreutzer (Willy Semmelrogge) entgegen dem Episodentitel eine größere Rolle. Zeug(inn)en- und Indizienspurensuche vermitteln klassische Polizeiarbeit, bevor die anschließende Wohnungsbegehung zum Wendepunkt der Handlung gerät. Entführer Degenhart wurde zuvor als Lebemann eingeführt, der zwar keine funktionierende Ehe oder wenigstens Beziehung mehr vorzuweisen hat, jedoch nicht auf den Mund gefallen ist und aus seiner Situation das Beste zu machen scheint – eine Art Gegenentwurf zum unter seiner Scheidung eher zu leidenden Haferkamp. Von Degenhart existieren Fotos, die ihn mit nackten jungen Frauen zeigen – ein bei Haferkamp unvorstellbarer Sleaze-Faktor.
„Ja, ich hasse ihn!“
Dieser „Tatort“ macht keinen Hehl daraus, dass Degenhart einer der beiden Täter ist, das Publikum hat von Anfang an einen entsprechenden Wissensvorsprung. Auch das Motiv ist bekannt. Beinahe in „Columbo“-Manier entbrennt der titelgebende Zweikampf zwischen Degenhart und Haferkamp, wobei sich ersterer aalglatt gibt und letzterer zu psychologischer Kriegsführung und weiteren Tricks greifen muss. Aber auch der bayrische Kommissar Veigl (Gustl Bayrhammer) wird für den obligatorischen Gastauftritt konsultiert und in ein Fotoshooting bei Haferkamps Ex-Frau Ingrid (Karin Eickelbaum, hier fesch mit langen Haaren) hineingeplatzt, worauf diese äußerst verärgert reagiert. Haferkamps Chef charakterisiert seinen Mann als zäh und stur – danke, hätten wir als Zuschauerinnen und Zuschauer sonst kaum bemerkt! Spaß beiseite – wie Haferkamp sich reinkniet, ist aller Ehren wert, wenngleich stets eine gewisse Portion Respekt vor Degenhart und sicherlich auch Sympathie mit hineinspielt.
Letztlich ist Haferkamp alldem zum Trotz nur dank der Unterstützung eines ehemaligen Schulfreunds (Horst Sachtleben, „Kir Royal“) Degenharts und des Entführungsopfers erfolgreich, denn dieses hatte – ganz im Sinne einer Femme fatale – ihre eigenen Pläne ausgeheckt. Damit schließt sich gewissermaßen der Kreis zur vorausgegangenen Haferkamp-Episode. Dass es hier keinen Todesfall zu beklagen gibt und es tatsächlich „nur“ um eine Entführung geht, man ferner ohne Schießereien, Verfolgungsjagden o.ä. auskommt, gerät dank der Qualität der Inszenierung mit ihrer feinjustierten Dramaturgie schnell in Vergessenheit, wenngleich mir persönlich nach hinten raus dann doch etwas Expressivität und Spektakel fehlen. Und was ist eigentlich aus Degenharts Komplizen geworden? Nichtsdestotrotz eine runde Sache, dieser zweite Einsatz Haferkamps.
„Was ist mit meinen Augen? Bin ich blind?!“
Nur knapp zwei Monate nach seinem Debüt bekam der Essener „Tatort“-Kommissar Heinz Haferkamp (Hansjörg Felmy) seine zweite schwere Nuss zu knacken: Am 23. Juni 1974 wurde die 1973 gedrehte Episode „Zweikampf“ erstausgestrahlt. Regisseur Wolfgang Becker war wie im ersten Haferkamp-Fall für die Inszenierung verantwortlich, das Drehbuch stammte erneut von Karl Heinz Willschrei.
„Sie müssen versprechen, dass Sie nicht schlecht von mir denken!“
Millionärsgattin Marion Mezger (Ursula Lingen, „Der Mustergatte“) wird von zwei Gentleman-Gangstern entführt, die ihr die Augen verbinden und penibel darauf achten, dass nur einer von beiden mit ihr spricht, sie ansonsten aber höflich und gut behandeln. Sie fordern fünf Millionen DM Lösegeld von ihrem Mann (Werner Bruhns, „Wenn süß das Mondlicht auf den Hügeln schläft“), einem Möbelfabrikanten, die sie auch erhalten. Marion Mezger wird freigelassen, die Beute gut versteckt. Ein Hinweis aus der Bevölkerung führt Kommissar Haferkamp auf die Spur des Bauunternehmers Degenhart (Heinz Baumann, „Und Jimmy ging zum Regenbogen“), der sich seiner Sache jedoch sehr sicher ist. Das von ihm unbewohnte Appartement, in dem er und sein Komplize Frau Mezger festgehalten hatten, gibt er Haferkamp gegenüber als Liebesspielwiese aus, die er nur ab und an verwende. Haferkamp führt Mezger mit verbundenen Augen durch die Wohnung und fragt, ob sie sie wiedererkenne – doch sie verneint… Degenhart muss freigelassen werden, aber Haferkamp heftet sich weiter hartnäckig an dessen Fersen.
„Ich glaube, ich bin ein ziemlich sentimentaler Bursche…“
Zu einem schmissigen Psychedelic-Rock-Stück eröffnet „Zweikampf“ mit der Entführung und handelt auch die Ereigniskette ab, die durch sie ausgelöst wird: Herr Mezger alarmiert die Polizei, doch Haferkamp nimmt die Vermisstenmeldung zunächst nicht ernst. Dafür wird er von seinem Vorgesetzten gerügt, polizeiintern wird ein großer Bahnhof aufgefahren. Dass dies wohl kaum der Fall wäre, handelte es sich nicht um eine Millionärsgattin, bleibt unausgesprochen, schwingt in diesen Bildern aber mit. Mit Herrn Mezger stehen die Entführer während der geplanten Lösegeldübergabe in Funkkontakt, denn das Geld soll aus einem fahrenden Zug geworfen werden. Das ist spannend und rasant inszeniert, die zeitweise zum Einsatz kommende Wackelkamera vermittelt eine ordentliche Portion Realismus. Hier waren Könner am Werk.
„Wer kastriert raucht, ist kein Kerl!“
Im Zuge der anschließenden Ermittlungen spielt Haferkamps Assistent Kreutzer (Willy Semmelrogge) entgegen dem Episodentitel eine größere Rolle. Zeug(inn)en- und Indizienspurensuche vermitteln klassische Polizeiarbeit, bevor die anschließende Wohnungsbegehung zum Wendepunkt der Handlung gerät. Entführer Degenhart wurde zuvor als Lebemann eingeführt, der zwar keine funktionierende Ehe oder wenigstens Beziehung mehr vorzuweisen hat, jedoch nicht auf den Mund gefallen ist und aus seiner Situation das Beste zu machen scheint – eine Art Gegenentwurf zum unter seiner Scheidung eher zu leidenden Haferkamp. Von Degenhart existieren Fotos, die ihn mit nackten jungen Frauen zeigen – ein bei Haferkamp unvorstellbarer Sleaze-Faktor.
„Ja, ich hasse ihn!“
Dieser „Tatort“ macht keinen Hehl daraus, dass Degenhart einer der beiden Täter ist, das Publikum hat von Anfang an einen entsprechenden Wissensvorsprung. Auch das Motiv ist bekannt. Beinahe in „Columbo“-Manier entbrennt der titelgebende Zweikampf zwischen Degenhart und Haferkamp, wobei sich ersterer aalglatt gibt und letzterer zu psychologischer Kriegsführung und weiteren Tricks greifen muss. Aber auch der bayrische Kommissar Veigl (Gustl Bayrhammer) wird für den obligatorischen Gastauftritt konsultiert und in ein Fotoshooting bei Haferkamps Ex-Frau Ingrid (Karin Eickelbaum, hier fesch mit langen Haaren) hineingeplatzt, worauf diese äußerst verärgert reagiert. Haferkamps Chef charakterisiert seinen Mann als zäh und stur – danke, hätten wir als Zuschauerinnen und Zuschauer sonst kaum bemerkt! Spaß beiseite – wie Haferkamp sich reinkniet, ist aller Ehren wert, wenngleich stets eine gewisse Portion Respekt vor Degenhart und sicherlich auch Sympathie mit hineinspielt.
