Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Scorticateli vivi

Produtkionsland: Italien 1978

Regie: Mario Siciliano

Darsteller: Bryan Rostron, Thomas Kerr, Anthony Freeman, Charles Borromel, Karin Well, Pierluigi Giorgio
Spricht es nun für oder gegen mich, dass der einzige Film aus der Schmiede Mario Sicilianos, den ich bislang gesehen habe, der Okkult-Porno ORGASMO ESOTICO ist, den manche Quellen als mindestens co-dirigiert von Joe D’Amato listen? Auf jeden Fall spricht es für unseren foreneigenen Braumeister, dass er mir zum Wiegenfest Christi eine Kopie des Sicliano-Söldner-Klassikers SCORTICATELI VIVI aus dem Jahre 1978 in einer deutschsprachigen Synchronfassung (unter dem sagenhaften Titel HÄUTET SIE LEBEND!) zur Verfügung gestellt hat, die allein den Bogen bereits bis zum Reißen überspannt. Geruch nach Plätzchen liegt in der Luft. Wachs tropft von den Weihnachtsbaumkerzen. Das Evangelium nach Lukas liegt aufgeschlagen auf dem Gabentisch. Ich sitze derweil in der Sudanesischen Steppe, und schaue enthemmten Söldnern beim Töten zu…

Es beginnt mit Karin Well, dem Schreihals aus Andrea Bianchis Meisterwerk LE NOTTI DEL TERRORE. In vorliegendem Film ist sie Teilzeitgeliebte eines gewissen Rudi Kubler, der, noch bevor die erste Szene richtig begonnen hat, von einer Gruppe Gangster verschleppt wird. Grund hierfür ist, dass der Journalist sich kurzfristig im Drogengewerbe versuchen, dabei seine Auftraggeber durch Unterschlagung der berauschenden Ware übers Ohr hauen wollte, jedoch nicht mit deren Raubtierintelligenz rechnete: Nach Strich und Faden vermöbelt lässt ihn sein Auftraggeber in irgendeinem römischen Hinterhof liegen, nachdem er ihm das Versprechen gegeben hat, wenn er bis zum Abend die ausstehenden Moneten nicht pflichtschuldig bei ihm abliefere, würden seinen Körper noch viel unangenehmere Modifikationen erwarten. Deshalb stattet unser Held nunmehr seiner Freundin Evelyn einen Besuch ab. Ein letztes Schäferstündchen soll es sein, und außerdem der Versuch, ihr fünfhundert Dollar aus den Rippen zu leiern. Die braucht Rudi aber nicht etwa für seine Mafia-Schuldner. Stattdessen sieht sein Plan vor, sich erstmal zu seinem Bruder Frank abzusetzen, der wiederum Hauptmann einer Söldnertruppe ist, die sich zurzeit mit Sudanesischen Rebellen herumschlägt. Von dem möchte er sodann weiteres Geld erbitten, das es ihm ermöglicht, seine Reise nach New York fortzusetzen, wo er für längere Zeit unterzutauchen gedenkt. Evelyn ist davon natürlich überhaupt nicht begeistert: weder von der Schlinge um Rudis Hals noch von der Rolle, die sie dabei spielen soll, sie ihm wenigstens ein bisschen zu lockern. Trotzdem gibt es Sex, und danach liegen die Liebenden mindestens zwei Minuten schweigend rauchend nebeneinander. Mario Siciliano entdeckt in dieser Szene eine Sensibilität, die ich in einem Film namens SCORTICATELI VIVI nicht vorzufinden gedacht hätte. Beinahe zärtlich betupft Kameramann Gino Santini die in ihrer jeweiligen Einsamkeit isolierten Körper. Im weiteren Verlauf wird die von Maestro Siciliano höchstpersönlich ersonnene Geschichte immer wieder auf diese Bettszene zurückkommen – in scheinbar wahllos ausgestreuten Rückblenden, die uns enthüllen, wie Evelyns und Rudis Abschiedskoitus weiterverlaufen ist. Der Kontrast könnte gar nicht größer sein zu den Sudanesischen Kriegsspektakeln, in die wir nach einem heftigen Schnitt quasi kopfüber hineingeprügelt werden.

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Abb.1: Siciliano liebt es in vorliegendem Film, seine Figuren in Landschaften zu platzieren, die sie aufgrund ihrer schieren Tristesse zu erdrücken drohen. Selten sah die Vorstadt Roms in ein solch existenzialistisches Licht getaucht aus wie hier an jenem Tag, als unser Held Rudi erfahren muss, dass er besser schnell seine Mafia-Schulden begleicht, möchte er nicht zwei Stiefel aus Beton angepasst bekommen. Das ist nicht unbedingt Antonioni, weist aber ungefähr in die Richtung.

Einen Kontext für die kriegerischen Auseinandersetzungen im nördlicheren Afrika liefert uns der Film erst gar nicht. Wenn die Söldner ihre indigenen Feinde aus ihren Buschverstecken bomben, ganze Siedlungen dem Erdboden gleichmachen, und Frauen in ihrer Funktion als Kriegsbeute zum Abreagieren der angestauten sexuellen Triebe benutzen, dann inszeniert Siciliano das als vollkommen außerhalb konkreter Zeiträume stattfindende Implosion von Sexismus, Rassismus und Sadismus, die mit sich in den Strudel willenloser Brutalität reißt, was nicht selbst gewalttätig genug ist, sich dagegen zu stemmen. Die Guerillas, die es – für wen?, und wieso? – auszuradieren gilt, werden konsequent als „schwarze Paviane“ bezeichnet, die wenigen Frauen, die man sich als Sexsklavinnen ins Camp geholt hat, sind für die entmenschlichten Kampfmaschinen „schwarze Wärmflaschen“, und wenn sich gerade kein Gegner in Reichweite der Handfeuerwaffen auftut, dann fällt man eben im betrunkenen Zustand fäusteschwingend übereinander selbst her. Die deutsche Synchronisation mit ihrem Füllhorn an verbalen Ungeheuerlichkeiten leistet wahre Schützenhilfe darin, den moralischen und physischen Zustand des Freiwilligenkorps um Frank Kubler auch sprachlich drastisch zu bebildern, während Sicilianos Impressionen von Söldner, die wehrlose Frauen nur deshalb aus den lüsternen Händen ihrer Kameraden befreien, um sie danach selbst zu vergewaltigen, oder die wehrlose Gefangenen nicht etwa primär mit Bunsenbrennern traktieren, um sie zum Ausplaudern strategisch wichtiger Interna zu bewegen, sondern scheinbar einfach nur an der puren Freude daran, den Geruch menschlichen Fleisches zu riechen, vielleicht nicht so sehr in ihrer graphischen Zeigefreude verstören, sondern dadurch, wie banal, wie lapidar, wie selbstverständlich derartige Grausamkeiten bereits in den Alltag dieser Männer eingesickert sind, und sich dort manifestiert haben. Bryan Rostron (bekannt aus Enzo G. Castellaris QUEL MALEDETTO TRENO BLINDATO, und sonst eigentlich aus nichts) in seinem anfangs noch weißen Anzug, dem blonden Schopf und den kultivierten Manieren wirkt in einem solchem Umfeld genau wie der Fremdkörper, als den ihn Frank behandelt. Statt dem Brüderchen sofort hilfreich unter die Arme zu greifen, stellt der ihm ein Ultimatum. Bis zum Abend solle er aus dem Camp verschwunden sein, und zusehen, wie er ohne einen müden Groschen aus dem Dschungel zurück in die Zivilisation finde. Dass der Bruderstreit, der sich um lange schwelende Eifersüchteleien rankt, eskaliert, das verhindert Sicilianos Drehbuch dadurch, dass es Frank bei der nächsten Mission in Gefangenschaft der Guerillas geraten lässt, und dass die verbliebenen Söldner, Frank inbegriffen, nunmehr ausziehen müssen, um ihren Kommandanten vor dem sicheren Tod zu bewahren – ein Himmelfahrtskommando, in dessen Fahrwasser Frank vom Kleinkriminellen zum kaltblütigen Killer reifen wird.

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Abb. 2: Klein wie Ameisen bahnen sich die Söldner ihren Weg durch eine lebensfeindliche Wüste. Gleich in mehreren solcher Aufnahmen – die Kamera fährt in dieser Szene langsam immer weiter zurück bis sich die Gestalten in der semantischen Weite des Panoramas regelrecht verlieren – stilisiert Siciliano Landschaften zu wahren Seelenspiegeln seiner Protagonisten. Das ist nicht unbedingt Herzog, weist aber ungefähr in die Richtung.

