bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Euer Filmtagebuch, Kommentare zu Filmen, Reviews

Moderator: jogiwan

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Aviator

„Finden Sie mir Wolken!“

Immer diese gescheiterten Existenzen der US-amerikanischen Gesellschaft und all die düsteren, negativen Seiten der USA, zuletzt ausgiebig in „Gangs of New York“ beleuchtet – wo bleiben eigentlich die Erfolgsgeschichten des American Dream in US-Ausnahmeregisseur Martin Scorseses Filmen? Dass Scorsese für eine solche ausgerechnet den durchgeknallten Howard Hughes auserkor, dem er mit der US-amerikanisch-deutschen Koproduktion „Aviator“ im Jahre 2004 ein Biopic widmete, entbehrt nicht einer gewissen Ironie (die Scorsese bewusst gewesen sein dürfte). Der erneut überlange Film wartet erneut mit Scorseses damals noch neuem Stammschauspieler Leonardo DiCaprio in der Hauptrolle auf, bedeutet an der Kamera jedoch eine erneute Rückkehr zu Robert Richardson, mit dem Scorsese bereits für „Casino“ und „Bringing Out the Dead – Nächte der Erinnerung“ zusammengearbeitet hatte.

„Ich hab' Witterung aufgenommen, jetzt bin ich nicht zu halten!“

Howard Hughes ist vieles: Sohn reicher Eltern, Vollwaise, Multimillionär, Filmregisseur und Produzent, Tüftler, Erfinder, Konstrukteur, Rekordpilot, Gründer einer Fluggesellschaft, Zwangsneurotiker, Frauenheld, Genie und Wahnsinniger. Mit Spezialgeräten zur Ölforderung war sein Vater steinreich geworden. Howard erbte das Familienvermögen, investierte in Unterhaltungsfilme und war besessen von der Idee, mit eigenen Konstruktionen und seinem Unternehmen TWA das US-Monopol der PanAm-Fluggesellschaft zu durchbrechen. Er hatte Ehen und Affären mit Hollywood-Darlings wie Jean Harlow (Gwen Stefani, „Zoolander“), Ava Gardner (Kate Beckinsale, „Pearl Harbor“) und Katharine Hepburn (Cate Blanchett, „Der talentierte Mr. Ripley“), die ihn trotz seines Hygienefimmels und Waschzwangs liebten. Sein psychischer Zustand wurde im Laufe der Jahre jedoch immer desolater…

„Wir sind nicht so wie all die anderen... Zu viel Exzentrisches, zu viele Ecken und Kanten.“

Unter Scorseses Regie beginnt alles mit Howard als kleinem jungen, der von seiner Mutter gebadet wird und währenddessen Buchstabieren mit ihr lernt. Unmittelbar darauf lässt Scorsese in wunderbar detailgetreu anmutenden Kulissen das alte Hollywood der späten Zwanzigerjahre wieder aufleben. Bei MGM macht man sich über Howards Ambitionen lustig und will ihm keine Kamera leihen. Seinen Film „Hell’s Angels“ dreht er trotzdem, denn Howard ist ebenso ehrgeizig wie durchsetzungsfähig, dabei auf Frauen offenbar charmant wirkend. „Hell’s Angels“ gerät zum teuersten Film der damaligen Zeit, denn die Produktion dauert ewig und verschlingt Unsummen – und wird kurzerhand wiederholt, weil statt Stumm- mittlerweile Tonfilm angesagt ist. Letztendlich werden vier Millionen Dollar investiert und drei Pilotenleben verschlissen. Doch Kosten spielen für den größenwahnsinnigen, filmverrückten Visionär keine Rolle und seine Empathie ist, sagen wir mal, eingeschränkt... Die Filmpremiere wird zum Großereignis und der Film zu einem vollen Erfolg. Dieser erste Teil Scorseses Films ist mit leichtfüßiger komödiantischer Note gedreht und charakterisiert Hughes bereits weitestgehend. Eine für „Hell’s Angels“ aufwändig gedrehte Flugsequenz nimmt dabei Howards zweite Leidenschaft bereits vorweg.

„Es ist zu viel Howard Hughes in Howard Hughes...“

Er will Flugzeuge für Interkontinentalflüge bauen und investiert seine Leidenschaft nun vornehmlich in diesem Bereich. Die ohne Punkt und Komma quatschende Schauspielerin Katherine Hepburn reißt er sich beim Golfspielen auf. Zugleich äußern sich seine Psychomacken zunehmend; so lässt er sich beim Essen die Erbsen abzählen und entwickelt eine ausgeprägte Paranoia vor gesundheitsschädlichen Keimen. An Politik hingegen ist er völlig desinteressiert. Die Charakterisierung ist damit vorangeschritten und im Prinzip abgeschlossen. Eine klassische Dramaturgie entwickelt Scorsese daraus – offenbar bewusst – nicht; vielmehr illustriert er Hughes‘ Schaffen, Wirken und Verhalten und lässt es für sich stehen, ohne es zu kommentieren oder zu beurteilen. Weitere Stationen sind eine Flugzeugentwicklung für die Armee, Zensurbemühungen gegen seinen „Tittenfilm“ „The Outlaw“ (inklusive einer irren Show vor dem Zensurkonsortium) und Hepburns Trennung von Hughes aufgrund ihrer Eifersucht auf andere Frauen, mit denen er sich in der Öffentlichkeit von der Klatschpresse ablichten lässt.

„Zeig mir alle Blaupausen, zeig mir alle Blaupausen, zeig mir alle Blaupausen...“

Und so ähnlich geht es dann eben noch lange Zeit weiter: Hughes nimmt die 15-jährige Faith Domergue (Kelli Garner, „Bully – Diese Kids schockten Amerika“) unter Vertrag, entwickelt einen schweren Waschzwang, befindet sich im Konkurrenzkampf unter Flugzeugbauunternehmen und gerät mit der Produktion in Verzug, ist schließlich Ava Gardners Liebhaber, woraufhin Faith eifersüchtig wird und es zu einer öffentlichen Szene kommt. All dies sind biographische Einträge, die sich bestimmt auch nachlesen lassen, wofür man sich also nicht unbedingt diesen Film anzusehen bräuchte. Aufstiegsgeschichte und Gossip. Wer von Hughes schon nach einer halben Stunde die Nase voll hat, könnte abwinken und abschalten. Dass dies die Wenigsten tun werden, ist das Verdient Scorseses und seines Ensembles, allen voran DiCaprios, der sich mit diesem Film aufs Method Acting verlegte wie wahrscheinlich nie zuvor. Wer also mehr von Hughes und/oder Leo sehen will, wird dranbleiben – und für seine Geduld mit dann doch überraschenden und spannenden Entwicklungen belohnt werden (sofern noch unvertraut mit Hughes‘ Vita): einem spektakulären Bruchlandungsstunt mit anschließendem Überlebenskampf des verbrannten und schwerstverletzten Hughes sowie ein völliges Versagen in Beziehungsfragen, als er Gardner belauscht, kontrolliert und überwacht, bis sie ihn wutentbrannt rausschmeißt. Damit nicht genug: Das FBI stellt seine Wohnung auf den Kopf und Senator Brewster (Alan Alda, „M*A*S*H“) legt sich mit ihm an, startet eine Verleumdungskampagne gegen ihn. In einer schweren Krise verwahrlost Hughes zusehends (DiCaprio zeigt sich in diesem Zuge nackt), zugleich wird sein Hygienefimmel wird immer pathologischer. „Aviator“ tut mittlerweile richtiggehend weh; eine Änderung des Tonfalls, die sich zunächst unbemerkt nach und nach eingeschlichen hat. Einer der Gründe für die Überlänge des Films.