Letztlich ist Haferkamp alldem zum Trotz nur dank der Unterstützung eines ehemaligen Schulfreunds (Horst Sachtleben, „Kir Royal“) Degenharts und des Entführungsopfers erfolgreich, denn dieses hatte – ganz im Sinne einer Femme fatale – ihre eigenen Pläne ausgeheckt. Damit schließt sich gewissermaßen der Kreis zur vorausgegangenen Haferkamp-Episode. Dass es hier keinen Todesfall zu beklagen gibt und es tatsächlich „nur“ um eine Entführung geht, man ferner ohne Schießereien, Verfolgungsjagden o.ä. auskommt, gerät dank der Qualität der Inszenierung mit ihrer feinjustierten Dramaturgie schnell in Vergessenheit, wenngleich mir persönlich nach hinten raus dann doch etwas Expressivität und Spektakel fehlen. Und was ist eigentlich aus Degenharts Komplizen geworden? Nichtsdestotrotz eine runde Sache, dieser zweite Einsatz Haferkamps.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Unsere Kinder
„Schlagt sie alle tot!“
Roland Steiners im Jahre 1989 veröffentlichter Dokumentarfilm „Unsere Kinder“ ist eines der seltenen DDR-Dokumente, in denen man versuchte, sich vorbehaltsfrei Jugendsubkulturen anzunähern, sie zumindest ansatzweise zu porträtieren und zu verstehen. Die DEFA-Produktion nimmt sich jugendlicher Randgruppen an, die mal mehr, mal weniger stark von DDR-Institutionen missverstanden, marginalisiert oder gar bekämpft wurden. Das Material in „Unsere Kinder“ stammt aus der Zeit von 1985 bis 1989 kurz vor der Wende.
Seinen ersten Besuch stattet Steiner Gothics aka Grufties ab, anschließend geht’s zu Fußball-Fans und -Rowdys, die den Ball zum Punkrocker „Abfall“ von der Band „Fehlinformation“ spielen. Unterlegt von einem pathetischen, nachdenklichen, schwermütigen Off-Kommentar war dies lediglich eine Art grober Abriss, um schließlich in die Tiefe zu gehen: Die Gothics kommen relativ ausführlich zu Wort, skizzieren ihr Selbstverständnis, berichten von Vorurteilen der Gesellschaft ihnen gegenüber und geben einen Einblick in ihre Freizeitaktivitäten, zu denen auch die klischeehaften Friedhofsbesuche zählen.
Der Off-Sprecher beginnt, über einen vermeintlichen Skinhead zu erzählen, den er schließlich zu einem Interview überreden konnte, der jedoch anonym bleibt – zu sehen ist in dieser Dialogsequenz lediglich der Filmemacher. Der sich als Skinhead ausgebende Neonazi betrachtet den Rechtsextremismus in der DDR als Provokation gegen den kommunistischen Staat. Der Filmemacher hakt kritisch nach, woraufhin sich auch ein zweiter „Skin“ zu Wort meldet, der ebenfalls anonym bleibt. Zu erkennen geben sie sich jedoch als Anhänger der BRD-Partei „Die Republikaner“ und als Rassisten, faseln von „gesundem Nationalstolz“ und ähnlichen braun konnotierten Euphemismen, weisen es aber von sich, Nazis zu sein. Man kennt das mittlerweile zur Genüge, durch die Länge des Gesprächs wirkt es ermüdend. Zu DDR-Zeiten dürfte dies jedoch ein mittelschwerer Skandal gewesen sein.
Angesichts der den Skinhead-Kult durch ihre Nazischeiße pervertierenden Boneheads bezeichnen sich die Mitglieder der „Roten Front Pankow“ als „Anti-Skins“. Dem Namen nach zu urteilen verorten sie sich politisch beim Sozialismus, äußern sich jedoch antiautoritär und Gorbatschow-freundlich, standen also in Opposition zum autoritären Sozialismusmodell der Prä-Wende-DDR. Jenes zeigt sich im Ansatz, als der Filmemacher mit zwei Gothics auf offener Straße spricht und dabei von Polizisten unterbrochen wird. Er muss sich ausweisen und es entwickelt sich ein Streitgespräch, jedoch wird lediglich sein Name notiert. Im nächsten Dialog machen sich die Gothics Luft, beschweren sich über Vorurteile, man fühle sich diskriminiert und überwacht. Das Verbot der sowjetischen Zeitung „Sputnik“ wird angesprochen, seinerzeit ein verzweifelter Versuch der DDR-Führung, Glasnost und Perestroika abzuwehren. Typisch für die Vorwendezeit ist das Resümee der Gothics, dass die DDR grundsätzlich ok, jedoch reformbedürftig sei. Die männlichen Gothics wirken hier übrigens überaus sympathisch und sind noch keine zu Stumpftechno oder Kitscharien tanzenden Feinstrumpfhosenfetischisten und Modeopfer. Was ist nur aus dieser Szene geworden?
Frank, einer der Neonazis, findet sich schließlich vor Gericht wieder. Briefe an seine Mutter werden verlesen, er habe den Absprung versucht (dazu ein Zitat aus dem Böhse-Onkelz-Song „Erinnerungen“) – dieser habe jedoch nicht geklappt. Punk „Abfall“ macht weiterhin Musik, wobei der Filmemacher dessen Bekannte Beate kennenlernt, die sich ehrenamtlich um straffällige „Skins“ kümmert, auch um Frank. Sie gewährt Einblicke in ihre Arbeit, während ihr Vater neben ihr sitzt und sich ebenfalls zum Thema äußert. Es geht um Sozialarbeit und Resozialisierung, Beate scheint intelligent und eloquent. DDR-Schriftsteller Stefan Heym äußert sich polit- und gesellschaftskritisch und prognostiziert bereits damals den Klimawandel und dessen extrem schädliche Folgen. Vor diesem Hintergrund – und damit wird der Bogen zu dieser Doku gespannt – habe er Verständnis für rebellische junge Leute. Heym – ein bis zu seinem Tode 2001 angenehm kritischer Geist.
Etwas anders stellen sich die Auszüge eines Gesprächs Heyms Kollegin Christa Wolfs mit zwei vermeintlichen Skins dar (von denen der eine im Braunhemd gekleidete mit seiner Haarpracht aussieht wie Bernd Höcke). Es geht um „Härte“ und die Gründe dafür, um Gewalt und Gegengewalt. Die beiden Intelligenzverweigerer sind stumpf ausländerfeindlich, Ausländer würden „vorgezogen“ (meint wohl: bevorzugt). Die NS-Zeit wird relativiert. Wolf wirkt in ihren Dialogen verständlicherweise distanziert, bringt aber auch etwas Lehrerinnenhaftes und leicht Elitäres mit sich, das den Versuch eines empathischen Gesprächs auf Augenhöhe behindert.
Zurück im Gerichtssaal spricht der Staatsanwalt ein Plädoyer gegen die Neonazis, woraufhin Steiner die Mutter des einen zu Wort kommen lässt. Diese kann einem wahrlich leidtun. Sie wirkt intelligent und reflektiert, reagiert entsprechend mit Unverständnis auf die Entwicklung ihres Sohns. Ein altes Interview mit einem der Jugendlichen vor seiner Neonazizeit wird zwischengeschnitten, bevor Steiner sich auf den Friedhof begibt: nicht etwa für ein weiteres Stelldichein mit den Gothics, sondern skurrilerweise, um „Abfall“ in dessen Arbeitszeit aufzusuchen. Dieser hebt gerade ein Grab aus und steht während des Gesprächs in eben jenem Erdloch, dass es wirkt, als habe er sich sein eigenes Grab geschaufelt. Ob Steiner diese Lesart vor dem Hintergrund der Absichten „Abfalls“, die DDR verlassen zu wollen, intendierte, ist unbekannt.