Immer wieder musste ich bei der Sichtung von SCORTICATELI VIVI an einen italienischen Film denken, der knapp vier Dekaden früher entstanden ist. In Augusto Geninas LO SQUADRONE BIANCO ist es ebenfalls eine verkrachte Existenz – der Soldat Mario -, die sich, allerdings aus Liebeskummer wegen den zahllosen Affären seiner Liebsten Christina, in die Fremdenlegion einschreibt, um in der Wüste des heutigen Libyen den Kampf gegen lokale Rebellentruppen aufzunehmen, an dieser Aufgabe zum Prototyp des faschistischen Helden heranzuwachsen, und am Ende die ihm nachgereiste Christina nicht nur sprichwörtlich in die Wüste zu schicken, sowie das Herz, das sie ihm anbietet, gegen eine Brust voller Ehrenabzeichen einzutauschen. Beide Filme einen zwar die Grundzüge des jeweiligen Plots, und damit eine Handvoll motivischer und inszenatorischer Topoi, sowie, dass Siciliano und Genina beide größtenteils „on location“ auf afrikanischem Boden gedreht haben, d.h. die Landschaft effektvoll als Hintergrundfolie ihrer maskulinen Mythen heranziehen. Wo LO SQUADRONE BIANCO den expansiven Vorstößen der italienischen Armee während des Zweiten Abessinienkriegs allerdings absolut unkritisch gegenübersteht – und nicht zuletzt dafür mit dem Copa Mussolini prämiert wurde -, zeichnet Siciliano, wie bereits angedeutet, ein völlig anderes Bild seiner Söldnerbande. Während die Fremdenlegionäre bei Genina beflügelt sind von ideellen Konzepten wie Nationalismus oder konkreten politischen Praktiken wie der des Kolonialismus, und damit über metaphysische Leuchtfeuer verfügen, die sie in ihren Handlungen, ihrem Leben und Sterben leiten, haben wir es bei Frank Kubler und seinen Leuten mit Menschen zu tun, in denen jegliche Ambition abgestorben zu sein scheint. Wen sie töten, das ist dieser Bande verrohter Individuen letztlich völlig gleich. Weiner aus ihrer Mitte bei einem Gewaltmarsch mit Schaum vorm Mund im Gebüsch liegenbleibt, dann nimmt man das achselzuckend zur Kenntnis, und zieht einfach weiter. Wenn einen selbst dann endlich die tödliche Kugel trifft, hat man dafür auch nur ein gepresst hervorgestoßenes „Scheiße!“ übrig.

Folgerichtig erfahren wir über die politischen Hintergründe der blutigen Dauer-Scharmützel in vorliegendem Film exakt nichts, und genauso folgerichtig kann man aus der Figurenriege nicht eine einzige herauspicken, die in irgendeiner Form als Sympathieträger geeignet wäre. Die Söldner sind saufende, raufende Ungeheuer, die spätestens, wenn es ein weibliches Geschlechtsorgan in ihren Zugriffsbereich verschlägt, von wilden Tieren nichts mehr unterscheidet, und Frank, der, wie gesagt, immer mehr in die Fußstapfen seines Bruders hineinwächst, verhält sich einen Großteil der Laufzeit entweder passiv gegenüber den Gräueln, die er mit ansehen muss, an denen er allerdings auch lange nicht aktiv partizipiert, um am Ende jedoch schließlich zu enthüllen, dass es ihm bei der Aktion zur Rettung Franks letztlich ebenfalls nur um den eigenen Vorteil ging. In einem wahnwitzigen Finale, das möglicherweise Sicilianos eigenwillige und eigenartige Reminiszenz an das Ende von Erich von Stroheims Mammut-Epos GREED darstellen soll, werden Frank und Rudi einander in einer stilisierten Urszene des brüderlichen Zwists als Kain und Abel gegenübergestellt, und die biblische Metaphorik in Gestalt einer Schlange, die einem von beiden ihr Gift in die Adern jagt, darf ebenfalls nicht fehlen. Selbst die süßliche, wie an den mit Schmutz und Eiterbeulen übersäten Rumpf des restlichen Films drangetackert wirkende Schlussszene, in der Rudi zu seiner Evelyn zurückkehrt, besitzt einen bitteren Beigeschmack, der sich aus der Verzahnung von Liebe und Ökonomie ergibt. Immerhin sind es Diamanten, die er seinem Bruder aus der Tasche stibitzt hat, die es ihm ermöglichen, mit seiner Ex-Freundin in einem neuen Wagen in den Sonnenuntergang davonzubrausen. Noch am sympathischsten ist ein Liebespaar aus der Sudanesischen Oberschicht gezeichnet, das sich zum Techtelmechtel und zum Philosophieren über die Vergangenheit des eigenen Landes in eine nubische Ruinenstadt zurückgezogen hat, und dort von unserer schwerbewaffneten Rasselbande in der üblichen Weise aufgemischt wird. Bevor die junge Frau sich von den Lüstlingen schänden lässt, entleibt sie sich lieber selbst. Ansonsten glänzt die indigene Bevölkerung – was den Film erneut mit LO SQUADRONE BIANCO verbindet, und was Siciliano dann doch teilweise über rassistische Konnotationen stolpern lässt, die sich gegen ihn selbst wenden – entweder mit Abwesenheit, oder dadurch, dass sie sich den beiden Polen traditionell-kolonialistischer Repräsentationsformen von „Eingeborenen“ anpassen: Auf der einen Seite die Guerillas, die wie Frank und seine Recken, nur Gefangene nehmen, um sie in bestialischen Zeremoniellen zu Tode zu foltern, auf der andern Seite Franks Mätresse, ein Sklavenmädchen, das sich intellektuell auf dem Niveau eines Kleinkinds befindet, eine abenteuerliche Syntax besitzt, und, nachdem ihr Herr und Gebieter das Lager verlassen hat, wie selbstverständlich dessen kleinen Bruder in die Wunderwelt der Kopulation einführt.

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Abb. 3: Der Söldner und seine Genussmittel. Durch Sicilianos feinsinnige Anordnung eines Triptychons unterschiedlicher Konsumobjekte der entmenschlichten Männer schwingt in dieser Szene eine fundamentale Kritik an Kolonialismus, Kapitalismus und Rassismus mit. Zuerst fällt unser Blick auf den Rücken der jungen Frau, die Frank Kubler (rechts im Bild) als Sexsklavin hält. Von dort aus ist es nicht weit zur J&B-Flasche, Produkt eines globalistischen Konzerns mit Sitz in London. Über allem hängt ein Leopardenfell, das viel zu erzählen hat über die Ausbeutung von (exotischer) Fauna und Flora durch Menschenhand.

Mit seiner allumfassenden Torpedierung von Männlichkeitsprogrammatiken wie Freundschaft, Treue, Ehre, und wie sie alle heißen, scheint Sicilianos Film mir nicht nur wesentlich dichter an der außerfilmischen Realität zu sein als es LO SQUADRONE BIANCO oder – um einen weiteren Klassiker aus den 30ern zu nennen, der mir bei der Sichtung von SCORTICATELI VIVI immer wieder im Hinterkopf herumspukte – Josef von Sternbergs MOROCCO wollen/können., zugleich versteht es der Film nämlich exzellent, seine nicht selten beeindruckenden Panoramaaufnahmen im Dienste einer existenzialistisch-melancholischen Grundstimmung einzusetzen. Schon während des Vorspanns läuft Rudi, sichtlich bedrückt von der Aussicht, dass die Mafia ihn im nächsten Hafenbecken versenken wird, mit zusammengestauchtem Körper durch die Viertel Roms, deren langen Straßenzüge und ausdruckslosen Gebäude ihn umschließen wie die Architektur eines substantiellen Verlorenseins in der Welt. Später, im Sudan, liebt Siciliano es, seine Helden winzig klein wie Ameisen vor Bergzügen, in uferlosen Savannen oder monotonen Einöden zu platzieren. Gerade die Märsche, die die Söldner durch die Wüste hinlegen müssen, suggerieren in ihrer Bildsprache unterschwellig die Nichtigkeit des einzelnen Individuums in Anbetracht eines ihm haushoch überlegenen Schicksals. Zugleich kann man bei den vielen Landschaftsaufnahmen, die übrigens niemals zu kitschigen Postkartenbildern ausarten, sondern stets etwas Verzweifeltes, Wehklagendes haben, aber auch an das Mondo-Genre denken – bei den symbolträchtigen Szenen von Geiern, die sich um Aas balgen, sowieso -, oder an dessen vielleicht faszinierendes Derivat, den italienischen Kannibalenfilm, der just zu dem Zeitpunkt, als SCORTICATELI VIVI entsteht, ebenfalls gerade Hochkonjunktur feiert.