„Du bist zu verrückt für mich!“

Durch ein Gerichtsverfahren bekommt „Aviator“ ein bisschen was von einem Justizfilm. Dann ist er aber bald tatsächlich vorbei und lässt vieles offen. Hughes wird nicht bis zu seinem Tod begleitet, der Film endet im Jahre 1947. Orts- und Zeiteinblendungen unterstützen bei der Orientierung, der Soundtrack mit jazziger Loungemusik ist dominant und omnipräsent, Scorseses und Richardson Umgang mit Farben und Licht lassen „Aviator“ oft künstlich, dadurch aber nicht weniger imposant aussehen. Die Handlung vermittelt Pionier- und Entdeckergeist, Kühnheit, Verbissenheit, denen Zwangsneurotiker Hughes ohne Rücksicht auf Verluste nachgeben zu müssen scheint, und zeichnet so ein ambivalentes Porträt eines ambivalenten Mannes, der eine ganze Menge auf Reihe bekam und Spuren hinterließ. Trotz oder wegen seiner pathologischen Verrücktheiten? Diese Frage scheint der Film zu stellen und offenzulassen.

„Wer sind diese Männer? Arbeiten die für mich?“

Scorsese näherte sich dem Mann und dem Phänomen Howard Hughes mit ebenso viel Respekt und zugleich Schonungslosigkeit, wie er es mit den Milieufiguren seiner älteren Filme tat. Es geht ihm sehr offensichtlich nicht um Heldenverklärung oder darum, jemand vermeintlich Missverstandenen zum Sympathieträger zu machen, sondern vielmehr um eine Zeitreise und die Verarbeitung eines US-amerikanischen Mythos, bei der er genauer hinschaut als andere. Apropos Held: Der heimliche ebensolche des Films ist Professor Fitz (Ian Holm, „Alien“), der, eigentlich ein Meteorologe, der Erste ist, der von Hughes abgeworben wird und fortan in dem ganzen Wahnsinn mit drinhängt. Mein Tipp: Sitzfleisch mitbringen und eintauchen in Howard Hughes‘ Welt, die wie so viele Filme Scorseses auch viel über die USA verrät. Und, weil’s in dieser Besprechung viel zu kurz kam: Für diejenigen, die sich für die Geschichte der Fliegerei interessieren, dürfte „Aviator“ Pflichtprogramm sein. Um es mit Hughes zu sagen: „Der Weg in die Zukunft, der Weg in die Zukunft, der Weg in die Zukunft...“
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Ein Sommer der wilden Liebe

„Hier ist doch jeder in jeden verliebt!“

Der zweite von nur zwei Spielfilmen des Kanadiers John Sone heißt im Original „Loving and Laughing“, bekam vom deutschen Verleih den reißerischen Blödsinnstitel „Blutjunge Nymphomaninnen“ verpasst und lautet in meiner DVD-Ausgabe weniger irreführend „Ein Sommer der wilden Liebe“. Die Erotikkomödie aus dem Jahre 1971 ist, um das vorwegzunehmen, ebenso nudistisch wie harmlos.

Reggie (Gordon Fisher), ein junger Mann aus besseren Kreisen, soll Belinda Harrison (Susan Petrie, „Parasiten-Mörder“), der Tochter einer befreundeten Familie, in den Sommerferien in Vermont Französisch beibringen. Auf dem Weg dorthin reißt ihm jedoch der Keilriemen seines Autos. Er lässt sich daraufhin von einer Gruppe Hippies in deren bunten Auto mitnehmen. Diese befindet sich gerade auf der Flucht vor den Bullen, die erfolgreich verläuft. Anschließend geht’s nach einem gemeinsamen Nacktbad in die Hippiekommune auf einer Farm. Hippie Lucien (André Lawrence, „Thibaud, der weiße Ritter“), Teil der Kommune, wird wegen Drogenvergehen polizeilich gesucht. Kurzerhand wird er rasiert, vornehm angezogen und anstelle Reggies zu Belinda und ihrer Familie geschickt, wo er sich als ihr Französischlehrer ausgibt…

Sone wendet einige Zeit auf, den Hippie-Lifestyle, der neben solidarischem Miteinander in erster Linie aus natürlicher Nacktheit und freier Liebe zu bestehen scheint, zu skizzieren. Beim Einkaufen verzichtet man auf die Benutzung von Umkleidekabinen und der anfänglich noch ein wenig fremdelnde Reggie lässt sich nacktzeichnen (wobei ihn die Kamera aber nur bis zum Bauchnabel einfängt). Nach dem Identitätstausch changiert der Film fortwährend zwischen beiden Handlungsorten. Mutter Harrison (Mignon Elkins, „Geliebte Lügen“) ist sogleich hin und weg von Lucien und möchte Sex mit ihm. Hippie Dora ist aus unerfindlichen Gründen scharf auf Reggies Füße (?!), Hausmädchen Diane (sehr sexy: Céline Lomez, „Après-ski“) verführt Lucien, während Reggie sich mit einer Blondine näherkommt. Beides wird parallel montiert in relativ anregend gefilmten Softsexszenen gezeigt. Joan Harrison (Julie Wildman, „Das Mädchen am Ende der Straße“), die ältere Tochter, will nun auch etwas von Lucien und so weiter und so fort.

Doch noch etwas darüberhinausgehende Handlung wird einem geboten, wenn ein betrunkener Richter das Hippiemobil in einen Unfall verwickelt, aber die Hippies anstelle seiner verhaftet werden. Dies bleibt jedoch der einzige Anflug von Sozialkritik. In der Zelle zieht man sich (natürlich) aus und macht miteinander herum, bis man herausgeworfen wird. Lucien vernascht derweil auch Belinda und mischt den Gästen einer spießigen Hausparty zusammen mit Diane Marihuana ins Essen. Im Zuge einer Duschszene bekommt nun doch auch Reggies bestes Stück zu sehen. Ein paar Gesangseinlagen verstärkten den Eindruck naiver Lebensfreude, die den eher rar gesäten Humor des Films überlagert. Von Eifersucht oder dergleichen ist weit und breit keine Spur. „Ein Sommer der wilden Liebe“ ist ein nettes, ok geschauspielertes und inszeniertes Märchen für eine heteronormative männliche Zielgruppe, das gnadenlos von der Zeit eingeholt und von der Pornografiewelle überrannt wurde, kann für End-‘60er/Früh-‘70er-Hippieploitation-Nostalgiker aber vielleicht genau davon eskapistisch ablenken.