„Unsere Kinder“ schließt mit einem Plädoyer Steiners fürs Zuhören und für offene Gespräche, wodurch sein Film den Eindruck einer Fürsprache für Sozialarbeit erweckt – innerhalb eines autoritären Systems eine wichtige Aussage. Nach der friedlichen Revolution in der DDR erhielten in der anarchischen Nachwendezeit sämtliche Subkulturen starken Aufwind, leider auch deren Pervertierung durch Neonazis. Aber das ist ein anderes Kapitel. Dieses hier ist ein bedeutendes Zeitdokument – nicht nur, weil es die lange verleugnete Existenz von Neonazis in der DDR offensiv aufgreift. Angesichts der inhaltlichen Gewichtung, bei der Punk lediglich eine kleine Rolle spielt und Heavy Metal komplett außen vor bleibt, war dies offenbar auch sein Hauptanliegen.
Nachtrag: Wie ich von einem Leser erfahren habe, handelt es sich bei Neonazi Frank allem Anschein nach um Frank Lutz, beim Typen im Braunhemd um Heiko Baumert und bei dessen Kollegen um Ingo Hasselbach. Baumert und Lutz kamen nach der Wende im Zuge einer Amnestie vorzeitig aus dem Gefängnis frei und gründeten zusammen mit Hasselbach die Nazipartei „Nationale Alternative“, die sich eng mit anderen faschistischen Organisationen verknüpfte. Hasselbach stieg ein paar Jahre später aus der Neonazi-Szene aus und ist Mitbegründer des Vereins „Exit-Deutschland“, der andere Ausstiegswillige unterstützt. Für seinen Film geriet Roland Steiner also keinesfalls an fehlgeleitete Mitläufer, sondern an radikale Neonazi-Kader, die nach der Wende Morgenluft witterten und erst so richtig in die Vollen gingen. Das macht diesen Film als Zeitdokument umso wertvoller.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
Unsere bösen Kinder
„Et nervt, ey, diese dummen Fragen!“
DEFA-Regisseur Karl-Heinz Lotz („Die Mauerbrockenbande“) drehte seit dem Jahre 1972 Filme, darunter einige Kinderfilme, und heimste manch Auszeichnung ein. Seine letzte Regiearbeit entstand, als die DEFA kurz vor ihrer „Abwicklung“ stand, und wurde ein ganz besonderer „Kinderfilm“: Ein abendfüllender Dokumentarfilm, für den er Straßenkindern folgt, u.a. seinem eigenen 13-jährigen Adoptivsohn.
„Deutschland ist zurzeit ziemlich scheiße!“
Lotz zeigt vier Minuten lang unkommentierte Schwarzweißbilder belebter Straßen des wiedervereinten Berlins, bevor er aus dem Off das Gezeigte zu kommentieren beginnt. Es ist Weihnachten 1991. Der Film wird auch im weiteren Verlauf keine Farbe bekommen, was sicherlich (auch) als Ausdruck Lotz‘ eigener getrübter Stimmung verstanden werden darf: Sein Adoptivsohn David scheint ihm vollends entglitten. Es kommt zu einem bizarren Setting: Vor laufender Kamera interviewt Lotz David und fragt ihn, wie es sich angefühlt habe, als er ihm 1.000,- DM stahl. Zeitsprung, März 1992: David ist ausgerissen, sein Adoptivvater spürt ihn in der Saalestadt Halle auf. Dort ist er jetzt Teil einer Kidpunk-Clique.
„Kreuzberg muss saubergemacht werden!“
Mehr der Hip-Hop-Subkultur zugeneigt ist der ebenfalls 13-jährige Danny aus Berlin-Marzahn. Er raucht bereits Zigaretten und malt Tags mit antifaschistischen Aussagen. Aufgekratzt und ungeduldig wirkt er, die Interview-Situation ist ihm nicht geheuer und scheint ihn zu überfordern, im weiteren Verlauf artikuliert er unmissverständlich seine Abneigung. Hip-Hop-typisch legt er viel Wert auf Klamotten und sein Erscheinungsbild, obwohl er anscheinend seit zwei Jahren zwischen dem Leben auf der Straße und in einer Kinderpsychiatrie (wo Lotz ihn kennenlernte) pendelt. Nazis will er totschlagen und äußert sich überraschend klug in politischer Hinsicht – ein Indiz für den allgegenwärtigen Neonazi-Terror der Baseballschlägerjahre, der sogar 13-jährige zwang, sich mit diesen Auswüchsen auseinanderzusetzen. Er berichtet aber auch, von türkischen Jugendlichen abgezogen worden zu sein.
Die nächsten beiden Jugendlichen werden nicht namentlich vorgestellt. Sie sind etwas älter als David und Danny, vertreiben sich gerade die Zeit in einem Jugendclub (oder einer ähnlichen Einrichtung), zocken „Streetfighter II“ (yeah!) am Arcade-Automat und plaudern von ihren Problemen mit der Justiz. Schnitt, neues Kapitel: „Die anderen“. David hält sich in einer besetzten Punkkneipe in Potsdam auf, ein älterer Besetzer äußert sich zu gestörten Eltern-Kind-Beziehungen – ein Schlüsselbegriff, der den Inhalt dieses Dokumentarfilms auf den Punkt bringt. Lotz trifft auf der Straße vermummte Autonome, die ihr Viertel gegen Neonazis verteidigen, notfalls militant. Ein paar Straßenecken weiter stehen sie, die Nazis. Wie gewohnt sondern diese nur geistigen Dünnpfiff ab, jammern herum, rassistisch, neidisch und dumm. Ein paar stunden später trifft Lotz einige von ihnen im Polizeiarrest wieder.
Sein Filmensemble erweitert Lotz um die 13-jährige Daniela, die vor ihrem prügelnden Vater ins Frauenhaus geflohen ist. Dieses Mädchen hat echte Probleme. Ihr Vater sei nur nett gewesen, wenn er getrunken hatte, berichtet sie erstaunlich eloquent und reflektiert. Etwas zu reflektiert für ein so junges Mädchen, das offenbar viel zu schnell erwachsen werden musste. Nach allem, was vorgefallen ist, könne sie ihm nicht mehr verzeihen. Als Lotz David wiedertrifft, berichtet dieser von Stress mit Neonazis und macht sich Gedanken über seine Zukunft. Dies entbehrt nicht einer gewissen Komik: Hausbesetzer oder -besitzer möchte er werden, oder Busfahrer. Sein Kumpel Jonas hingegen möchte die Schule durchziehen und am liebsten Koch werden. Das klingt erstaunlich „normal“.
Zum Schluss zitiert Lotz aus der biblischen Geschichte „Jona und der Wal“, dazu hallelujat’s von der Tonspur. Diese Wendung zum Religiösen überrascht etwas, hat jedoch kaum Einfluss auf den Gesamteindruck, den der Film mit seiner exemplarischen Beobachtung unterschiedlicher Straßenkinder und juveniler Delinquenten vermittelt. Als Sammlung authentischen Materials ist er stark, wenngleich er mehr Fragen aufwirft als beantwortet.