Strukturell gibt es jedenfalls verblüffende Kongruenzen: Wie eigentlich jedes Menschenfresser-Drama, das Ende der 70er, Anfang der 80er im Stiefelland produziert wird, beginnt SCORTICATELI VIVI in einer Großstadt – bei Lenzi, Deodato, Martino und Konsorten ist es freilich immer New York, und nicht, wie in vorliegendem Film, Roma -, um dann recht hastig ins Dschungel-Inferno zu wechseln. Wie in beispielweise CANNIBAL FEROX oder MANGIATI VIVI! werden wir mit für die weitere Story eher unerhebliche Szenenskizzen aus dem Rotlicht- oder Rauschgiftmilieu sowie einem pumpenden, groovenden Score konfrontiert, der zunächst eher im Kontrast zum folgenden Spektakel zu stehen scheint – für SCORTICATELI VIVI besorgt diesen Stelvio Cipriani höchstselbst, und schafft es, vor allem, wenn er IN-A-GADDA-DA-VIDA als Funk-Instrumental neuinterpretiert, Akzente zu setzen, die mir in keiner Strand-Disco die Cocktails vergällen würden. Mehr noch: In jener Szene, in der die Rebellen einige gefangene Söldner im Rahmen eines bizarren Rituals bzw. einer bizarren Apparatur, die der Phantasie Kafkas entsprungen sein könnte, hinrichten, sind sie gar nicht weit entfernt von den Praktiken, mit denen die Lenzi-Kannibalen ihren Opfern den Tod versüßen – zumal die mannigfaltigen Dschungelfallen, die sich ständig aus Baumwipfeln oder Erdlöchern ergießen, um die Reaktionsschnelle unserer Helden zu testen, eins zu eins denen entsprechen, die auch im Kannibalen-Genre dauernd zuschnappen. Tiersnuff gibt es glücklicherweise keinen, und lebendig gefressen oder gehäutet wird, trotz des vollmundigen Titels, zumindest in der mir vorliegenden Fassung niemand – immerhin findet das Häuten aber im Zwiegespräch unserer Protagonisten mehrmals als neuster Hinrichtungsschrei der Sudanesen Erwähnung -, dafür siedelt die Gewalt durchaus an jenem Ende der Spirale, das auch für die anthropophagische Nische innerhalb der italienischen Filmindustrie konstitutiv ist. In seinem Grundtenor ist SCORTICATELI VIVI indes – wenn man CANNIBAL HOLOCAUST einmal aufgrund seiner Sonderstellung außen vor lässt – noch weit pessimistischer als jedes Kannibalen-Abenteuer: IN CANNIBAL FEROX erhält unsere Heldin am Ende die Doktorweihe. In MANGIATI VIVI! sitzen unsere Helden am Ende in der Sicherheit eines Hubschraubers, der sie aus der Grünen Hölle hinausbringt. In LA MONTAGNA DEL DIO CANNIBALE verlassen Ursula Andress und Claudio Cassinelli den Film als Liebespaar. Was aber offeriert mir SCORTICATELI VIVI in seiner Schlussszene anderes als die Gewissheit, dass der Mensch des Menschen Wolf ist, und letztlich nur derjenige sich durchbeißt, der den muskulösesten Kiefer hat? Von Liebe, Reue, Läuterung keine Spur. Frank, der Brudermörder, wird sich mit dem gemopsten Geld ein schönes Leben machen, während im Sudan weiter die Erde brennt.

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Abb. 4: Dann gehen die Pferde doch noch einmal mit Sicliano durch. Als hätte er zu viele Mondos und Kannibalenfilme geschaut, lässt er die Sudanesischen Rebellen, die sonst sehr taktisch operieren und mit modernen Kriegstechnologie ausgestattet sind, plötzlich zu klischeehaften „Wilden“ werden, die ihre an Holzpfähle gefesselten Opfer in einem ekstatischen Fackeltanz umschwirren, bevor sie sie auf eine Weise ums Leben bringen, für die ich noch keine Begriffe habe.

Es dürfte alle, die es bei diesem weiteren Lobgesang auf einen Film, dessen Produzenten ihn wohl nur halb so ernst genommen haben wie ich es tue, bis hierhin geschafft haben, nun nicht überraschen, dass ich ziemlich angetan bin von Sicilianos komplett jenseits des guten Geschmacks und der politischen Korrektheit siedelnden Vision eines Söldnerfilms. Was auch immer es gewesen sein mag, dass in den 70ern im Grundwasser Italiens grassierte, es hat dazu geführt, dass jene Nation innerhalb dieses Zeitfensters einige der kompromisslosesten, härtesten, gewalttätigsten Filme produzieren konnte, die mir bekannt sind. Der Gros der Menschheit wird gut daran tun, sich besser vor diesem dreck- und blutverkrusteten visuellen Schrapnell der besonders perfiden Sorte in den Schützengräben zu verstecken. Ich für meinen Teil habe den Namen Mario Siciliano in den Pfosten eines Betts geritzt, in dem ich, fürchte/hoffe ich, in nächster Zeit noch öfter meinen Mittagsschlaf halten werde.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Rolf
Poduktionsland: Italien 1984
Regie: Mario Siciliano
Darsteller: Antonio Marsina, Ketty Nichols, Tony Raccosta, Louis Walsor, Cynthia Cindy, Monty Caly,
Holla, habe ich etwa versehentlich noch einmal SCORTICATELI VIVI eingelegt!? Das war zumindest mein erster Gedanke, nachdem ich einen weiteren Film Mario Sicilianos aus der kinematographischen Kelterei unseres foreneigenen Braumeisters in meinen Player geschoben hatte. ROLF – wie der Gegenstand meiner heutigen Untersuchung heißt - beginnt nämlich ähnlich wie Sicilianos Söldner-Reißer ein halbes Jahrzehnt zuvor mit einem Sprung ins eiskalte Wasser, beziehungsweise mitten hinein in das Gemetzel, das eine Gruppe vermutlich von lokalen Warlords angeworbener Kampfmaschinen in einem nicht näher spezifizierten afrikanischen Dorf veranstalten. Jeeps rasen in Buschhütten, Maschinengewehrsalven zerfetzen die Luft, Rebellen fliehen oder brechen tot zusammen. Bevor ich allerdings nachschauen kann, ob ich mich tatsächlich im Rohling vergriffen habe, wechseln Schauplatz und Stimmung, und es bleibt kein Zweifel daran, dass sich in den nächsten eineinhalb Stunden die Abenteuer eines gewissen Rolf vor mir entrollen werden: Das von Fabio Frizzi komponierte und einem mir unbekannten Herrn namens Chris J. King intonierte Synthie-Rock-Liedchen, das einem den Vorspann versüßt, funktioniert zwar wie jene Schlager in Italo-Western, die die Namen ihrer Helden nutzen, um ihnen in direkter Anrede Fragen zu stellen oder ihnen ihre derzeitige Lebenssituation vor Augen zu stellen („Rolf, you’ve thrown out the love inside / Rolf, you’ve taken a road that leads to pain“), klingt aber wie die zu Klang geronnenen Achtziger, und trällert über Bildern, die eher wenig mit dem Songtext zu tun haben. Melancholisch sitzt Rolf – (der aus mir unerfindlichen Gründen in der mir vorliegenden deutschsprachigen Synchronfassung Golo heißt) – an einem pittoresken Meeresstrand, scherzt mit einem kleinen Buben, der ihm frischen Fisch verkaufen möchte, und läuft, die Jacke leger über den breiten Rücken gehängt, die Küstenstraßen entlang.

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Abb.1: Rolf und Joanna im Glück. Ihr Fangenspiel ausgerechnet in den Ruinen von Karthago wirft allerdings bereits einen prophetischen Schatten auf die weiteren Ereignisse, und zeigt außerdem Sicilianos glückliches Händchen für nun wirklich nicht alltägliche Metaphorik.