Die deutschen Heimkinofassungen sind leider um rund zehn Minuten gekürzt; was genau einem da vorenthalten wird, weiß ich nicht.
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Melody of Passion

„Was machen die denn da drin?“ – „Ich fürchte, nichts Anständiges...“

Der letzte oder vorletzte Film des gebürtigen Tschechen Hubert Frank („Vanessa“) ist die deutsch-spanische Direct-to-Video-Erotik-Koproduktion „Melody of Passion“ aus dem Jahre 1986.

Die junge, attraktive Münchnerin Betty (Sonja Martin, „Eis am Stiel, 4. Teil – Hasenjagd“) erbt von ihrer Tante das Schloss „Casa del Flores“ auf Mallorca. Zusammen mit ihrem Freund Philipp möchte sie auf die Balearen-Insel reisen, um ihr Erbe zu begutachten, doch der Student lehnt ab. Kurzerhand sucht sie das Schloss allein auf – und sieht sich damit konfrontiert, dass der Testamentsvollstrecker sich die Immobilie unter den Nagel reißen will, da er es zusammen mit seiner Angestellten Antonia als konspiratives Luxusbordell nutzt…

Ein fröhlicher Pop-Schlager unterlegt den Vorspann, auf den hin Erotik-Aktrice Sonja Martin direkt ihre erste Nacktszene hat, als sie mit Philipp in ihre Wohnung zurückkehrt. Das Vorspiel der beiden wird jäh vom Postboten unterbrochen, der das mallorquinische Einschreiben mit der frohen Erbschaftskunde überbringt. Auf Mallorca platzt derweil eine Touristenführung in ein Erotik-Fotoshooting. Die Kamera zoomt ultranah auf üppige weibliche Brüste und es wird klar: Subtilität ist Hubert Franks Metier hier nicht. Nachdem Betty auf der Insel gelandet ist, präsentiert „Melody of Passion“ verschiedene Fummelszenen anderer Pärchen, u.a. des Testamentsvollstreckers, der seine sexy Antonia begrabscht. Ihn lernt Betty beim Eisessen kennen, wo er ihr gegenüber das Schloss, das sogar über Personal verfügt, schlechtredet.

Relativ unmotiviert erscheinen ein plötzlicher Überfall auf das Café und Actionszenen mit Autostunts. Betty landet auf der Polizeiwache, erlaubt sich aber einen Scherz mit den Polizisten und flieht – natürlich nackt. Per Anhalter fährt sie zum Schloss, in dem es spuken soll. Frank inszeniert ihre abendliche Ankunft bei Gewitter tatsächlich wie in einem Gruselfilm. Ein spanisches Pärchen sucht dort Unterkunft, Carmen – so der Name der Dame – zeigt sich dabei oben ohne. Völlig zusammenhanglos wirkt die plötzlich zwischengeschobene Szene, in der eine Frau vor einem älteren Herrn strippt und sich auf dem Teppich räkelt. Es stellt sich heraus, dass das spanische Pärchen dort zu leben scheint. Weshalb sich der Mann zu Betty ins Bett legt, bleibt unklar. All diese Absonderlichkeiten sollen einen nach und nach darauf stoßen, dass das Schloss als Bordell fungiert, doch auch mit dem Wissen darüber wirkt das Verhalten der Figuren reichlich schräg. Ein ganz anders Pärchen will nun plötzlich Juwelen aus dem Schloss stehlen und irgendwann lässt sich ein älterer Herr von zwei Damen verwöhnen. Soll das eventuell der Spuk sein, von dem der Testamentsvollstrecker sprach…?

Innerhalb dieser eigenartig sprunghaften Handlung wird kaum etwas weiterverfolgt oder gar auserzählt, die einzelnen Versatzstücke werden mehr schlecht als recht zusammengefügt. Nach und nach wird Betty aus dem Mittelpunkt des Films gedrängt, der damit komplett seinen Fokus verliert. Zwar sieht „Melody of Passion“ schön nach sonnigen Mittachtzigern aus und mutet seinem Publikum durch jeglichen Verzicht auf Sprachbarrieren, Anspruch, Tiefgang oder tatsächlich freche oder provokante Szenen, die außerhalb Prüdistans als solche empfunden werden könnten, wahrlich nicht zu viel zu, ist gerade deshalb aber vor allem eines: strunzlangweilige, dilettantisch inszenierte und geschnittene Hochglanz-„Erotik“ zum Abgewöhnen.
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Trainer!

Nach seinem Film „Tom Meets Zizou – Kein Sommermärchen“ aus dem Jahre 2011 über den Fußballer Thomas Broich drehte der deutsche Dokumentarfilmer Aljoscha Pause den mit 138 Minuten Laufzeit mehr als abendfüllenden Film „Trainer!“, für den er mehrere deutsche Profi-Fußballtrainer durch die Saison 2012/2023 begleitete. „Trainer!“ hatte zunächst, am 3. Juni 2013, eine TV-Premiere in einer gekürzten Fassung. Erst eine Woche später wurde die vollständige Fassung in Kinos gezeigt.

Im Fokus stehen die beiden damaligen Zweitligatrainer André Schubert (FC St. Pauli) und Stephan Schmidt (SC Paderborn) sowie Drittligatrainer Frank Schmidt (SC Heidenheim), angereichert mit Statements von Kollegen wie Jürgen Klopp, Thomas Schaaf, Hans Meyer, Michael Oenning und Peter Neururer sowie DFB-Fußballlehrer-Ausbildungsleiter Frank Wormuth. Während Frank Schmidt am Ende der Saison den Aufstieg in die zweite Liga knapp verpasst haben wird, verlieren André Schubert und Stephan Schmidt ihre Anstellung im Laufe der Saison. Aljoscha Pause ist in der Kabine und auf dem Platz dabei, fährt Auto mit den Trainern, besucht sie zu Hause und folgt Schubert zu einem Trainer-Vermittler. Derart nah war selten (bis nie) jemand an den Trainern dran, die hier auskunftsfreudig und bemerkenswert offen Rede und Antwort stehen zu Themen wie Mannschaftsaufbau und -führung und dem enormen Erfolgsdruck, der von Medien, Vorständen und natürlich Fans ausgeübt wird. Dadurch wird deutlich, dass bei Weitem nicht jeder für einen solchen Job, bei dem man permanent unter den Augen der Öffentlichkeit agiert und be- bis verurteilt wird, geschaffen ist. Wie es dem Film gelingt, dies zu vermitteln, ist ein dickes Pfund.

Funktionäre der Vereine werden ebenso in den Film einbezogen wie einzelne Spieler. Unter letzten am prägnantesten ist sicherlich der kurdischstämmige Deniz Naki, der vom FC St. Pauli zum SC Paderborn wechselte. Während er an Schubert harsche Kritik übt, reagiert er mit Unverständnis auf Stephan Schmidt Entlassung zwei Spiele vor Saisonende. Dass „Straßenkicker“ Naki redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, ist mindestens genauso erfrischend wie die Dokumentation des scheinbaren Widerspruchs zwischen der durchdachten Kontrolle Frank Schmidts über die Mannschaft und den Emotionsausbrüchen, die er zeigt, sobald er seine Jungs von der Leine lassen und vom Spielfeldrand zugucken muss, wie sie seine Taktik umzusetzen versuchen. Hierfür wurde Schmidt entsprechend verkabelt, sodass man zu hören bekommt, was man sonst höchstens sieht.