Insbesondere bei David ist keine wirkliche Ursache für den Lebensweg, den er einschlug, erkennbar, sodass es beinahe den Anschein erweckt, Punks würden schlicht als solche geboren. Dem ist natürlich nicht so, und dass sich David für diesen Lebensweg entscheidet, ist auch gar nicht das Problem. Es scheint ihm jedoch an jeglichem Unrechtsbewusstsein gegenüber seinem Adoptivvater zu mangeln, wenn er diesen um hohe Geldbeträge erleichtert, und er scheint kaum Empathie dahingehend zu verspüren, welchen Schmerz er ihm zufügt. Allerdings hält sich auch Lotz mit Analyseversuchen und Selbstreflektion sehr zurück. Der „Filmdienst“ versteht es, bei allen Vorbehalten ihm gegenüber, das Ergebnis in einem Hauptsatz zusammenfassen: „Entstanden ist ein Dokument der Beziehungslosigkeit zwischen den Generationen.“
Dieser Film, der mit seinem Titel „Unsere bösen Kinder“ unangenehm wertend und tadelnd klingt, entspricht zumindest in Teilen nicht mehr heutigen Qualitätsstandards; insbesondere der Ton macht häufiger Probleme, in Dialogen ist Lotz schlecht zu versehen. Zudem hätte zumindest die bunte Welt der Kidpunks es verdient gehabt, in Farbe dokumentiert zu werden. Als authentischer Einblick in die Welt jugendlicher gesellschaftlicher Außenseiter der Nachwendezeit, der von der persönlichen Betroffenheit des Filmemachers profitiert, ist „Unsere bösen Kinder“ nichtsdestotrotz ein wertvoller Beitrag.
Lotz legte das Regiefach hiernach ad acta und verlegte sich auf die Rolle des Dokumentarfilmproduzenten. Mehr noch würde mich aber interessieren, was aus den Kindern aus diesem Film geworden ist.
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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
Polizeiruf 110: Seine Familie kann man sich nicht aussuchen
„Nimm's nicht persönlich.“
Die erste Rostocker „Polizeiruf 110“-Episode nach Charly Hübners Ausstieg – bisher als Kommissar Bukow der Partner an Kommissarin Königs (Anneke Kim Sarnau) Seite – wurde am 24. April 2022 erstausgestrahlt. Als Regisseur trat erstmals Stefan Krohmer („Eine fremde Tochter“) innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimirehe in Erscheinung, der ein Drehbuch des „Polizeiruf“-erfahrenen Autors Florian Oeller inszenierte. Bereits vor den Pressevorführungen war bekanntgegeben worden, dass Hübners Ehefrau Lina Beckmann („Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt“) als Kommissarin und Bukows Halbschwester Melly Böwe zukünftig an Königs Seite ermitteln werde.
„Find dich damit ab!“
Ein Jugendlicher (Alessandro Schuster, Dresdner „Tatort“) irrt nachts auf einsamen Landstraßen im Rostocker Einzugsgebiet umher, in seiner Hand ein Messer. Ein Autofahrer stoppt und überredet ihn einzusteigen. Während der Fahrt beginnt der Fahrer sich sexuell zu stimulieren, woraufhin der Jugendliche ihm mit seinem Messer in den Oberschenkel sticht und so zum Anhalten zwingt. Der Messerstecher läuft weg. Am nächsten Tag werden in einem vermeintlich idyllischen Rostocker Vorort eine alleinerziehende Mutter und ihr gelähmter jugendlicher Sohn tot aufgefunden: Sie wurde erstochen, ihr Sohn erlitt einen Schlaganfall, weil seine Infusion nicht mehr gewechselt wurde. Der durch die Nacht irrende, mit einem Messer bewaffnete Junge stellt sich als Max heraus, ausgestiegener Sohn eines Mafiaclans, der unter Zeugenschutz steht und als Pflegekind zusammen mit seiner Pflegeschwester Emma bei Jule (Susanne Bormann, „Fleisch ist mein Gemüse“) und Holger Genth (Jörn Knebel, „Nord bei Nordwest“) lebt – den Nachbarn der Toten. Aufgrund des Zeugenschutzes tritt die Bochumer Kommissarin Melly Böwe auf den Plan, die einst Max unter ihren Fittichen hatte, bevor er schwer drogenabhängig wurde. Die eigentlich auf diesen Fall angesetzt Kommissarin Katrin König muss sich wohl oder übel mit Böwe, der Halbschwester ihres untergetauchten Partners und Geliebten Bukow, arrangieren. Allem Anschein nach ist Max der Täter. Was trieb ihn dazu – und wo steckt er? Die Kommissarinnen versuchen Antworten bei Jens Sommer, dem Ex-Mann der Toten, bei Familie Genth sowie bei den zahlreichen Liebhabern der promiskuitiv gelebt habenden Toten zu finden. Königs Vorgesetzter Röder (Uwe Preuss) versucht derweil, Katrin König dazu zu überreden, die Karriereleiter zur Teamleiterin hochzusteigen…
Wer nun glaubt, der Neuanfang im Rostocker „Polizeiruf 110“ ginge mit ausgeprägter Stutenbissigkeit einher, irrt: Natürlich ist König zunächst nicht sonderlich erfreut, dass die zuvor im Fall „Sabine“ eingeführte Böwe plötzlich auftaucht und sich in ihre Arbeit einmischt, doch Drehbuch und Inszenierung nutzen die Situation, um zwei unterschiedliche Frauen zu charakterisieren und zu zeigen, wie sie sich zusammenraufen und erfolgreich zusammenarbeiten. Dieses Klischee wird also umschifft. Ferner bewegt man sich in dieser Episode weg vom Urbanen und verlagert den Schauplatz in die Welt der Einfamilienhäuser, hinter deren Fassade es in dysfunktionalen Familien brodelt und Überforderung an der Tagesordnung ist. Eine Vielzahl an Figuren wird eingeführt, die dem Publikum die Sorge bereiten könnten, der Handlung nicht mehr folgen zu können, doch entspannte und geduldige Zuschauer(innen) werden belohnt: Es wird sich alles stimmig zusammenfügen und übermäßige Konzentration ist nicht erforderlich.
Der Fokus liegt dabei grundsätzlich auf Max, wenngleich er auch immer wieder aus dem Auge gelassen wird, um sowohl die horizontale, episodenübergreifende Handlung weiterzuerzählen als auch den Toten ein Gesicht zu geben und Max‘ Pflegefamilienverhältnisse aufzuarbeiten. Die erwachsenen männlichen Protagonisten nehmen dabei keine allzu rühmlichen Rollen ein, sondern müssen sich und der Polizei ihre Schwächen eingestehen. Was mancher für verurteilungswürdig halten würde, erscheint mir viel mehr hilflos und, ja: ehrlich. Neben gravierenden (Patchwork-)familiären Problemen werden Themenbereiche wie Entwurzelung, Behinderung, Sterbehilfe, Einsiedlertum, wohltuende/funktionale Zweckgemeinschaften und Sexualität angeschnitten, um im letzten Drittel die Perspektive von Pflegekindern noch einmal zu betonen und mit einer überraschenden Wendung aufzuwarten.
Die bedrückende Stimmung und das gezeigte Elend werden durch ein wenig Humor aufgelockert, allem voran während der Befragungen der zahlreichen Liebhaber der Toten. Obwohl „Seine Familie kann man sich nicht aussuchen“ lange Zeit mehr auf Dramatik denn auf klassischen Krimi-Thrill setzt und sich tatsächlich als Psycho-Kriminaldrama entpuppt, gelingt es, die Spannungsschaube zum Finale hin kräftig anzuziehen. Das geht unter die Haut, nicht zuletzt, weil nahezu alle Schauspielerinnen und Schauspieler, von Sarnau über Schuster, Beckmann, Bormann und Knebel bis hin zu einer ebenso beeindruckenden wie beängstigenden Dragus, es verstehen, frei von jeglichem Overacting ihre jeweilige emotionale Lage nachvollziehbar zu transportieren und sowohl Bestürzung als auch Nachdenklichkeit auszulösen.
So hat es dieser Neustart geschafft, dass zumindest ich Charly Hübner nicht vermisst habe, sondern, vom Sonntagskaterchen in den Sessel gedrückt, fasziniert in diesen Fall vordringen und ihn empathisch nachempfinden konnte. Nach diesem geglückten Übergang darf man gespannt auf die weitere Zusammenarbeit des neuen Teams Sarnau/Beckmann sein.