Das erinnert zwar ein bisschen an die schwermütigen Streifzüge Rudi Kublers zu Beginn von SCORTICATELI VIVI, ist jedoch mit einer ungleich optimistischeren Grundnote versehen. Während Kubler in Sicilianos vorherigem Abstecher ins Söldner-Genre seine Erfahrung in der Fremdenlegion erst noch vor sich hat, ist sie bei Rolf bereits ein Stück Vergangenheit. Nachdem sein Vater stiften gegangen und seine Mutter einen qualvollen Drogen-Tod gestorben ist, hat es ihn nach Afrika verschlagen, wo er zusammen mit einer Einheit Wildgänsen exakt die Dinge mit Zivilisierten und Guerillas anstellte, die uns im Prolog des Films kurz und prägnant vorgeführt worden sind. Nun aber, geläutert durch all das vergossene Blut und all die verschmorten Fleischfetzen, verlebt er seine Tage in Tunesien, verdingt sich als Pilot, und ist verliebt in die Nachtclubtänzerin Joanna. Die Weichen, könnte man denken, sind gestellt für ein friedvolles Leben in der Fremde, doch, natürlich, die Vergangenheit ruht nicht, und besucht ihn alsbald in Form eines schmierigen Typen namens John, den er noch aus seiner Söldnerzeit kennt und der ihn dazu überreden möchte, da er doch Pilot sei, ihm und seinen Kumpanen bei einem Kokainschmuggel hilfreich unter die Arme zu greifen. Rolf lehnt das Angebot nicht nur dankend, sondern John zudem die Fresse polierend ab, wird kurz darauf aber, nachdem dieser sich Verstärkung von weiteren früheren Kampfgefährten Rolfs geholt hat, aus dem Hinterhalt attackiert, nach Strich und Faden vermöbelt, und - auch hier eine motivische Kongruenz zu SCORTICATELI VIVI - mit dem Ultimatum am Wegesrand liegengelassen, dass er sich bis zum Abend überlegen könne, ob er zu ihrem Team dazustoße, oder doch lieber das Zeitliche segnen wolle. Rolf möchte beides nicht, dafür aber Rache an John und seiner Bande nehmen. Als er herausbekommt, dass ein Pilotenkollege nunmehr als Kurier der berauschenden Stoffe angeheuert wurde, tut er sich mit dem zusammen, um John einen bösen Streich zu spielen: Aus höchster Höhe fliegt das Päckchen berauschenden Stoffs aufs Festland, dass es sich in Wolken und Wohlgefallen auflöst. Da John genau weiß, wo er Rolf am empfindlichsten treffen kann, ist es nicht unser Held, der nunmehr einen weiteren Besuch seiner früheren Waffenbrüdern abgestattet bekommt, sondern Joana, die nach kollektiven Vergewaltigung eine Kugel von ihren Martern erlöst. Endgültig bläst das Jagdhorn nun Sturm, und Rolf und seine Feinde liefern sich blutige Katz-und-Maus-Spiele in den Wäldern Nordafrikas, wobei mit perfiden Dschungelfallen genauso freimütig umgegangen wird wie mit Sprüchen der menschenverachtendsten Sorte.

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Abb.2: Blickwechsel zwischen Rolf und einem stummen Christus an der Leichenhallenwand, in der er von seiner Joanna Abschied nimmt. Der Blaufilter, bei dem ich fast an einen expressionistischen Bergfilm denken muss, hilft eindringlich dabei, das religiöse Artefakt als etwas durchweg Anachronistisches zu betrachten.

Wenn in ROLF Leichen durch die Hände ihrer eigenen Kameraden gefleddert werden, sobald diese die Gelegenheit dazu haben, Rolfs Pilotenkollege, bevor man ihn erschießt, erst einmal das Gesicht über dem Gasherd geröstet bekommt, Söldnerboss John sich nach stundenlangem Gewaltmarsch eine kurze Rast gönnt, um die ermattenden Kräfte mit einer Koks-Prise aufzupäppeln, oder, in einer Rückblende, die in der deutschen Fassung – diesmal aus für mich nicht schwerlich nachvollziehbaren Gründen - erheblich zusammengestaucht worden ist, kleine afrikanische Kinder als Zielscheiben für seine Schießübungen zweckentfremdet werden, dann könnte man vermuten, Siciliano habe in vorliegendem Film seinen animalischsten Instinkten freien Lauf und sie sich in Bildern manifestieren lassen, die ihre exorbitanten Gewaltspektakel als bloßen Selbstzweck zelebrieren. Dabei entpuppt sich ROLF aber, ebenso wie SCORTICATELI VIVI, meiner Meinung nach, wenn man den Film nur ein wenig unterhalb seiner schroff-schorfigen Oberfläche spekulativer Schauwerte abklopft, als durchweg kritische Kanzelrede gegen Rassismus, Sexismus, Drogenmissbrauch, und vor allem die Gewaltexzesse einer ökonomischen Gesetzen nicht mehr nur gehorchenden, sondern sie aktiv mit Waffengewalt perpetuierender patriarchalen Gesellschaft. ROLF mag sich der stilistisch-ästhetischen Konventionen des Exploitation-Kinos bedienen, um seine zutiefst humane Botschaft auszuformulieren. Das ändert aber nichts daran, dass Siciliano den Gräueln am laufenden Band eine ebenso permanente ethische Dimension unterjubelt. Die Söldner sind Negativ-Karikaturen von Helden, wie ich sie bereits aus SCORTICATELI VIVI kenne, jeder einzelne von ihnen ein wandelndes Fragezeichen, ob es denn in einem derartigen Geschäft so etwas wie Heroismus überhaupt geben kann. Der Polizeichef des Ortes, in dem Rolf untergetaucht ist, erweist sich von Anfang an als vorurteilsbelastet, und lässt bei einem Routine-Verhör schon einmal Fingerabdrücke von unserem Ex-Söldner nehmen, indem er ihn zwingt, seine Hand in eine kotverschmierte Toilettenschüssel zu tunken. Nicht einmal die Selbstjustiz wird von Siciliano als das Nonplusultra dargestellt, zu dem man sie in solchen Ein-Mann-Armee-Vehikeln, deren Mechanismen ROLF bis zum physischen und psychischen Kollaps von Protagonisten und Rezipienten ausreizt, gerne hochstilisiert. Nachdem sämtliche seiner Feinde über den Jordan gesetzt haben, erwartet Rolf nämlich nicht etwa nur der Abspann, und sein Publikum die erleichternde Befriedigung, dass die bösen Buben allesamt auf möglichst brutale Weise zur Rechenschaft gezogen worden sind. Stattdessen stellt der Polizeichef, obwohl er zugeben muss, dass er seinen Rachefeldzug aus persönlicher Sicht nachvollziehen kann, Rolf in Aussicht, sich für die begangenen Morde vor einem ordentlichen Gerichtshof verantworten zu müssen. Siciliano bleibt der in SCOTICATELI VIVI eingeschlagenen Bahn treu, und nimmt auch in ROLF die Rolle eines Chefanklägers sozialer, politischer, gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten gleichermaßen ein wie die des Advokaten der Schwachen und Unterdrückten, die unter der rohen Gewalt habgieriger, allein durch ihre rohe Gewalt mächtig gewordener Mannsbilder zu leiden haben. Dass er drastisch bebildert, was er kritisiert, hat mit einer ambivalenten Strategie zu tun, die man ebenfalls aus CANNIBAL HOLOCAUST kennt: Der Spiegel, der letztlich mir als Rezipient solcher Filmware in ROLF vorgehalten wird, ist so groß, dass da eine ganze Schulklasse Alices hineinpurzeln könnte.

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Abb.3: Noch einmal ein Kruzifix - vielleicht dasselbe?! -, nur eine Szene zuvor: Gleich wird dem Herrn links im Bild in Mikos-Stenopolis-Manier das Gesicht auf der Herdplatte geröstet, und erneut ist keine Hilfe von dem prominent zwischen den Kontrahenten platzierten blechernen Christus zu erwarten.