Pause selbst verzichtet auf jeglichen Kommentar, er lässt seine Protagonisten und die großartig eingefangenen Bilder für sich sprechen. Was entfällt, sind tiefergehende Einblicke ins Training an sich sowie detailliertere strategische und taktische Überlegungen, die zur täglichen Arbeit eines Trainers gehören. Möglicherweise wollte man sich diesbezüglich dann doch nicht zu tief in die Karten schauen lassen. Hat man sich aber erst einmal auf den Film und sein Erzähltempo eingegroovt und ein Gespür für die porträtierten Trainer entwickelt, gerät „Trainer!“ zu einer ebenso spannenden wie erkenntnisreichen Angelegenheit nicht nur für Fußballfans. Und diese wird aus heutiger Sicht zusätzlich dadurch aufgewertet, dass der Heidenheimer Frank Schmidt mittlerweile seinen Verein nicht nur in die zweite, sondern sogar in die erste Bundesliga geführt hat – ist diese Erfolgsgeschichte doch ein Beweis dafür, dass es sich durchaus lohnen kann, lange an einem Trainer festzuhalten und als Verein verlässliche, klare Strukturen zu entwickeln und bereitzustellen.
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Tatort: Gegenspieler

„Ich werde Sie jetzt erschießen!“

Ohne viel Tamtam nahm Helmut Fischer mit diesem „Tatort“ aus dem Jahre 1987 – seinem siebten als Kriminalhauptkommissar Lenz – seinen Hut und verabschiedete sich aus der öffentlich-rechtlichen Krimireihe. Wie der vorausgegangene Fall „Die Macht des Schicksals“ wurde auch „Gegenspieler“ nach einem Drehbuch Ulf Miehes und Klaus Richters vom gebürtigen Salzburger Reinhard Schwabenitzky („Ein echter Wiener geht nicht unter“) inszeniert. Die Erstausstrahlung erfolgte am 13. September 1987.

„Ein sogenannter perfekter Mord!“

Der arbeitslose Jürgen Koch (Horst Kummeth, „Hans im Glück“) stiehlt seiner Freundin, der eine Gastwirtschaft betreibenden Elli Reisinger (Elfi Eschke, „Büro, Büro“), eine stattliche Summe aus der Kasse, um es beim Pokern im von seinem Bekannten Dieter Wenig (Max Tidof, „Loft“) betriebenen illegalen Spielclub zu vermehren – schließlich träumt er von der gemeinsamen Eröffnung eines Ristorante. Gegen den gut bluffenden Pokerprofi Hans Werner Hartung (Karl Michael Vogler, „Frau Wirtin hat auch eine Nichte“) hat er jedoch keine Chance und verzockt die gesamte Summe. Um diese wiederzubeschaffen, nimmt er Wenigs Tipp an, einen Autohändler zu überfallen. Mit diesem kommt es zu einem Schusswechsel, doch Jürgen hat das Geld des lediglich von einem Streifschuss verletzten Händlers – satte 28.000 DM. Dann kommt jedoch alles ganz anders, denn es gibt einen heimlichen Mitwisser – und plötzlich sieht sich Jürgen von der Polizei mit Raubmordvorwürfen konfrontiert: In Grünwald wurde der alte Wehrmachtsoberst a.D. von Bredow (Richard Lauffen, „Der Tiger von Eschnapur“) erschossen und um 30.000 DM erleichtert. Und der Täter floh mit Jürgens Wagen. Jürgen verstrickt sich in Widersprüche und befindet sich nun in der absurden Situation, beweisen zu müssen, den Autohändler statt von Bredow überfallen zu haben…

Direkt zu Beginn wird der „Kriminal-Tango“ Piero Trombettas und Kurt Feltz‘ prominent in Ellis Gastwirtschaft auf der Tonspur platziert. Die Elli Reisinger spielende Elfi Eschke kennt man bereits aus „Die Macht des Schicksals“; Regisseur Schwabenitzky, der sie bereits von seinen „Büro, Büro“-Dreharbeiten gekannte hatte, schien direkt noch einmal mit ihr drehen zu wollen – was man ihm nur schwerlich verübeln kann. Die Pokerpartie mit vorhersehbarem Ausgang findet in klassischer Hinterzimmer-Atmosphäre statt und nach der realistisch anmutenden Inszenierung des ein wenig unbeholfenen Überfalls durch Jürgen macht die Handlung keinen Hehl aus der Identität des zweiten, wesentlich verschlageneren und professioneller vorgehenden Täters. Kein Whodunit? also, woraus ein enormer Wissensvorsprung des Publikums gegenüber der Polizei resultiert, doch erscheint der Täter ebenso rätselhaft wie größere Teile seines Motivs – dieses geht nämlich übers Monetäre hinaus.

Daraus bezieht Lenz‘ Schwanengesang seine Spannung, entspinnt sich doch eine relativ komplexe, aber stets nachvollziehbar und leichtfüßig inszenierte Geschichte um Beziehungskisten, Abhängigkeitsverhältnisse und bis in Kriegszeiten zurückliegende Ereignisse. Und stets schwingt die Frage mit, wie Jürgen aus dieser Sache, die ihm eindeutig ein paar Nummern zu groß ist, wieder herauskommt, zumal die Polizei lange an dessen – wahrheitsgetreuer – Darstellung zweifelt. In diesem Zuge offenbart sich zudem ein Klassengegensatz, auch ohne, dass gleich ein sozialdramatischer Krimi daraus würde. Arbeit und Alltag der Mordkommission sind hingegen wie gewohnt mit sympathischem, eher dezentem Humor inszeniert, wenngleich auch der Zeitgeist Einzug hält: Als eine Art Running Gag zieht sich durch den Fall, dass Lenz Algenkekse isst, weil diese gegen die Strahlung aus dem Tschernobyl-Super-GAU helfen sollen. Neben Lenz und Schneider (Georg Einerdinger) Dritte im Bunde ist nun Kriminalassistentin Susanne Kern (Ursula Wolff, „Büro, Büro“), die bereits in „Die Macht des Schicksals“ ihren Einstand feierte (und offenbar ebenfalls auf Empfehlung Schwabenitzkys kam), hier aber wesentlich mehr zu tun bekommt und tatkräftig mit anpackt, indem sie den flüchtigen Jürgen festnimmt. In weiteren Rollen finden sich Ellen Frank, Johanna von Koczian und Ellen Umlauf. Und das Ambiente? Viel bayrische Idylle – man kann es nicht anders sagen. Auch das macht die Lenz-„Tatorte“ ja ein gutes Stück weit mit aus.