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Die erste Rostocker „Polizeiruf 110“-Episode nach Charly Hübners Ausstieg – bisher als Kommissar Bukow der Partner an Kommissarin Königs (Anneke Kim Sarnau) Seite – wurde am 24. April 2022 erstausgestrahlt. Als Regisseur trat erstmals Stefan Krohmer („Eine fremde Tochter“) innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimirehe in Erscheinung, der ein Drehbuch des „Polizeiruf“-erfahrenen Autors Florian Oeller inszenierte. Bereits vor den Pressevorführungen war bekanntgegeben worden, dass Hübners Ehefrau Lina Beckmann („Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt“) als Kommissarin und Bukows Halbschwester Melly Böwe zukünftig an Königs Seite ermitteln werde.
„Find dich damit ab!“
Ein Jugendlicher (Alessandro Schuster, Dresdner „Tatort“) irrt nachts auf einsamen Landstraßen im Rostocker Einzugsgebiet umher, in seiner Hand ein Messer. Ein Autofahrer stoppt und überredet ihn einzusteigen. Während der Fahrt beginnt der Fahrer sich sexuell zu stimulieren, woraufhin der Jugendliche ihm mit seinem Messer in den Oberschenkel sticht und so zum Anhalten zwingt. Der Messerstecher läuft weg. Am nächsten Tag werden in einem vermeintlich idyllischen Rostocker Vorort eine alleinerziehende Mutter und ihr gelähmter jugendlicher Sohn tot aufgefunden: Sie wurde erstochen, ihr Sohn erlitt einen Schlaganfall, weil seine Infusion nicht mehr gewechselt wurde. Der durch die Nacht irrende, mit einem Messer bewaffnete Junge stellt sich als Max heraus, ausgestiegener Sohn eines Mafiaclans, der unter Zeugenschutz steht und als Pflegekind zusammen mit seiner Pflegeschwester Emma bei Jule (Susanne Bormann, „Fleisch ist mein Gemüse“) und Holger Genth (Jörn Knebel, „Nord bei Nordwest“) lebt – den Nachbarn der Toten. Aufgrund des Zeugenschutzes tritt die Bochumer Kommissarin Melly Böwe auf den Plan, die einst Max unter ihren Fittichen hatte, bevor er schwer drogenabhängig wurde. Die eigentlich auf diesen Fall angesetzt Kommissarin Katrin König muss sich wohl oder übel mit Böwe, der Halbschwester ihres untergetauchten Partners und Geliebten Bukow, arrangieren. Allem Anschein nach ist Max der Täter. Was trieb ihn dazu – und wo steckt er? Die Kommissarinnen versuchen Antworten bei Jens Sommer, dem Ex-Mann der Toten, bei Familie Genth sowie bei den zahlreichen Liebhabern der promiskuitiv gelebt habenden Toten zu finden. Königs Vorgesetzter Röder (Uwe Preuss) versucht derweil, Katrin König dazu zu überreden, die Karriereleiter zur Teamleiterin hochzusteigen…
Wer nun glaubt, der Neuanfang im Rostocker „Polizeiruf 110“ ginge mit ausgeprägter Stutenbissigkeit einher, irrt: Natürlich ist König zunächst nicht sonderlich erfreut, dass die zuvor im Fall „Sabine“ eingeführte Böwe plötzlich auftaucht und sich in ihre Arbeit einmischt, doch Drehbuch und Inszenierung nutzen die Situation, um zwei unterschiedliche Frauen zu charakterisieren und zu zeigen, wie sie sich zusammenraufen und erfolgreich zusammenarbeiten. Dieses Klischee wird also umschifft. Ferner bewegt man sich in dieser Episode weg vom Urbanen und verlagert den Schauplatz in die Welt der Einfamilienhäuser, hinter deren Fassade es in dysfunktionalen Familien brodelt und Überforderung an der Tagesordnung ist. Eine Vielzahl an Figuren wird eingeführt, die dem Publikum die Sorge bereiten könnten, der Handlung nicht mehr folgen zu können, doch entspannte und geduldige Zuschauer(innen) werden belohnt: Es wird sich alles stimmig zusammenfügen und übermäßige Konzentration ist nicht erforderlich.
Der Fokus liegt dabei grundsätzlich auf Max, wenngleich er auch immer wieder aus dem Auge gelassen wird, um sowohl die horizontale, episodenübergreifende Handlung weiterzuerzählen als auch den Toten ein Gesicht zu geben und Max‘ Pflegefamilienverhältnisse aufzuarbeiten. Die erwachsenen männlichen Protagonisten nehmen dabei keine allzu rühmlichen Rollen ein, sondern müssen sich und der Polizei ihre Schwächen eingestehen. Was mancher für verurteilungswürdig halten würde, erscheint mir viel mehr hilflos und, ja: ehrlich. Neben gravierenden (Patchwork-)familiären Problemen werden Themenbereiche wie Entwurzelung, Behinderung, Sterbehilfe, Einsiedlertum, wohltuende/funktionale Zweckgemeinschaften und Sexualität angeschnitten, um im letzten Drittel die Perspektive von Pflegekindern noch einmal zu betonen und mit einer überraschenden Wendung aufzuwarten.
Die bedrückende Stimmung und das gezeigte Elend werden durch ein wenig Humor aufgelockert, allem voran während der Befragungen der zahlreichen Liebhaber der Toten. Obwohl „Seine Familie kann man sich nicht aussuchen“ lange Zeit mehr auf Dramatik denn auf klassischen Krimi-Thrill setzt und sich tatsächlich als Psycho-Kriminaldrama entpuppt, gelingt es, die Spannungsschaube zum Finale hin kräftig anzuziehen. Das geht unter die Haut, nicht zuletzt, weil nahezu alle Schauspielerinnen und Schauspieler, von Sarnau über Schuster, Beckmann, Bormann und Knebel bis hin zu einer ebenso beeindruckenden wie beängstigenden Dragus, es verstehen, frei von jeglichem Overacting ihre jeweilige emotionale Lage nachvollziehbar zu transportieren und sowohl Bestürzung als auch Nachdenklichkeit auszulösen.
So hat es dieser Neustart geschafft, dass zumindest ich Charly Hübner nicht vermisst habe, sondern, vom Sonntagskaterchen in den Sessel gedrückt, fasziniert in diesen Fall vordringen und ihn empathisch nachempfinden konnte. Nach diesem geglückten Übergang darf man gespannt auf die weitere Zusammenarbeit des neuen Teams Sarnau/Beckmann sein.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
God Bless Ozzy Osbourne
„The makers of this movie spent more than two years on the road with Ozzy Osbourne. Nearly everyone survived.”
Ozzy Osbourne – ehemaliger Black-Sabbath-Sänger, Prince of Darkness, Miterfinder des Heavy Metals, aber auch Alkohol- und Drogenwrack, Scripted-Reality-Dokusoap-Darsteller, Tierquäler und einst verhaftet worden, weil er versucht hatte, seine Ehefrau und Managerin Sharon im Vollrausch zu erwürgen. „God Bless Ozzy Osbourne“ dokumentiert das Leben dieses Mannes rund eineinhalb Stunden lang. Jack Osbourne, einer seiner Söhne, fungierte als einer von mehreren Produzent(inn)en dieses Dokumentarfilms aus dem Jahre 2011, Ozzys Frau Sharon Osbourne wird als ausführende Produzentin angegeben. Die Regie führten Mike Fleiss und Mike Piscitelli.