Darüber hinaus ist ROLF aber auch, wenn man Sicilianos erhobenen Zeigefinger geflissentlich übersehen möchte, und einfach nur ein eineinhalbstündiges räudiges Spektakel genießen möchte, aus ästhetisch-technischer Hinsicht ein wahres Fest von einem Film. Es gibt so viele Szenen, die von innen her in einer juvenilen Energie erstrahlen, dass man sich fühlt, als habe Siciliano mit seinen schmutzigen, leicht fiebrig zittrigen Händen das Kino neu aus der Taufe heben wollen. Einige Beispiele: Rolf und Joanna spielen nirgendwo anders Fangen als in den Ruinen von Karthago – was für ein wunderschönes Bild für die Unschuld dieser Liebesbeziehung und den Umstand, dass sie mit einem Bein bereits in ihrem baldigen unfreiwilligen Erlöschen steht. Wenn Rolf, bevor das Kokainpäckchen aus dem Flugzeug schleudert, erst einmal seinen Hosenschlitz öffnet, um das weiße Pulver mit seinem Urin zu benetzen, dann ist das eine weitere Metapher, die manche möglicherweise als holzhammerartig empfinden werden, trotzdem aber prägnant sowohl die Verachtung illustriert, die Rolf dem Rauschgiftkonsum und seinen in diesem verstrickten Ex-Kameraden entgegenbringt, aber auch die transgressive Gewalt, die nach wie vor in ihm schlummert, und durch den Kontakt mit John und seinen Wildgänsen allmählich neuen Atem eingehaucht bekommt. Christliche Symbolik findet ebenfalls wieder statt – man denke nur an die höchst symbolische Schlussszene in SCORTICATELI VIVI mit dem Brudermord-Szenario und der Rolle, die eine Giftschlange darin spielt. Wenn Rolf seine Joana betrauert, und einen vorwurfsvollen Blick auf ein in Blaulicht getauchtes Kruzifix an der Wand wirft, dann verdichtet Siciliano die Gefühle seines durchaus vielschichtig angelegten Protagonisten in einem einzigen aussagekräftigen Blickwechsel. Noch interessanter macht die Szene, dass auch in derjenigen direkt davor ein Kruzifix, das beinahe identisch mit jenem im Leichenhaus ausschaut, zu entdecken gewsen ist. Dort schmückt es die Wohnung von Rolfs Pilotenkollegen, und wohnt als stummer Zeuge bei, wie diesem von John das Gesicht über einer Herdplatte verbrüht wird. Von einem transzendenten Heiland, scheint Siciliano damit unmissverständlich klarzumachen, hat in der verwilderten Welt seiner Filme niemand etwas zu erhoffen. Meine liebste Szene – diejenige, die am meisten den narrativen Rahmen wie eine Splittergranate sprengt – ist jedoch eine andere. Rolf wurde gerade zum ersten Mal von seinen Freunden/Feinden zusammengeschlagen, und irgendwo im Gebüsch liegengelassen. Ein Rudel Blutegel nutzt das, um sich über den Besinnungslosen herzumachen. Nicht dass diese ihm großartig mehr tun würden, als ihm ein bisschen Blut abzuzapfen, und ihm über den Körper zu kriechen, und nicht dass Rolf sie nicht einfach, als er wieder zu Sinnen kommt, wenn auch leicht angeekelt, von der Haut reißen könnte. Trotzdem glaubt Siciliano, für diese Szene seine Geschichte erst einmal stagnieren lassen zu müssen, und gefühlte fünf Minuten einfach nur die schwärzlich-glibberigen Würmchen in Großaufnahme zeigen zu müssen. Es liegt nicht nur an dem synthetischen Score von Frizzi, dass mich dieser himmelschreiende Moment erheblich an die ähnlich zerdehnte Spinnen-Szene in Fulcis Meisterwerk L’ALDILÀ erinnert hat – nur mit dem Unterschied, dass sie dort auf Mord und Totschlag hinausläuft, und bei ROLF scheinbar lediglich einer puren Lust am Zeigen (auf Seite Sicilianos) und einer puren Lust am Schauen (auf meiner Seite) entspricht.

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Abb.4: Als ob Siciliano sich vor Bunuels CHIEN ANDALOU verbeugen, und dabei zugleich die Spinnen-Orgie in Fulcis L'ALDILÀ zitieren wolle: Minutenlang gucke ich nur dabei zu, wie Blutegel über den reglosen Körper Antonio Marsinas krauchen - eine elegische Seh-Studie, mit der allein Siciliano seinem vergessenen Juwel eine selbstreflexive Komponente einschreibt.

Was soll ich abschließend noch über Sicilianos Abschiedsgeschenk – sein letzter Film, bei dem er für Regie, Drehbuch und Story zuständig gewesen ist – sagen, was nicht schon aus den obigen Zeilen an Huldigung hervorschimmert? Dass Rolf ein bisschen versöhnlicher, wehmütiger, menschlicher daherkommt als SCOTICATELI VIVI soll nicht viel heißen: Wer nach diesem dreckigen Film-Bastard keine Dusche benötigt, hat ihn sich wahrscheinlich bereits im Schaumbad angeschaut. Das Schöne dabei aber ist: Wenn man die Schlamm- und Blutkrusten von Sicilianos Finalepos herabkratzt, legt man eine kritische Reflexionsebene frei, die das Werk weit über ähnlich gelagerte – und ungleich stumpfere – Dschungel-Ballereien erhebt. Es kommt mir vor, als sei es bei Siciliano ansatzweise ähnlich wie bei Alberto Cavallone, obgleich dieser freilich, allein aufgrund seiner berghohen intellektuellen Querverweise zu Kunst und Philosophie, in einer weitaus weniger ursprünglichen Liga spielt. Beide aber, Cavallone wie Siciliano, versichern sich des Instrumentariums eines anrüchigen Kinos, dessen Hauptstatuten Sex und Gewalt sind, um sie, durch ihren bewussten Umgang mit ihnen, ihr selbstkritisches Modellieren der einzelnen Elementen, gegen sich selbst zu wenden. So wie Cavallones BLUE MOVIE für jeden, der nur ein bisschen über den Film nachdenkt, sicherlich alles andere als ein misogyner Porno ist, so stellt auch Sicilianos ROLF alles andere als eine hirnlose Nummernrevue fragwürdiger Gewaltszenen dar, sondern redet mir mit ernster Stimme ins Gewissen: Lass die Finger von Drogen!, lass die Finger von Handfeuerwaffen!, lass vor allem aber die Finger von rassistischen Söldnertrupps, die mit Dir Afrika unsicher machen wollen!
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Letter from an Unknown Woman

Produktionsland: USA 1948

Regie: Max Ophüls

Darsteller: Joan Fontaine, Louis Jourdan, Marcel Journet, Mady Christians, Art Smith
In Köln habe ich Stefan Zweigs Novelle BRIEF EINER UNBEKANNTEN von 1922 gelesen. Das war unweit der Traumathek, in einem Park, der eher den Namen Grasflecken verdient, zwischen herumspazierenden Hunden und Drogendeals, die unweit von meiner Bank über die Bühne gingen, mit dem Geruch von Joints in der Nase und dem Geschmack von Chilischoten im Mund, die ich mir kurz zuvor gekauft hatte, und nun langsam zerkaute.

Je älter ich werde desto mehr kann ich mit den Filmen Max Ophüls‘ etwas anfangen. Geboren 1902 in Saarbrücken, wo heute noch ein Filmnachwuchspreis nach ihm benannt ist, wendet er sich zunächst der Theaterschauspielerei zu, führt dann selbst Regie an verschiedenen Bühnen in Wien und Frankfurt, bevor er 1931 mit DANN SCHON LIEBER LEBERTRAN seinen ersten, heute leider verschollenen Spielfilm nach einer Vorlage von Erich Kästner dreht. Sein Durchbruch folgt ein Jahr später mit LIEBELEI, erneut eine Literaturadaption, diesmal nach einem Stück von Arthur Schnitzler. Das Lob von Publikum und Kritikern hilft dem Juden Ophüls, der mit bürgerlichem Nachnamen Oppenheimer heißt, freilich nichts angesichts des aufkommenden Nationalsozialismus, vor dem er sich nach einem kurzen Intermezzo in Italien, wo der Film LA SIGNORA DI TUTTI (1934) entsteht, nach Paris absetzt. Auch dort wird die Lage nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs brenzlig, weshalb Ophüls Anfang der 40er nach Hollywood übersiedelt. LETTER FROM AN UNKNOWN WOMAN, basierend auf einer Novelle Stefan Zweigs aus dem Jahre 1922, ist sein zweiter und möglicherweise schönster US-amerikanischer Film.

Ein Schriftsteller kommt an seinem Geburtstag, den er mit einer Bergtour weniger gefeiert denn herumgebracht hat, in seine Wiener Wohnung zurück, und findet dort einen Brief ohne Absender, der ihm Rätsel aufgibt: Weder kennt er die Handschrift noch den Namen der Frau, die ihm dort über viele Seiten hinweg ihre Lebensgeschichte erzählt – eine Lebensgeschichte, wie unser Held bald feststellen muss, die, ohne dass er das bewusst mitbekommen hat, eng mit seiner eigenen verwoben ist. Lisa Berndl nämlich, so heißt die Autorin, kennt ihn schon seit sie dreizehn ist. Damals ist er in die Wohnung gezogen, die er heute noch bewohnt, und, ohne Notiz von dem halben Nachbarskind zu nehmen, zu ihrem Augenstern geworden. Heimlich hat Lisa den um einige Jahre älteren Mann beobachtet, ist vor Herzklopfen fast umgekommen, wenn er ihr auf der Mietshausstiege zulächelte, hat sich ausgemalt, wie das wohl wäre, wenn er ihr genau die Gefühle entgegenbringe würde, die sie für ihn hegt. Dann aber hat ihre verwitwete Mutter einen neuen Mann kennengelernt: Man zieht nach Innsbruck, was Lisa das Herz bricht. Kaum ist sie achtzehnen, macht sie sich von ihren Familienbanden frei, und zieht zurück nach Wien, um ihrem Heros so nahe wie möglich zu sein. Tag für Tag flaniert sie vor ihrem ehemaligen Wohnhaus, um ihn zu sehen, wie er es verlässt, wie er es betritt. Dass er immer wieder in Gemeinschaft von jungen Frauen unterwegs ist, tut zwar weh, ist für sie aber kein Grund, von ihrem Vorhaben Abstand zu nehmen, ihn endlich auf sich aufmerksam zu machen. Früher oder später geschieht das. Der Schriftsteller spricht sie an, flirtet mit ihr. Sie ist sofort bereit, mit ihm essen zu gehen. Es endet mit Sex: Einmal, zweimal, dreimal. Dann verreist er. Sein Versprechen, sich wieder bei ihr zu melden, macht er nicht wahr. Sie wartet vergeblich. Er hat sie vergessen. In ihr wächst unterdessen sein Kind heran.