Schade, dass sie mit „Gegenspieler“ enden, zumal hier nichts auf das Ende dieses „Tatorts“-Asts hindeutet. Der Helmut-Fischer-Fanclub Hamburg-Altona bedauert dies ausdrücklich, hat aber bereits die nächsten Serien mit dem guten Mann auf dem Zettel…
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Wonder Woman

„Lass nie deine Deckung fallen!“

Was sich in „Suicide Squad“ mit der Figur Harley Quinn bereits angedeutet hatte, wurde mit „Wonder Woman“ Kino-Realität: Erstmals stand in einem Film des DC Extended Universe ein weiblicher Charakter im Mittelpunkt. Und konsequenterweise führte nun auch eine Frau Regie: US-Regisseurin Patty Jenkins („Monster“) inszenierte den US-amerikanisch-chinesisch koproduzierten, im Mai 2017 veröffentlichten und rund 140-minütigen Film über die DC-Amazone, die in Comicform erstmals im Jahre 1941 in die Augen und Seelen ihrer jungen Leserinnen und Leser zurückschaute. Nach einem TV-Film und einer Fernsehserie aus den 1970ern (und ihrem Auftritt in „Batman v Superman: Dawn of Justice“) war es tatsächlich die erste Wonder-Woman-Kino-Verfilmung. Und eine überaus erfolgreiche dazu.

„Ein Kampf wird niemals gerecht sein!“

Das Volk der Amazonen lebt unter Königin Hippolytas (Connie Nielsen, „Nymphomaniac“) und deren Schwester Antiopes (Robin Wright, „Verblendung“) Herrschaft auf einer paradiesischen Insel und trainiert für den Kampf gegen ihren Erzfeind Kriegsgott Ares. Als während des Ersten Weltkriegs der britische Kampfpilot Steve Trevor (Chris Pine, „Star Trek: Beyond“) auf der Insel bruchlandet, berichtet er den Amazonen vom Krieg. Hippolytas Tochter Diana (Gal Gadot, „Das Jerico Projekt“) hält daraufhin Ares für verantwortlich und beginnt ihre Suche nach ihm in London. Mit der Zeit muss sie lernen, dass möglicherweise weniger Kriegsgott Ares als vielmehr Menschen wie General Ludendorff (Danny Huston, „Aviator“) und Wissenschaftlerin Isabel „Dr. Poison“ Maru (Elena Anaya, „Fragile – A Ghost Story“) an diesem bestialischen Krieg interessiert sind…

„Würdest du sagen, dass du ein typisches Exemplar deines Geschlechts bist?“

Zu Beginn erklärt sich Diana aus dem Off. Sie sieht ein altes Schwarzweißfoto und erinnert sich, was eine ausgedehnte Rückblende einleitet. Diese beginnt in ihrer Kindheit. Sie will unbedingt zur Kämpferin ausgebildet werden, aber ihre Mutter ist dagegen. In leicht animierten Gemälden wird ein Märchen von der Schöpfung und von der Geschichte der Amazonen visualisiert, das ihre Mutter ihr vorliest. Als Jugendliche sehen wir Diana trainieren und bald ist sie eine junge Erwachsene. Auf diese Weise steht ihre Origin-Story ganz klassisch am Anfang des Films. Mit der Rettung des Bruchpiloten Steve beginnt jene Zeitebene der Handlung, die den Großteil des Films ausmacht.

„Dieser Krieg ist ein riesengroßer Mist!“

Die erste Schlacht lässt dann auch nicht lange auf sich warten: Amazonen versus Deutsche mit Gewehren. Das ist sehr unblutig, Actionkino-typisch durchchoreographiert und mit die Athletik betonenden Zeitlupen überästhetisiert – familientauglich eben. Dianas Ausflug nach London ist (nicht nur) durch Culture-Clash-Humor relativ stark komödiantisch geprägt. In der zweiten Hälfte entwickelt sich eine Romanze zwischen Diana und Steve und der Film wird wesentlich ruhiger. „Wonder Woman“ folgt also ganz der aktuellen Blockbuster-Formel, indem er ästhetisierte Action mit Humor und Romantik mischt. Und aufgrund des Superheldinnen-Sujets kommt eben ein Fantasy-Anteil hinzu. Man könnte gut und gern behaupten, der Film sei eine Mischung aus One-Man-Army-US-Action-Quatsch, DC-Fantasy-Trubel, Komödie, Liebes- und Historienfilm sowie griechischer Mythologie.

„Frieden ist nur eine Waffenruhe in einem endlosen Krieg!“

Damit würde man Jenkins‘ Film aber nicht ganz gerecht, denn dieser gewinnt durchaus ein wenig Tiefgang, wenn Diana die Logik des Krieges erst verstehen lernen muss und an der menschlichen Natur verzweifelt. Zudem ist an den meisten Punkten, die ich soeben aufgezählt habe, ja im Prinzip erst einmal nichts auszusetzen. Wie ihr Spitzname bereits erahnen lässt, ist „Dr. Poison“ eine beunruhigend irre Giftmischerin, und General Ludendorff ist für Diana gleich Kriegsgott Ares. Dass es darüber hinaus auch einen mythologischen Ares gibt, der hier plötzlich in Erscheinung tritt, ist eine gelungene Wendung und Überraschung, die zu nicht weniger als einem Götterduell im Finale führt. In der Handlung lässt sich unschwer Wonder Womans Vita aus den Comics wiedererkennen, wenngleich einige Änderungen vorgenommen wurden – am auffälligsten wohl jene, aus dem Zweiten Weltkrieg den ersten zu machen. Wer mit den Comics vertraut ist, dürfte die eine oder andere Anspielung finden. Die sportliche Gal Gadot ist hübsch anzuschauen und wurde in ein schniekes Kostüm gesteckt, ohne dass sie von einer sonderlich voyeuristischen Kamera verfolgt werden würde.

Den feministischen Aspekt sollte man jedoch nicht überbewerten, der ist hier kaum wesentlich ausgereifter als in den antiquarischen Comics. Die Spezialeffekte kommen aus dem Computer und sind allein schon deshalb wenig charmant. Bombast und Pathos sollen für Atmosphäre und das Ende für Epik sorgen, während der Epilog den Kreis zum Prolog schließt. So richtig durchdringend und konsequent funktioniert das nicht, denn dafür ist’s dann doch zu – man ahnte es bereits – kitschig geraten. Dennoch ist „Wonder Woman“ ein gar nicht schlechter Unterhaltungsfilm, der im Rahmen der Marvel-/DC-Superhelden-Blockbuster-Welle die gute alte, aus der Comicwelt nicht wegzudenkende Wonder Woman Diana angemessen porträtiert. Die Chance, das maskulin geprägte Superhelden-Mainstream-Kino zu revolutionieren, ließ man aber ungenutzt verstreichen.
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Die wilden Hühner

„Wie viele Jahre kann man Sauerkraut eigentlich tiefkühlen?“

Mit „Die wilden Hühner“ schaffte es Cornelia Funkes deutsche Kinder-/Jugendbuchreihe im Jahre 2006 erstmals ins Kino. Die Bücher sind mir zwar nur namentlich bekannt; da es aber lange Zeit kaum entsprechende Literatur für Mädchen gab, scheint Funke eine klaffende Lücke zu schließen begonnen zu haben. Die nach einem Drehbuch Güzin Kars und Uschi Reichs von Vivian Naefe („Pizza-Express“) inszenierte Verfilmung scheint vornehmlich das dritte Buch „Fuchsalarm“ nachzuerzählen, mit teils etwas umgeschriebenen Versatzstücken aus Band 1 und 2.