Buenos Aires, Argentinien: Ozzy macht sich für sein Konzert warm, Bilder der euphorisierten Konzertbesucher(innen) werden zwischen Ozzys Übungen geschnitten. Viele alte Aufnahmen bauen audiovisuelle Brücken in Ozzys bewegte Vergangenheit, bis die Kamera auch bei der Überraschungsparty zu seinem 60. Geburtstag dabei war. Seine Geschwister konnten für den Film gewonnen werden und tragen vor allem zum Abschnitt bei, der sich mit seiner Kindheit und seinem Aufwachsen als Arbeitersohn im englischen Birmingham beschäftigt. Aktuelle Tourausschnitte leiten über zu „The Sabbath Years“, es geht also um seine Karriere mit Black Sabbath. Zahlreiche Kollegen (darunter Paul McCartney) äußern sich ebenso wie die übrigen Black-Sabbath-Mitglieder der Urbesetzung, der Ozzy als Frontmann vorstand. Die Kinder aus seiner ersten Ehe treten ebenfalls vor die Kamera. Offenbar war Ozzy ein genialer Heavy-Metal-Sänger, jedoch kaum ein guter Familienvater…
Aktuelle Backstage-Aufnahmen und Soundchecks rufen einmal mehr in Erinnerung, dass Ozzy, über dessen exzessives Verhalten nun vermehrt gesprochen wird, nach wie vor aktiver Musiker ist. Seine Frau Sharon gibt sich zu erkennen, es geht um in erster Linie in die eigene Tasche wirtschaftende Managements und das aktuelle Management, das dem einen Riegel vorschob. Das Kapitel „From the ashes“ behandelt die Entstehung seiner Soloband nach seinem vorläufigen Ende bei Black Sabbath Ende der 1970er. Ozzys ehemaliger Bassist Rudy Sarzo steht Rede und Antwort zu dieser Zeit, die durch Ozzys Gitarrist Randy Rhoads‘ viel zu frühen und vor allem so unnötigen Tod eine herbe Zäsur erlitt. Rhoads war Ozzys musikalischer Bruder im Geiste und sein bester Freund, dessen Tod dieser anscheinend nie ganz verwunden hat. Es darf davon ausgegangen werden, dass dieses Ereignis Ozzy traumatisierte und ihn ein gutes Stück tiefer in den Alkohol- und Drogenwahnsinn trieb.
Vielleicht das Beste, was Ozzy in seinem Privatleben passieren konnte, war die Heirat Sharons, deren Zustandekommen natürlich ebenfalls Bestandteil dieses Films ist. Als seine Managerin und Ehefrau profitiert sie zwar von Ozzys Einnahmen, jedoch ist angesichts der beschriebenen Exzesse und Ausbrüche schwer vorstellbar, dass dies ihr Hauptantrieb ist, ihrem Mann stets ein Fels in der Brandung zu sein und mitzuhelfen, ihn langsam und unglaublich geduldig aus seinen Suchterkrankungen herauszuführen. Nun äußern sich auch Jack und Aimee, gemeinsame Kinder Sharons und Ozzys, vor der Kamera, woraufhin erneut Ozzys Probleme mit seiner Rolle als Familienvater thematisiert werden. Kontrastiert wird diese Rolle zudem von immer deftiger und absurder werdenden Exzessgeschichten.
Eher zum Schmunzeln lädt es indes ein, wenn Ozzy seine ‘80er-Musikvideos vorgespielt bekommt, sich an deren Entstehung nicht mehr erinnern kann und sich für sie schämt. Ein Ausschnitt von einer Pressekonferenz in Helsinki im Jahre 1989 zeigt ihn völlig fertig, und zwar so sehr, dass daran wiederum kaum noch etwas lustig ist, trauriger Tiefpunkt ist dann seine häusliche Gewalt gegen Sharon. Sein Alkoholismus wird diskutiert und Tochter Kelly macht den Reigen seiner vor der Kamera versammelten Sprösslinge komplett. Genau wie Jack kannte man sie aus der MTV-Dokusoap, die zwischen 2002 und 2004 produziert worden war – im Prinzip während einer seiner schlimmsten Phasen. Es wäre interessant gewesen, zu erfahren, weshalb dieser Entzauberung, Entmystifizierung und letztlich Auslieferung seinerzeit unter diesen Umständen zugestimmt wurde. Möglicherweise gerade auch deshalb, um eine Art für Ozzy heilsamen Schock zu erzeugen. Diesen schien er erlitten zu haben, als auch Kelly und Jack mit Drogenproblemen zu kämpfen begannen und Sharon sich einer Krebserkrankung stellen musste. All dies schien Ozzy zum Anlass genommen zu haben, nüchtern und clean zu werden – und weitestgehend zu bleiben.
Dieser Film kann sicherlich sensationslüstern rezipiert werden oder um sich über Ozzy und seine Verkörperung zahlreicher Rock’n’Roll-Klischees lustig zu machen. Das Lachen dürfte einem jedoch wiederholt im Halse stecken bleiben, und vielleicht gelingt es auch, eine gewisse Empathie für ihn und seine Familie zu entwickeln. „God Bless Ozzy Osbourne“ changiert zwischen unfassbaren, lustigen, aber eben auch nachdenklichen und traurigen Momenten und porträtiert Ozzy über seine Musik und seine Exzesse hinaus. Seine Lebensweise hat er offenbar mit einer Parkinson-Erkrankung bezahlt, die ihn jedoch nicht davon abhält, weiterhin Musik zu machen – ob mit Black Sabbath im Studio und auf Abschiedstournee oder mit seinem Soloprojekt.
Nicht ausschließen kann ich übrigens, dass mir der eine oder andere Aspekt dieses sehr sehenswerten Dokumentarfilms entgangen ist, denn niemand, wirklich niemand, sollte den gleichen Fehler wie ich begehen und ihn sich ohne Untertitel ansehen – Ozzys Genuschel steht im krassen Gegensatz zur Ausdrucksstärke seines Gesangs…
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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
Unheimliche Begegnung der dritten Art
„Wer geht schon in so'nen dummen Zeichentrickfilm, der auch noch jugendfrei ist?!“
Nachdem US-Filmemacher Steven Spielberg mit „Der weiße Hai“ Zuschauerrekorde gebrochen, das Subsubgenre der Shark- bzw. Fishploitation losgetreten und das Image jener Tiergattung nachhaltig zerstört hatte, ging es für ihn vom Ozean ins Weltall und um die Kontaktaufnahme mit einer ganz anderen Spezies: „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ aus dem Jahre 1977 ist einer jener Science-Fiction-Filme, in denen die Extraterrestrischen in friedvoller Absicht bzw. ohne böse Hintergedanken kommen. Was damals als Innovation und globalpolitisches Statement gefeiert wurde, war indes nicht ganz neu, wurde unabhängig davon aber zu einem weiteren Spielberg’schen Kassenknüller.
„Das ist wie Walpurgisnacht mit Hexensabbat!“
In der Wüste tauchen im Jahre 1945 einst spurlos verschwundene US-Flugzeuge wieder auf, von ihren Piloten fehlt jedoch weiter jede Spur. Elektriker Roy Neary (Richard Dreyfuss, „Der weiße Hai“) macht ebenso wie die alleinerziehende Mutter Jillian Guiler (Melinda Dillon, „Dieses Land ist mein Land“) nachts eine eigenartige Erfahrung, die sich als Ufo-Sichtung herausstellt. Jillians Sohn Barry (Cary Guffey, „Der Große mit seinem außerirdischen Kleinen“) folgt dem Phänomen und ist plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Landesweit fällt der Strom aus. Roy und Jillian sind fortan davon besessen, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen, während Ufo-Forscher um (den an den französischen Ufologen Jacques Vallée angelehnten) Claude Lacombe (François Truffaut, eigentlich Nouvelle-Vague-Regisseur) sich von wissenschaftlicher Warte aus der Thematik nähern. Tatsächlich wollen Außerirdische Kontakt zu den Erdenbewohnern aufnehmen und funken Geokoordinaten sowie geheimnisvolle Tonabfolgen…
„Kommt doch rein, dann können wir spielen!“
Nach dem Prolog, der bei stürmischen Wetterverhältnissen die Flugzeugfunde in der mexikanischen Wüste zeigt, setzt sich das Spielzeug des kleinen Barry nachts wie von Geisterhand in Bewegung. Mystik und Grusel vereinen sich in den ersten Filmminuten und machen neugierig. Neugierig ist auch Roy, doch seine Frau Ronnie (Teri Garr, „Der Dialog“) will nichts von Ufos wissen. Spielberg etabliert zwei parallel verlaufende Handlungsstränge: den um Roy, Jillian und Barry sowie den um die Ufo-Wissenschaftler. Klänge und Formen spielen eine Rolle, das Bewusstsein für Details wird geschärft. Barry soll als eine Art von den Ängsten und Vorurteilen der Erwachsenenwelt vollkommen unbelastete, im positiven Sinne naive und ebenfalls neugierige Figur eingeführt werden, die keinerlei Angst vor den fremden Besuchern zeigt. Dass ein kleines Kind jedoch gänzlich unbeeindruckt bleibt, auch, als die Außerirdischen sich gewaltsam Zutritt zu seiner Wohnung zu verschaffen versuchen, ist etwas arg unwahrscheinlich. Die Quittung dafür erhalt Barry, indem er kurzerhand von den Außerirdischen entführt wird.