Eins von Ophüls‘ Faibles ist das Wien um die Jahrhundertwende oder generell der verblichene Glanz der einstigen Donaumo-narchie voller Kaffeehäuser, Walzerklängen, Droschken, gezwirbelten Schnurbärten und enggeschnürten Kurtisanen-Mieder. Von seinem halb wehmütig-nostalgischem, halb gesellschaftskritisch-präzisem Blick auf die österreichische Hauptstadt vor dem Ersten Weltkrieg lässt er auch in Hollywood nicht ab. Für LETTER FROM AN UNKNOWN WOMAN entsteht ein Studio-Wien, bei dem das Prater-Riesenrad zwar klar erkennbare eine Projektion ist, ansonsten aber ganze Straßenzüge, Vergnügungslokale und Wohnräume des gehobenen Bürgertums in einer Detailfreude nachgebaut werden, dass es mir manchmal schwerfällt, die Augen bei der Handlung zu behalten, und mich nicht in den exquisiten Kostümen, den Deko-Objekten, den Teppichen und Gemälden zu verlieren, die Ophüls‘ Film wie Exponate einer historischen Sammlung füllen. Auch sonst erweckt LETTER FROM AN UNKNOWN WOMAN in seinem Subtext für mich oft den Eindruck, als solle, quasi als Dreingabe zu der melodramatisch-tragischen Liebesgeschichte, die der Film vordergründig erzählt, eine Querschau geliefert werden über Sitten und Bräuche einer bestimmten Kaste zu einer bestimmten Epoche innerhalb der europäischen Kulturgeschichte. Ophüls als Soziologe von Sitten, Gebräuchen und kulturhistorisch determinierten Gefühlen: Sein nachsichtiger, manchmal augenzwinkernder, immer empathischer Blick ist allerdings weit von dem eines kaltblütigen Wissenschaftlers entfernt.

Lisa zieht ihr Kind groß. Sie möchte den Vater nicht davon unterrichten, aus Angst, er würde dann nur aus Mitleid mit ihr zusammen sein. Außerdem habe sie ihn ja sowieso immer bei sich, schreibt sie ihm. Sie müsse nur in die Augen ihres gemein-samen Sohnes schauen, und schon sehe sie ihn. Trotzdem, manchmal zögert sie doch: Er hätte ihr finanziell unter die Arme greifen können, immerhin. Aber auch dafür ist Lisa zu stolz. Sie wird zur Kurtisane, trifft sich für Geld mit Männern aus der Wiener Oberschicht, geht mit ihnen aus, begleitet sie in Konzerthäuser, und natürlich in ihre Betten. Die Jahre ziehen dahin. Da entdeckt sie ihn eines Abends, als sie ein weiterer ihrer Liebhaber ausführt, unter den Besuchern eines Nachtlokals. Auch er bemerkt sie, blickt zu ihr rüber. Doch ihre Hoffnung wird enttäuscht: Natürlich, er erkennt sie nicht. Was sie indes erkennt, ist, dass er Interesse an ihr zeigt. Sie machen einander Zeichen. Er solle draußen warten, sie komme nach. Vor dem Lokal steht Lisa vor einer folgenschweren Entscheidung: Soll sie sich erneut auf den Mann einlassen, der nicht mal mehr ihren Namen weiß, und dafür ihre Geldquelle drinnen sitzenlassen? Es ist klar, was ihr verliebtes Herz ihr rät.

Ophüls‘ Filme haben für mich den Charakter von Champagner. Sie sind leicht, heiter, manchmal ein bisschen frivol, und, selbst wenn das Schicksal ihren Helden sehr übel mitspielt, immer noch versöhnlich. Zugleich machen sie trunken, und zwar nicht nur über ihre Dekors, sondern auch, was ihre technische Seite betrifft. In LETTER FROM AN UNKOWN WOMAN entzücken mich: Die agile Kamera, wie sie beispielweise gleich zu Beginn, als die Umzugskartons in das Miethaus getragen werden, zwischen all den Personen herumhuscht, um sich dann erst auf die junge Lisa einzuschießen, und ihr solange zu folgen bis sie auf ihren zukünftigen Liebsten trifft. Die kontrastreiche Schwarzweißphotographie, die in manchen Szenen gar nicht so weit vom Chiaroscuro des film noirs entfernt ist: Da bauschen sich Schatten um Hauptdarstellerin Joan Fontaine, deren Kopf signalhaft von einer hellen Gloriole gekrönt wird. Die Bildkompositionen, in denen Ophüls‘ es zum Beispiel liebt, Fontaine halb abgeschirmt von irgendwelchen in den Bildkader ragenden Gegenständen zu platzieren, seien es nun die Gitterstäbe von Hoftoren oder Fensterkreuze oder Petroleumlampen, die ihr Gesicht oder Teile ihres Körpers verdecken. Die Repetitionen mancher Szenen: So die verblüffende Treppenhausaufnahme, in der die Kamera, Lisas Blick folgend, über die Stiege schwenkt, und bei der ersten der nahezu identischen Aufnahmen auf der Entdeckung landet, dass ihre Mutter mit einem neuen Mann herumknutscht, und bei der zweiten, einige Minuten später, auf ihrer heimlichen Liebe, die mit einer fremden Frau nach Hause zurückkehrt.

Er erkennt sie immer noch nicht, nicht mal, nachdem sie eine vierte Nacht miteinander verbracht haben. Tief verletzt verlässt Lisa ihn am nächsten Morgen. Es nutzt nichts, sagt sie sich, ich bin eine Unbekannte für ihn, und werde es bleiben. Dann erkrankt ihr Sohn an Typhus. Sein Tod stürzt sie in eine dumpfe Verzweiflung, aus der sie sich befreit, indem sie ihrem Schriftsteller endlich einen Brief schreibt, der fast birst vor unausgesprochenen Gefühlen. Er soll ihn erst erhalten, wenn sie ebenfalls nicht mehr am Leben sei. Denn, deutet sie an, der Typhus habe sich auch in ihr bereits eingenistet, und das sei gar keine Tragödie, denn ohne ihn und ihren Jungen wolle sie sowieso nicht mehr leben. In der Rahmenhandlung, zu der die Novelle in ihren letzten Zeilen zurückfindet, ist der Schriftsteller sowohl erschüttert als auch irritiert von dieser Lebensbeichte. Er kann sich nämlich noch immer nicht erinnern. Nur bruchstückhaft, ganz weit hinten in seinem Gedächtnis, will sich das Bild einer Frau materialisieren, und fällt dann immer wieder in die Unsichtbarkeit zurück.

An Zweigs Vorlage hat Ophüls so gut wie nichts verändert. Neben der üblichen bigotten Hollywood-Zensur, die Lisas wechselnde Liebhaber in einer einzigen Männerfigur amalgiert - einem gewissen Franz, der Lisa heiratet und für ihr Kind den Vater gibt -, und aus den vier Liebesnächten unserer Helden ebenfalls eine einzige macht, ist es vor allem die Tatsache, dass aus dem Schriftsteller bei Ophüls‘ ein Pianist geworden ist sowie ein diesem am Ende der Rahmenhandlung drohendes Duell, mit dem Franz seine gekränkte Ehre wiederherstellen möchte: Ersteres führt zu ganz viel hübscher diegetischer Musik von beispielweise Chopin und Mozart, die beide ihr Bestes tun, den teilweise unerträglich dickauftragenden extradiegetischen Score auf ein Minimum zu begrenzen, und die zweite Drehbuch-Intervention zu einem weiteren kulturgeschichtlichen Partikel, der uns viel darüber sagt, wie damals, im Wien um 1900, die Gesellschaft getickt hat, wenn ihre Zeiger drohten, sich in einem unliebsamen Winkel zu versteifen.