„Das mit der Liebe ist schon eine komische Sache...“

„Die wilden Hühner“ sind eine aus zunächst vier Fünftklässlerinnen, namentlich Sprotte (Michelle von Treuberg, „Speer und Er“), Melanie (Paula Riemann, „Störtebeker“), Trude (Zsá Zsá Inci, „Der Lehrer“) und Frieda (Lucie Hollmann, „Mein Freund aus Faro“), bestehende Mädchenbande, die mit der Jungsbande, den „Pygmäen“, bestehend aus Anführer Fred (Jeremy Mockridge, „Die Liebe hat das letzte Wort“) sowie Torte (Martin Kurz, „Hui Buh – Das Schlossgespenst“), Steve (Philip Wiegratz, „Charlie und die Schokoladenfabrik“) und Willi (Vincent Redetzki, „Sommer vorm Balkon“), verfeindet ist. Als die Mädchen Wind davon bekommen, dass Charlottes Oma (Doris Schade, „Nichts als die Wahrheit“) ihre Hühner, die immerhin für den Namen der Bande Patinnen standen, zu schlachten gedenkt, suchen sie verzweifelt nach einer Möglichkeit, diese Barbarei abzuwenden. Notgedrungen wird sogar eine Zusammenarbeit mit den „Pygmäen“ erforderlich…

„Du bist auch alt und zäh!“

Charlotte ist die Hauptfigur des Films und fungiert auch als Off-Erzählerin. Zu Beginn stellt sie ihre Hühner vor. Als sie voller Entsetzen von den Plänen ihrer Oma erfährt, arrangiert sie eine Telefonkette, die im Splitscreen-Verfahren dargestellt wird. Mit wie Fotos umrandeten Standbildern und beschreibenden Texteinblendungen werden ihre Bandenmitglieder nacheinander vorgestellt und der Eindruck einer zusammenhaltenden Clique, die bei Alarm sofort zusammenfindet, vermittelt. Bei der Suche nach Möglichkeiten, die Hühner zu retten, spielen Jungs erst einmal keine Rolle – und auch sonst nicht. Man erfährt aber, dass die Mädels teilweise schon erste mehr oder weniger amouröse Jungsgeschichten am Laufen hatten.

„Ein Lehrer kommt bei uns nicht in die Wohnung!“

Als der Bandenkrieg mit den „Pygmäen“ thematisiert wird, werden auch deren Mitglieder einzeln vorgestellt. Regisseurin Naefe arbeitet mit Rückblenden, sobald Charlotte in Erinnerungen an Situationen mit den Hühner schwelgt. Und während der Einrichtung des neuen Bandenunterschlupfs ertönt ein Song über „Die wilden Hühner“. Diese werden um eine fünftes Mitglied erweitert, als Wilma (Jette Hering) auf die Bande stößt und als Spionin aufgenommen wird. Mit den „Pygmäen“, die über ein opulentes Baumhaus verfügen, muss nach dem ersten Hühnerrettungsversuch schweren Herzens zusammengearbeitet werden. Doch auch die „Pygmäen“ befinden sich in einer Notsituation: Der Wald und damit auch ihr Baumhaus sollen plattgemacht werden.

Tier- und Naturrettung als Abenteuer für Kinder also – welch schöner Aufhänger! Doch die Handlung belässt es nicht dabei, sondern beackert noch weitere Themen, die in die Familien der Kinder hineinreichen. Funke respektive Naefe ist offenbar daran gelegen, die Realität mit Patchwork-Familien u.ä. abzubilden, statt eine idealisierte heile Welt zu kreieren. Damit einher geht aber auch, dass die Erwachsenenwelt nur selten sympathisch erscheint, die Kinderbanden somit zu Zufluchtsorten werden. Am härtesten trifft es wohl Willi, der von seinem Vater (Axel Prahl, Münsteraner „Tatort“) regelmäßig verprügelt wird. Der Film gerät dadurch dramatischer und gewinnt in mehrerer Hinsicht dazu.

Nicht alle Konflikte werden am Ende aufgelöst, das müssen sie auch nicht – jedoch behagt es mir überhaupt nicht, wie Willis Familiensituation einfach so stehengelassen wird, immerhin hat sich diese im Laufe der Zeit als interessantester Aspekt der Handlung herauskristallisiert. Das erscheint mir weder dramaturgisch noch pädagogisch klug. Veronica Ferres („Lateshow“) als unter Liebeskummer leidende Mutter Charlottes verkörpert ihre Rolle zudem nicht sonderlich glaubwürdig. Ansonsten ist der Film aber ausgesprochen nett gemacht, von den Jungmiminnen und -mimen meist souverän gespielt, und am Ende wartet man sogar noch mit einer kleinen Referenz an den Klassiker „Lotta aus der Krachmacherstraße“ auf.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Tatort: Spuk aus der Eiszeit

„Frau Nicolay ist tot.“ – „Na endlich…“

Die titelgebende „Eiszeit“ ist allegorisch zu verstehen, gemeint ist der Kalte Krieg. Im seinem achten „Tatort“ wird der Hamburger Kriminalkommissar Paul Stoever (Manfred Krug) trotz des Tauwetters zwischen den Blöcken mit dessen Auswirkungen konfrontiert, ihm zur Seite steht wie gewohnt Kollege Peter Brockmöller (Charles Brauer) in seinem fünften Fall. Das Drehbuch verfasste Erich Loest, der es autobiographisch prägte: Wie Filmfigur Hartmut Menkhaus saß auch Loest mehrere Jahre in einem DDR-Gefängnis ein. Der slowakische Regisseur Stanislav Barabáš inszenierte seinen zweiten von insgesamt vier Beiträgen zur öffentlich-rechtlichen Krimireihe, der am 10. Juli 1988 erstausgestrahlt wurde.