Die Besessenheit Roys, der verzweifelt versucht, seine Erlebnisse und Visionen zu verstehen, einzuordnen und mehr zu erfahren, führt dazu, dass der Haussegen mittlerweile extrem schiefhängt. Spielberg übertreibt es dabei, indem er Roys psychischen Ausnahmezustand seinem Publikum mit dem Holzhammer einprügelt. Die Hysterie wirkt derart übertrieben, dass sie unverständlich wird (Stichwort: „Heulboje!“). Roys Verrücktheit macht den Film fast unfreiwillig komödiantisch. Seine Wege kreuzen sich schließlich mit denen Jillians und man tut sich zusammen. Bei ihrer Reise zum imposanten Berg „Devils Tower“ in Wyoming wirken beide eher wie Junkies auf der Suche nach Stoff. Die indischen Hindus in Dharamsala wiederum haben offenbar nichts Besseres zu tun, als die von den Außerirdischen abgespielte Tonfolge mit gen Himmel gerichtetem Blick zu Tausenden wieder und wieder zu wiederholen. Das wirkt lächerlich und unangenehm despektierlich. Generell stört die religiöse Konnotation, mit der die Besucher- und Entführungsthematik vermengt wird. Fragen nach möglicher Kommunikation mit außerirdischen Wesen, worum es eigentlich gehen sollte, werden hingegen nur unzureichend beantwortet. Und im Finale wird’s erneut komödiantisch – fehlt nur noch, dass alle zu tanzen beginnen…
Keine Frage, visuell ist „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ toll, insbesondere in Bezug auf die Ausleuchtungen des Himmelfirmaments. Und mit seiner Farbenfreude nahm er sicherlich ein gutes Stück weit die 1980er vorweg. Die Handlung, die Spielberg als Allegorie auf kindliches Staunen, deren Wiederentdeckung durch Erwachsene und religiöse Sinnsuche konzipierte, ist jedoch über weite Strecken langatmig und unspektakulär. Zu sehr in die Länge gezogene Sequenzen führen zu einer Überlänge von rund 140 Minuten (es existieren indes unterschiedliche Schnittfassungen), sogar das Finale scheint in Zeitlupe abzulaufen. Damit erinnert der Film eher an die „Space Night“ im TV denn an einen packenden Science-Fiction-Thriller und gerät zu einer unheimlich einschläfernden Begegnung der dritten Art, aus der einen ein leider typisch spielbergeskes, gefällig kitschiges Ende erweckt. Die populärkulturelle und filmhistorische Bedeutung dieses Films ist mir bewusst, allein: nachvollziehen kann ich sie nicht.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Diese Filme sind züchisch krank!
- buxtebrawler
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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
Tatort: Die Abrechnung
„Glauben Sie, Sie sind der Erste, der dasteht, als hätt’ er sich in die Hose geschissen?!“
Nach den Fällen 3 und 4 des Essener „Tatort“-Kommissars Heinz Haferkamp (Hansjörg Felmy) und dessen Assistenten Willy Kreutzer (Willy Semmelrogge) griff man auf das bewährte Regie/Drehbuch-Duo Wolfgang Becker und Karl Heinz Willschrei zurück, das für die ersten beiden Essener Episoden verantwortlich zeichnete. Erstmals über bundesdeutsche Bildschirme flimmerte „Die Abrechnung“ am 8. Juni 1975.
„Scheiß reiche Weiber!“
Der vermögende Professor Stürznickel wird in seinem Zuhause erschlagen. Schwiegertochter Evelyn (Maria Schell, „Der Hexentöter von Blackmoor“) sagt aus, dass es ein Einbrecher gewesen sei, den sie im Affekt erschossen habe. Kommissar Haferkamp jedoch ist davon überzeugt, dass Evelyn die Täterin ist und den vermeintlichen Einbrecher, mit dem sie eine Affäre hatte, für ihre Zwecke als nützlichen Idioten ausgenutzt hat. Evelyn wird angeklagt, doch die Beweislage ist schwach. Der renommierte Anwalt Dr. Alexander (Romuald Pekny, „Das Wunder des Malachias“) erwirkt Evelyns Freispruch. Doch kurz darauf verschwindet Evelyns Stieftochter, die 14-jährige Angela (Irina Wanke, „Die Verdammten“), spurlos. Zuvor hatte sie ihren Erbanteil abgelehnt, weil sie mehr wusste, als Evelyn lieb sein konnte…
„Die Menschen brauchen so etwas: Mythen…“
Dieser „Tatort“ wartet mit gleich zwei Toten zu Beginn auf, wobei spannungsfördernd nicht gezeigt wird, wer den Professor erschlagen hat. Dass Evelyn Dreck am Stecken hat, wird indes schon früh deutlich, zumal auch ein Kumpel des nun toten Kriminellen Neugebauer nicht an dessen Täterschaft glaubt und die gemeinsame Ganovenehre beschwört. Haferkamps Telefonat mit dem Münchner Kommissar Veigl (Gustl Bayrhammer) beschert diesem den damals obligatorischen Gastauftritt, wirkt jedoch überflüssig und konstruiert – weshalb er schon recht früh abgefrühstückt wird. Überraschend schnell kommt es dann auch zur Gerichtsverhandlung, in der „Die Abrechnung“ Züge einer Gerichtsposse annimmt. Der geniale Anwalt Dr. Alexander liefert eine formidable Show und schafft es, Haferkamp als Spießer hinzustellen. Der Höhepunkt dieser Episode!
Jedoch ist nun erst die halbe Laufzeit um. Mit Angelas Verschwinden wächst dem bisherigen Fall ein Ableger. Kurze visualisierte Erinnerungsfetzen Angelas sorgen für einen Wissensvorsprung des Publikums gegenüber der Polizei, bei der der gute Kreutzer leider eine sehr untergeordnete Rolle einnimmt. Angelas Tod komplettiert den Bodycount und wird zum Anlass genommen, die damals minderjährige Irina Wanka splitterfasernackt in der Leichenhalle zu zeigen. Das würde man heutzutage so wohl nicht mehr machen, aus Gründen. Erneut darf Dr. Alexander antreten und eine entscheidende Rolle spielen, womit dieser „Tatort“ über eine Femme fatale und die Macht guter Advokat(inn)en zwar unwahrscheinlich überkonstruiert, letztlich aber eben auch rund, in sich schlüssig, endet und der Gerechtigkeit Genüge getan wird.
Da Hafi dabei diesmal eher eine Statistenrolle bekleidet, macht er mitunter ein in sehr distanzlosen Großaufnahmen eingefangenes langes Gesicht und philosophiert desillusioniert seiner Ex-Frau Ingrid (Karin Eickelbaum) gegenüber. Gute, sehr ansprechend besetzte, versiert gefilmte Krimiunterhaltung und vermutlich einer der erinnerungswürdigsten Essener Beiträge zur öffentlich-rechtlichen „Tatort“-Reihe.