Opühls‘ ist übrigens raffiniert genug, sein Studio-Wien in der wohl witzigsten Szene dieses dann doch recht herzzerreißenden Films gewissermaßen auf einer Meta-Ebene vor den Karren der Selbstironie zu spannen: Lisa und Stefan Brand, wie ihr namen-loser Herzbube in der Verfilmung heißt, schweifen im Prater umher. Plötzlich scheinen sie in einem Zugabteil zu sitzen. Draußen zieht eine absolut künstliche Landschaft vorbei. Gerade, als ich glauben will, dass die Spezialeffekte für LETTER FROM AN UNKNOWN WOMAN weit hinter den Standards zurückbleiben, die zur Entstehungszeit gerade in der Traumfabrik schon hatten erwarten werden können, entpuppt sich die vermeintliche Bahnreise als Jahrmarktsattraktion: Ein altes Männchen auf einem Radl ist dafür verantwortlich, dass wechselnde Szenerien an den künstlichen Abteilfenstern vorbeiziehen. Nachdem Stefan für eine halbe Weltreise im Voraus bezahlt hat, ziehen sich die Turteltäubchen in ihr Refugium zurück, und der Greis darf weiter strampeln. Ich pruste vor Lachen.

Lasst eure Mondos, Pinku Eigas, Vomit-Gore-Exploiter einmal kurz fahren, und gebt euch dieser noblen Praline eines Films hin, dessen Manierismen mit einer Schokoglasur überzogen sind!
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Heart of a Dog

Produktionsland: USA 2015

Regie: Laurie Anderson

Darsteller: Terrier-Hündin Lolabelle
Drei Stationen der Beziehung zwischen Multimedia-Künstlerin Laurie Anderson und ihrer Terrier-Hündin Lolabelle:

Sie sind für die Ferien in die Berge gefahren. Über ihnen kreisen die Falken. Einer von ihnen stößt auf Lolabelle herab, entscheidet sich dann aber doch anders: Das, was ihn auf einmal verwirrt anstarrt, ist gar kein Kaninchen, sondern viel zu groß, um von seinen Krallen davongetragen zu werden. Lolabelle blickt dem Vogel lange nach, und zwei Gedanken gehen ihr durch den Kopf: Dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben für ein anderes Lebewesen zur Beute geworden ist. Dass die Gefahr auch von dort oben kommen kann, aus den Wolken, die sie bisher mit nichts Bedrohlichem assoziiert hat, und dass das, zusätzlich zum Erdboden, den sie als ausgebildeter Jagdhund sowieso andauernd im Blick hat, noch einmal einhundertachtzig Grad mehr sind, die sie von nun an im Auge behalten muss, denn – das weiß sie ebenfalls sofort – das Gefühl des möglichen Todes aus den Lüften wird sie nie wieder loswerden können.

Im Alter ist Lolabelle erblindet. Das macht sie übervorsichtig, ängstlich. Einzig am Strand traut sie sich noch, in vollem Lauf davonzujagen, weil sie weiß, dass sich ihr dort keine Hindernisse in den Weg stellen werden. Anderson spricht mit ihrer Hun-dertrainerin über das Problem, und die hat die Idee, Lolabelle das Keyboardspielen beizubringen. Ein vorgefertigter Beat begleitet von nun an täglich ihre Übungsstunden, bei denen sie mit den Pfoten rhythmisch die Tasten eines Kinderkeyboards bearbeitet, manchmal melodisch, manchmal fast schon experimentell. Bald tritt Lolabelle auch vor Publikum auf, bei Benefiz-Konzerten zum Beispiel. Sogar eine Weihnachts-CD wird aufgenommen, auf der sie bekannte Christmas-Standards einspielt.

Lolabelle liegt in den letzten Zügen. Der Tierarzt rät Anderson, sie einschläfern zu lassen. Das sei keine große Sache, und erlöse die geliebte Vierbeinerin von unnötigen Qualen. Für Anderson aber sind diese Qualen nicht unnötig. Kurz zögert sie, dann nimmt sie Lolabelle doch aus der Praxis mit nach Hause, wo sie sie ihre verbliebenen Tage beim Sterben begleitet. Das habe sie ihr nicht nehmen wollen, erklärt sie, und sich selbst nicht, die Zerbrechlichkeit, Vertrautheit, Liebe des langsamen Hinübergleitens, das so viel humaner erscheint als die sterile Spritze, die der Tierarzt bereitgehabt hätte.

Freilich dient Anderson die innige Beziehung zwischen ihrer Terrier-Hündin und ihr lediglich als Ausgangspunkt eines regel-rechten Stroms aus Gedanken, Erinnerungen, Geschichten. In ihrem Essayfilm HEART OF A DOG aus dem Jahre 2015 ist der Tod Lolabelles nur das erste Glied in einer mehrsträhnigen Kette aus Assoziationen, in der sich kaleidoskopisch autobiographische Erzählungen aus Andersons Kindheit - wie die von einem ziemlich schiefgehenden Schwimmbadstunt, bei dem sie vom Drei-Meter-Band springend nicht etwa im Wasser landete, sondern auf dem Becken, was ihr wiederum einen mehrmonatigen Krankenhausaufenthalt mit Aussicht auf irreparable Schäden einbrachte - mit Reflexionen über die entscheidenden Denkanstöße von Philosophen wie Wittgenstein und Kierkegaard mischen, Anderson uns, wobei ihre Digi-Cam auf dem Rücken von Lolabelle montiert ist, ihre unmittelbare Nachbarschaft in Greenwich Village – darunter ein österreichischer Kuch und Maler und Regisseur Julian Schnabel - vorstellt, Beobachtungen sammelt, wie ihre Heimatstadt New York sich seit dem elften September 2001 verändert hat, immer wieder Archivaufnahmen abspielt, in denen die junge und agile Lolabelle über die Felder saust und die betagte und erblindete Lolabelle einem Keyboard experimentelle Sounds entlockt, und immer wieder zurückkehrt zu ihrem eigentlichen Thema: Den Tod ihrer Mutter, den ihrer Hündin, und natürlich der ihres Ehemannes Lou Reed, mit dem sie seit Mitte der 90er ein Paar gebildet hat, und der im Oktober 2013 nach langer Krankheit verstorben ist.

Fragt man nach einem Fokus in diesem knapp fünfundsiebzigminütigen Spiegelkabinett aus innerlichen wie äußerlichen Im-pressionen, das sich nie zu aufwändigen Metaphern versteigt, und sich stattdessen aus Heimvideoaufnahmen der schlichtesten mir bekannten Schönheit speist, dann fällt einem bald das Wittgenstein-Zitat vor die Füße, das Andersons weise, zurückge-nommene, großmütterliche Off-Stimme uns etwa in Filmmitte vorliest: Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Lou Reeds Tod scheint genau solch ein blinder Fleck zu sein: etwas, das präsent ist – allzu präsent -, und sich gerade deshalb einer verbalen oder auch nur schriftlichen Äußerung entzieht. Anderson erwähnt ihren toten Mann mit keinem Wort. Ihr Schweigen ist bedeutsamer als alle Worte. Worüber man nicht sprechen kann, darüber dreht man einen der berührendsten Experimentalfilme, die ich seit langem gesehen habe.

Anderson fragt sich, wozu der Tod nutze? Ihre Antwort lautet: Um Liebe freizusetzen. HEART OF A DOG ist die in Bildern gekleidete Liebe, so unvermittelt ausgedrückt wie das über ein Bildmedium wie den Film möglich ist.

Am Ende findet HEART OF A DOG, nachdem sein Geflecht aus Erinnertem, Erdachtem, Erlebten und Erhofftem so dicht wie nur möglich geworden ist, dann doch noch zu einem Bild, das seinem zyklischen Kreisen Einhalt gebietet, und ihn auf sich selbst zurückwirft: Lou Reed schmust auf einer Schwarzweißphotographie mit Lolabelle. Die Kamera gleitet langsam über die starre Szene hinweg. Dazu ertönt sein Song „Turning Time Around“. Mir sind die Tränen gekommen.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