„Wir haben Zeit!“

Hartmut Menkhaus (Leo Bardischewski, „Wodzeck“) war einst in die DDR verschleppt worden und saß wegen Spionage elf Jahre in Bautzen ein. An den Hamburger Landungsbrücken erkennt er urplötzlich einen seiner Entführer wieder: Es ist Martin Scholko (Wolf-Dietrich Berg, „Paule Pauländer“), der seinerzeit mit Astrid Nicolay (Krista Stadler, „Wallenstein“) zusammengearbeitet hatte. Den Namen kennt Menkhaus jedoch noch nicht, weshalb er Nicolay aufsucht und ihn herauszufinden versucht. Sie schweigt, erfährt dadurch aber, dass Scholko wieder aufgetaucht ist. Von ihrem ehemaligen gemeinsamen Chef, dem Spediteur Peter Kurbis (Siegfried Wischnewsk, „Die Nibelungen“), versucht sie anhand eines verräterischen Lieferscheins Schweigegeld zu erpressen – und wird einen Tag später tot aufgefunden, in ihrer Wohnung erwürgt. Die Kommissare Stoever und Brockmöller nehmen die Ermittlungen auf und sehen sich nicht nur mit mehreren Verdächtigen, sondern auch mit einem dunklen Kapitel deutsch-deutscher Beziehungen konfrontiert…

Der an den Landungsbrücken spielende, mit effektiver Spannungsmusik unterlegte Auftakt macht Lust auf diesen „Tatort“, zumal sich einem nicht sofort erschließt, was es mit Menkhaus und dem auf einem Motorrad vor ihm fliehenden Scholko auf sich hat. Dass es um eine Entführung geht, geht aus Menkhaus‘ Besuch bei Nicolay hervor, der etwas bizarr anmutet, da ein sexuelles Verhältnis angedeutet wird, Menkhaus sie aber der Mittäterschaft bezichtigt und beleidigt. Man erfährt nun von Menkhaus‘ elfjährigem Knastaufenthalt und lernt Nicolay anschließend als gewiefte Erpresserin kennen, die jedoch mit dem Feuer spielt. Die Handlung verlagert sich nach Neustadt in Holstein, wo Scholko angetroffen und damit von nun an größerer Teil der Handlung wird. Was genau damals los war, bleibt noch undurchsichtig. Vorläufiger dramaturgischer Höhepunkt ist Scholkos Besuch bei Nicolay, der sie schlägt und würgt, die am Ende der Szene aber noch lebt.

Schade, dass diese kriminologisch und auch psychologisch interessante Figur derart früh aus der Handlung herausgemordet wird; nach ihrem Tod stellt sich die Frage nach dem Täter, allen voran natürlich den Kommissaren, die nun in die Handlung eingreifen. Und die damit leider verflacht. Eine Nachbarin erzählt den Kommissaren von einer alten DDR-Spionagesache und im Verhör Menkhaus‘ wird dann auch alles aufgedröselt. Fortan bestimmen langatmige Dialoge noch und nöcher diesen Fall, der aber immerhin sein Whodunit? bis zum Schluss konsequent beibehält, ansonsten aber fast nur noch bei den Kostümen punktet: Ermittler „Meier 2“ (Lutz Reichert) im „Miami Vice“-T-Shirt und die Kripo-Assistentin in schönen ‘80er-Jahre-Kleidern. Bardischewski spielt Menkhaus zudem ziemlich gut und sympathisch. Tatsächlich steckt dieser „Tatort“ zumindest noch so tief im Kalten Krieg, dass er einen Spion recht einseitig als Sympathieträger präsentiert, da er schließlich für die richtige Seite tätig gewesen sei – wenngleich dies auch nie konkret ausgesprochen wird (vielleicht eben gerade, weil es schlicht vorausgesetzt wird). Der traurige, nachdenkliche Epilog rundet diese durchschnittliche Episode ab.
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Green Room

„Es gibt eine Tote!“ – „Trotzdem müssen die Bücher stimmen.“

Der dritte Spielfilm des US-amerikanischen Regisseurs und Drehbuchautors Jeremy Saulnier („Blue Ruin“) ist der erneut für ein Genre-Publikum gedrehte Thriller „Green Room“, der dieses jedoch mit einem harten Realismus konfrontiert. Der 2015 erschienene Film lässt eine kleine Punkband in einen brutalen Konflikt mit einer Bande Neonazis geraten.

„Das hier ist ein Flächenbrand!“

Die Punkband „The Ain’t Rights“, bestehend aus Pat (Anton Yelchin, „Hearts in Atlantis“), Sam (Alia Shawkat, „The Runaways“), Reece (Joe Cole, „Vor ihren Augen“) und Tiger (Callum Turner, „Victor Frankenstein – Genie und Wahnsinn“), befindet sich auf einer US-Tour und gibt einem Punk namens Tad (David W. Thompson, „Win Win“) ein Interview fürs College-Radio. Der von ihm organisierte Gig wird jedoch ein Reinfall. Es gibt böses Blut und die Tour steht auf der Kippe. Als Wiedergutmachung macht Tad ein Konzert irgendwo in den Wäldern Oregons klar, wo sein Cousin einen Laden mitbetreibt. Doch dieser ist Teil der örtlichen Neonazi-Szene, entsprechend setzt sich das Publikum zusammen. Die Band zieht ihren Auftritt trotzdem durch und setzt mit dem Dead-Kennedys-Cover „Nazi Punks Fuck Off“ ein deutliches Zeichen. Als sie anschließend die Szenerie verlassen wollen, finden sie eine Leiche im Backstage. Damit werden sie zu höchst ungebetenen Zeugen, zumal in der Lokalität auch weitere Straftaten stattfinden und man dort keinerlei Polizei gebrauchen kann. Als der Mörder die Bandmitglieder bedroht, überwältigen diese ihn zusammen mit dem Renee Amber (Imogen Poots, „28 Days Later“) und verschanzen sich im Backstage. Dies ruft den Besitzer und Kopf der Nazibande Darcy (Patrick Stewart, „Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert“) auf den Plan, der alles daransetzt, dass keiner der Punks lebend sein Grundstück verlässt…

„Ich bleib‘ bei den Misfits.“

Die wunderschönen Landschaftsaufnahmen zu Beginn wiegen in falscher Sicherheit und kontrastieren das Grauen, das sich abspielen wird. Passend zum Titel ist grün die dominierende Farbe in der Bildgestaltung. Im Gegensatz zu anderen Filmemachern, die Punks in ihren Filmen (gern auch exploitativ) karikieren oder sich mangels Kenntnis der Subkultur in Klischees suhlen, gelingt Saulnier eine realistische Zeichnung der Band, ihres Auftretens und Verhaltens. Auch die Musik wirkt authentisch. Die Stimmung ist nicht überdreht, sondern unangenehm, düster und zunehmend beklemmend und nervenaufreibend, letztlich gar nihilistisch. Für die Konzertszenen arbeitet Saulnier (bzw. seine Postproduktion) mit Zeitlupen; weitere Verfremdungen gibt es nicht bzw. verwenden sie derart subtil eingesetzt, dass sie nicht gleich ins Auge stechen.

„Ich will hier nicht sterben neben dir!“ – „Dann lass es...“

Die eigentliche Bedrohung beginnt erst nach dem Gig mit dem Fund der Leiche. Für die Polizei wird eine Messerstecherei als Vertuschungsversuch fingiert und den Punks eine Falle zu stellen versucht, auf die diese nicht hereinfallen. Die Belagerungssituation ist die Folge. Das Licht fällt aus und Darcy verhandelt rhetorisch überaus geschickt mit den Punks durch die geschlossene Tür. Wer eventuell fürchtet, von nun an handle es sich um ein dialoglastiges Kammerspiel, sieht sich getäuscht: In einer besonders krassen Szene reißt der Mörder einem der Punks beinahe die Hand ab. Kampfhunde und ein Mördertrupp werden auf die unwillkommenen Gäste gehetzt, es gibt Verluste auf beiden Seiten. Was hinter dem initialen Mord steckt, klärt sich dabei erst relativ spät.