„Glauben Sie, Sie sind der Erste, der dasteht, als hätt’ er sich in die Hose geschissen?!“
Nach den Fällen 3 und 4 des Essener „Tatort“-Kommissars Heinz Haferkamp (Hansjörg Felmy) und dessen Assistenten Willy Kreutzer (Willy Semmelrogge) griff man auf das bewährte Regie/Drehbuch-Duo Wolfgang Becker und Karl Heinz Willschrei zurück, das für die ersten beiden Essener Episoden verantwortlich zeichnete. Erstmals über bundesdeutsche Bildschirme flimmerte „Die Abrechnung“ am 8. Juni 1975.
„Scheiß reiche Weiber!“
Der vermögende Professor Stürznickel wird in seinem Zuhause erschlagen. Schwiegertochter Evelyn (Maria Schell, „Der Hexentöter von Blackmoor“) sagt aus, dass es ein Einbrecher gewesen sei, den sie im Affekt erschossen habe. Kommissar Haferkamp jedoch ist davon überzeugt, dass Evelyn die Täterin ist und den vermeintlichen Einbrecher, mit dem sie eine Affäre hatte, für ihre Zwecke als nützlichen Idioten ausgenutzt hat. Evelyn wird angeklagt, doch die Beweislage ist schwach. Der renommierte Anwalt Dr. Alexander (Romuald Pekny, „Das Wunder des Malachias“) erwirkt Evelyns Freispruch. Doch kurz darauf verschwindet Evelyns Stieftochter, die 14-jährige Angela (Irina Wanke, „Die Verdammten“), spurlos. Zuvor hatte sie ihren Erbanteil abgelehnt, weil sie mehr wusste, als Evelyn lieb sein konnte…
„Die Menschen brauchen so etwas: Mythen…“
Dieser „Tatort“ wartet mit gleich zwei Toten zu Beginn auf, wobei spannungsfördernd nicht gezeigt wird, wer den Professor erschlagen hat. Dass Evelyn Dreck am Stecken hat, wird indes schon früh deutlich, zumal auch ein Kumpel des nun toten Kriminellen Neugebauer nicht an dessen Täterschaft glaubt und die gemeinsame Ganovenehre beschwört. Haferkamps Telefonat mit dem Münchner Kommissar Veigl (Gustl Bayrhammer) beschert diesem den damals obligatorischen Gastauftritt, wirkt jedoch überflüssig und konstruiert – weshalb er schon recht früh abgefrühstückt wird. Überraschend schnell kommt es dann auch zur Gerichtsverhandlung, in der „Die Abrechnung“ Züge einer Gerichtsposse annimmt. Der geniale Anwalt Dr. Alexander liefert eine formidable Show und schafft es, Haferkamp als Spießer hinzustellen. Der Höhepunkt dieser Episode!
Jedoch ist nun erst die halbe Laufzeit um. Mit Angelas Verschwinden wächst dem bisherigen Fall ein Ableger. Kurze visualisierte Erinnerungsfetzen Angelas sorgen für einen Wissensvorsprung des Publikums gegenüber der Polizei, bei der der gute Kreutzer leider eine sehr untergeordnete Rolle einnimmt. Angelas Tod komplettiert den Bodycount und wird zum Anlass genommen, die damals minderjährige Irina Wanka splitterfasernackt in der Leichenhalle zu zeigen. Das würde man heutzutage so wohl nicht mehr machen, aus Gründen. Erneut darf Dr. Alexander antreten und eine entscheidende Rolle spielen, womit dieser „Tatort“ über eine Femme fatale und die Macht guter Advokat(inn)en zwar unwahrscheinlich überkonstruiert, letztlich aber eben auch rund, in sich schlüssig, endet und der Gerechtigkeit Genüge getan wird.
Da Hafi dabei diesmal eher eine Statistenrolle bekleidet, macht er mitunter ein in sehr distanzlosen Großaufnahmen eingefangenes langes Gesicht und philosophiert desillusioniert seiner Ex-Frau Ingrid (Karin Eickelbaum) gegenüber. Gute, sehr ansprechend besetzte, versiert gefilmte Krimiunterhaltung und vermutlich einer der erinnerungswürdigsten Essener Beiträge zur öffentlich-rechtlichen „Tatort“-Reihe.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt
Black Sabbath – The End of the End
Black Sabbath, jene Band, die einst den Heavy Metal erfand, ging von Januar 2016 bis Februar 2017 auf große Abschiedstournee – in Beinahe-Originalbesetzung, sprich: Tony Iommi, Ozzy Osbourne und Geezer Butler waren dabei, Drummer Bill Ward wurde durch den Jungspund Tommy Clufetos ersetzt. Mit dem Tournee-Abschlussgig am 4. Februar 2017 schloss sich der Kreis; Black Sabbath besiegelten das Ende der Band dort, wo alles begonnen hatte: in ihrem Heimatort Birmingham. Das Konzert in der ausverkauften, 16.000 Besucher(innen) Platz bietenden Genting-Arena wurde aufgezeichnet und auf Tonträger sowie DVD und Blu-ray veröffentlicht. Zugleich wurde dieser 95-minütige Konzertfilm vom erfahrenen Musikdoku-Regisseur Dick Carruthers („Heavy Metal – Louder Than Life“) entwickelt, der Konzertausschnitte mit Interviews und dokumentarischem Material sowie intimen Momenten vereint.
Bilder aus dem Birminghamer Stahlwerk unterlegen Texteinblendungen zur Band und bilden somit eine Assoziationskette von Stahlgießerei zur Komposition von Heavy-Metal-Musik. Das ist ebenso naheliegend wie etwas abgedroschen, einer Band wie Black Sabbath jedoch angemessen. Diese spielte ein Best-of-Set der klassischen Ozzy-Ära, das in Ausschnitten von atemberaubender Ton- und Bildqualität gezeigt wird. Wem die alten Platten möglicherweise zu muffig nach den 1970ern klingen oder wem sich das Material aus etwaigen anderen Gründen nie erschlossen hat, bekommt hier noch einmal seine Chance – die Wechselwirkung aus dem schweren Sound, der inkl. Ozzy topfitten Band auf der Bühne und den Reaktionen des Publikums machen Sabbath‘ Werk begreifbar.
Die Perfomance wird immer wieder von Interviews mit Ozzy, Tony und Geezer unterbrochen, die mal als Gruppe, mal allein Anekdoten zum Besten geben und ihre Erinnerungen mit den Zuschauerinnen und Zuschauern teilen. Alle Bandmitglieder wirken dabei bodenständig, humorvoll und sympathisch; nach fast 50-jähriger Karriere scheint niemand ein bestimmtes Image aufrechterhalten oder sich größer als das machen zu wollen, was ohnehin mehr als die Summe aller Teile ist: ihre stilprägende Musik.
Ein besonderes Bonbon ist das mitgeschnittene und in den Film eingeflochtene Treffen der Bandmitglieder im Proberaum zwei Tage nach dem Auftritt, bei dem sie in intimer Atmosphäre die selten gespielten Stücke „Wizard“, „Wicked World“ und „Changes“ interpretieren. Insbesondere letztgenannte Nummer dürfte auch dem härtesten Stahlkocher die eine oder andere Gänsehaut bereiten.
„Black Sabbath – The End of the End” ist eine fulminante Melange aus Konzert- und Dokumentarfilm, die das Zeug dazu hat, mit ihren festgehaltenen Eindrücken der De-facto-Bandauflösung eine ganze Reihe neuer Fans zu generieren. Denn das Werk der Band ist in Stein gemeißelt respektive in Stahl geschmiedet und steht als Monolith in der Musiklandschaft, an dem sich schon manch Sau gerieben hat, der jedoch unumstößlich ist.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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