„Green Room“ ist hochspannend und actionreich inszeniert, zudem sehr gut geschauspielert. Seine angespannte Stimmung und Härte erhält er bis zum Schluss aufrecht und bleibt ein grober, rüder Terror-Thriller. Neben manch Film subkulturellen Inhalts dürfte Saulnier Carpenters „Das Ende“ gesehen – und durchdrungen – haben, um davon inspiriert aber etwas mit eigener Handschrift zu kreieren. Und das ist überaus gelungen! Klare Empfehlung für Connaisseusen und Connaisseure dreckiger Indie-Thriller.

R.I.P. Hauptdarsteller Anton Yelchin, der 2016 gerade einmal 27-jährig bei einem Unfall verstarb.
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Hugo Cabret

Großes Kino

„Du kleiner Dieb!“

Nach „Shutter Island“ machte sich der US-amerikanische Ausnahmeregisseur Martin Scorsese („Taxi Driver“) an die Verfilmung des Kinderbuchs „Die Entdeckung des Hugo Cabret“ aus der Feder Brian Selznicks, wofür Scorsese erstmals die 3D-Technik einsetzte. Der Film aus dem Jahre 2011 ist eine Mischung aus familiengerechtem Fantasy-Abenteuerfilm und märchenhaftem Mystery-Drama – vor allem aber eine Liebeserklärung ans Kino.

„Zeit ist alles... alles.“

Im Paris des Jahres 1931 ist der Winter ausgebrochen. Vater (Jude Law, „Gattaca“) und Onkel (Ray Winstone, „Departed – Unter Feinden“) des 12-jährigen Hugo Cabret (Asa Butterfield, „Wolfman“) sind verstorben; als Vollwaise lebt der Junge im Pariser Bahnhof, wo er unbemerkt die Arbeit seines Onkels fortführt, indem er regelmäßig alle Uhren aufzieht. Dennoch muss er ständig vor dem Stationsvorsteher (Sacha Baron Cohen, „Borat“) auf der Hut sein, was indes nicht schwer ist, da dieser aufgrund eines Kriegsleidens ein Bein nachzieht. Hugos großes Ziel ist es, das Erbstück seines Vaters, einen alten roboterartigen Schreibautomaten, wieder zum Laufen zu kriegen. Die benötigten Ersatzteile entwendet er nach und nach dem Spielzeughändler Georges (Ben Kingsley, „Sneakers – Die Lautlosen“), der ein Ladengeschäft im Bahnhof betreibt. Als dieser ihn dann doch einmal auf frischer Tat ertappt, konfisziert er das Notizbuch Hugos Vaters, das die technischen Skizzen des Roboters enthält. Doch Georges Enkelin Isabelle (Chloë Grace Moretz, „Kick-Ass“) ist auf Hugos Seite und hilft ihm dabei, das Büchlein zurückzubekommen. Dabei stoßen sie auf ein wohlgehütetes Geheimnis…

„Mein Vater hat mit mir immer Jules Vernes gelesen!“

Scorsese eröffnet seinen Film mit einer wundervollen Kamerafahrt durch den Bahnhof und etabliert eine märchenhafte Steampunk-Ästhetik. Man lernt Hugo mit seinen strahlend blauen Augen u.a. über Rückblenden kennen. Dieser schleicht sich in einen Charley-Chaplin-Film im Kino, an dessen Slapstick die Versuche des Stationsvorstehers erinnern, Hugo zu schnappen. In Dialogen wird sich über tatsächlich existierende frühe Spielfilme unterhalten. Der Roboter zeichnet überraschend eine Szene aus Georges Méliès‘ bahnbrechendem Pionierwerk „Die Reise zum Mond“, historische Filmliteratur René Tabards wird zitiert, der daraufhin als von Michael Stuhlbarg („A Serious Man“) verkörperte Filmfigur persönlich in die Handlung eingreift, und Ausschnitte aus historischen Filmen werden implementiert. Keine Frage: „Hugo Cabret“ ist ein (Meta-)Film über die Magie des Kinos.

„Wenn du deine Bestimmung verlierst, gehst du kaputt!“

Um näher und weiter zu beschreiben, was diesen Film, in dem es ganz steampunkig ständig irgendwo dampft und der seine supertraurigen Momente mit der Vermittlung der Faszination fürs Kino kompensiert, aus- und so besonders macht, muss ich die entscheidende Wendung spoilern. Wer „Hugo Cabret“ noch nicht gesehen hat (und auch den Roman nicht kennt), dies aber noch vorhat, hört hier also besser auf zu lesen. Für alle anderen: Handlung und Inszenierung werfen von nun an (neue) Fragen auf und wandeln sich. Méliès sei tot, heißt es, und Träume werden bizarr verschachtelt visualisiert, einer von ihnen entpuppt sich als Méliès-Reinszenierung. „Hugo Cabret“ bekommt nun biografischen Charakter, zeichnet Méliès als verbitterten alten Mann, der mit seinem Werk hadert. In Rückblenden stellt Scorsese Méliès‘ Dreharbeiten nach. Sein Film wird zu einer Ehrerbietung an Méliès, der hier stellvertretend für die große Magie das phantastischen Films und einfallsreich getrickster Spezialeffekte steht. Er handelt von Inspiration, von den Anfängen des Kinos und zugleich der grausame Zäsur, die ein Krieg darstellt. Zugleich sensibilisiert Scorsese für die Relevanz des Erhalts populärkulturellen Erbes, das er mit seiner Film Foundation selbst vorantreibt.

„Vielleicht ist es an der Zeit, zurückzublicken.“

Ein Bahnhof als Mikrokosmos immergleicher Figuren, mehrere Kriegstraumata aufweisende Charaktere – der Erste Weltkrieg lag über ein Jahrzehnt zurück, doch was folgte? Die Scheißnazis, die alles wieder kaputtmachten. Gut, dass Hugo & Co. das in diesem Film noch nicht wissen können. Auch so ist Scorseses Inszenierung mitunter ziemlich aufregend, bleibt aber familientauglich. Eine cineastisches Publikum, das einiges Vorwissen mitbringt, dürfte an „Hugo Cabret“ ebenso seine Freude haben wie eine in erster Linie am Märchenaspekt interessierte Zuschauerschaft, die sich an den kunterbunten, eventuell etwas zu gelackten, glatten, „perfekten“ Bildern und den 3D-Effekten labt und auf diese Weise vielleicht etwas von „Opa“ Scorsese Begeisterung gerade auch für die Ursprünge mit auf den Weg bekommt. Alle dazwischen sehen schlicht einen hervorragend inszenierten, insbesondere vom jungen Butterfield super gespielten, äußerst unterhaltsamen und liebevollen Film, in dem Scorsese und Autor Selznick übrigens in Cameos auszumachen sind. Am Schluss lässt Scorsese noch einmal Original-Kinoausschnitte Revue passieren – und wird Isabelle zur Autorin. Über Hugo Cabret. Denn auch dessen faszinierende Geschichte muss festgehalten und konserviert werden, damit sich jüngere Generationen an ihr erfreuen können.

Zurecht mit fünf Oscars prämiert.
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