L'Odissea secondo D'Amato. Mit Massacessi und Montefiori in der Höhle des Zyklopen.
Im neunten Gesang der ODYSSEE lässt Homer seinen irrfahrenden Helden und dessen Gefährten eines ihrer charmantesten Abenteuer erleben: Eine der zahlreichen Ägäis-Inseln, auf die es Odysseus nebst Gefolge verschlägt, wird von einäugigen Riesen, die sich ihre Zeit mit dem Hüten von Schafen und Ziegen vertreiben, bewohnt. Deren unliebsamstes Exemplar – Polyphemos, Frucht des Beischlafs zwischen Poseidon und der Meeresnymphe Thoosa – hält die Trojanischen Streiter, sobald sie erst einmal dort hineingelangt sind, in seiner Höhle gefangen, wo er sie einer nach dem andern zu verspeisen beabsichtigt. Nachdem schon einige seiner Waffenbrüder im Magen des menschenfressenden Monstrums hatten verschwinden müssen, schmiedet Odysseus eine der Listen, für die er berühmt ist. Ihn einfach im Schlaf zu töten, würde den sicheren Hungertod bedeuten, denn nur die Körperkraft des Kolosses kann den schweren Stein beiseite wälzen, der den Höhleneingang verschließt. Zumindest aber das Augenlicht kann man der Bestie erst einmal rauben. Es fällt nicht schwer, den wenig trinkerprobten und eher einfältigen Zyklopen mit schmeichelnden Reden einzulullen und durch den Rotwein, den die Griechen im Reisegepäck dabeihaben, betrunken zu machen, um ihm dann, als er im Vollrausch schnarcht, mittels eines glühenden Pfahls sein Sehorgan auszustechen. Da Odysseus sich dem Polyphem als „Outis“ vorgestellt hat, was im Griechischen sowohl der Diminutiv für Odysseus‘ tatsächlichen Namen ist, aber auch „Niemand“ heißt, kehren die vom infernalischen Schmerzensgebrüll des Riesen angelockten anderen Zyklopen gleich wieder um, und halten den sowieso abseits von ihnen lebenden und als Sonderling verschrienen Polyphem für mindestens nicht mehr ganz zurechnungsfähig, wenn er auf die Frage, was denn nicht mit ihm stimme, die halbe Insel zusammenschreit, er sei von Niemandem geblendet worden. Odysseus und seine Gefährten inzwischen binden die Tiere von Polyphems Schafzucht zu Dreier-Pärchen zusammen, krallen sich an ihre Bauchfelle, und entkommen so der tastenden Hand des Ungeheuers, die jedem Schäfchen, bevor es aus der Höhle auf die Weide darf, den Rücken tätschelt, um zu verhindern, dass seine sichere Beute auf einem solchen in die Freiheit entwischt. Als Polyphem aber merkt, dass seine Gefangenen ihm doch durch die Lappen gegangen sind, erhebt er ein erneutes Wehgeschrei, und folgt Odysseus und seinen Gefährten bis zum Küstenufer, wo er ihrem in See stechenden Schiff, ohne es zu treffen, ein paar Felsbrocken hinterherschleudert. In seinem Übermut lässt sich Odysseus dazu hinreißen, dem tobenden Giganten doch noch über die Wellen hinweg seinen echten Namen zuzurufen – was er nicht hätte tun sollen, denn der rachsüchtige Polyphem bittet daraufhin seinen Papa Poseidon, den griechischen Helden so schnell nicht in die Arme von Frau und Sohn gelangen zu lassen. Sein Wunsch geht in Erfüllung, und lange Jahre irrt Odysseus daraufhin im Mittelmeer umher, während seine Gattin Penelope zu Hause in Ithaka ihre liebe Mühe hat, sich die bereits auf ihre Hand und Mitgift geifernden Freier vom Hals zu halten.

Gerade die blutrünstige, skurrile, auf eine amüsante Pointe zulaufende Polyphem-Episode hat aus dem Strauß märchenhafter Vorfälle, die Odysseus und seinen Leuten vom neunten bis zum zwölften Gesang des Homer'schen Epos begegnen, über die Jahrhunderte hinweg immer wieder die Phantasie von Bildenden Künstlern angestachelt. Aus der Hellenistischen Zeit selbst überliefert sind beispielweise ein Kopf des Polyphem, dessen Ikonographie mit dem wilden, vollen Bartwuchs und dem einen kreisrunden, mitten auf der Stirn sitzenden Auge stilprägend für spätere piktorale Ausgestaltungen der Figur werden sollte, sowie eine (unvollständige) Statuengruppe, die Odysseus und Gefolge beim Akts der Blendung zeigen, während Polyphem weinselig auf einem Felsen ruht. Irgendwo zwischen übermenschlicher Muskelmasse und bemitleidenswertem Tölpel zeichnen Polyphem die Pinsel der Renaissance und des Barock, wenn er in Giuliano Romanos Fresko im Palazzo Farnese mit Keule und Panflöte auf einer Art Felsenthron residiert, wenn er sich bei Anniballi Carraci als zornesentbrannte Kampfmaschine in Gang setzt, oder wenn er sich bei Guido Reni einsam und verlassen, dafür mit erloschenem Augenlicht in seiner Höhle verkriecht. Anteil an einem tragikomischen interpretatorischen Zugriff auf die Figur haben nicht zuletzt spätere Überlieferungen, die Polyphem mit der Neirede Galateia in Verbindung bringen. Um diese in einem von Delfinen gezogenen Wagen über das Mittelmeer fahrende Nymphe soll der affenhaft behaarte Polyphem in seiner grobschlächtigen Art erfolglos geworben haben. Sogar das Menschenfressen gewöhnt er sich ab, um seine Liebste zu beeindrucken, vergisst seine Schafe und Ziegen über dem schweren Herzschmerz, den ihm Galateia zufügt, und erschlägt schließlich ihren jugendlichen Bettgefährtin Akres, als er begreift, dass er die Schöne nie wird bekommen können.

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Abb.1: Polyphemos nach seiner Blendung auf einer zwischen 1639 und 1640 entstandenen Darstellung Guido Renos. Sowohl die übermenschliche Kraft des Muskelprotzs als auch seine spezifische Tragik kommen hier besonders sinnfällig zum Ausdruck.

Schon früh hält der menschenfressende Hüne Einzug ins Kino – allerdings ohne Galateia und ihre Delfine, sondern primär als Widersacher des Odysseus. Bereits 1905 dreht Georges Méliès mit L’ÎLE DE CALYPSO: ULYSSE ET LE GÉANT POLYPHÈME eine nur wenige Minuten lange Rumpffassung der ODYSSEE, in der Kalypso und ihre Nymphen-Entourage kurzerhand auf der Zyklopeninsel verortet werden, und Polyphem selbst in einem surreal anmutenden Effekt einzig als übergroße greifende Hand und scheinbar körperloses Haupt auftritt, das Odysseus gespenstisch aus den Tiefen einer Grotte heraus erscheint. Dichter an der Vorlage, sie jedoch eher nach dem Schema eines Abzählreims illustrierend, fällt L’ODISSEA von Francesco Bertolini, Giuseppe de Liguoro und Adolfo Padovan aus, eine Monumentalproduktion des gleichen Teams, das sich im selben Jahr 1911 ebenfalls (künstlerisch erfolgreicher) an Dantes INFERNO gewagt hat, und das Polyphem durchaus beeindruckend als bärenfellbekleideten Barbaren bebildert, dessen Blendung an graphischen Details wenige Wünsche übriglässt. Natürlich hält das genuin italienische Genre des peplum mit seinem Faible für Stoffe der antiken Mythologie, epischen Panoramen von Schlachten, und muskulösen Männerbrüsten, an die sich zierliche und wehrlose Frauen schmiegen, in den 50ern ebenfalls seinen eigenen Polyphem bereit – und zwar in Mario Camerinis ULISSE von 1954, dem man wohl nicht genug schmeichelt, wenn man ihn als die eigentliche Initialzündung des italienischen Sandalen-Films der Nachkriegszeit bezeichnet. An diesen Film aber habe ich, so sehr ich mich auch anstrenge, nur noch rudimentäre Erinnerungen, während ich in einem Nachtzug, der mich von Düsseldorf nach Bremen bringt, mit vorliegenden Notizen beginne. Der Wagen ist voller leutseliger, fideler Karnevalisten, die mich zu Dosen-Kölsch einladen, und sich erst gegen vier oder fünf Uhr morgens langsam zu zerstreuen beginnen oder betrunken einschlafen. Ich bin stattdessen hellwach, was vor allem daran liegt, dass ein Kinoerlebnis hinter mir liegt, das, wäre es noch ins letzte Jahr gefallen, wohl zu einem der berauschendsten in diesem überhaupt gehört hätte.

Es ist Joe D’Amatos Horrorklassiker ANTHROPOPHAGUS aus dem Jahre 1980 gewesen, für den ich extra ins Ruhrgebiet aufgebrochen bin, um ihn als 35MM-Kopie innerhalb einer städtischen Einrichtung zu sehen, und der mich erneut – und diesmal wesentlich heftiger als jemals zuvor! – an der Validität der derzeitigen Filmgeschichtsschreibung hat zweifeln lassen. Symptomatisch für diese sollen Roland Hahn und Rolf Janssen aus ihrem unsäglichen LEXIKON DES HORRORFILMS zitiert werden, an deren treffsichere Fehlurteile mich Oliver Nöding in seiner launigen Einführung des Films an jenem Abend erinnert hat. „Joe D’Amatos widerwärtige, sich genüsslich im Blute suhlende Schlächter-Orgie“, heißt es dort, „ist tatsächlich eine dermaßen perfide Attacke auf Magen und Geist, dass es einem schwer fällt, seiner Empörung Ausdruck zu verleihen, ohne in Gossenjargon zu verfallen: Spätestens seit diesem Machwerk ist das Horror-Genre zu einem Spielplatz derjenigen verkommen, die mit starrem Blick aufs Geld nur noch zur Befriedigung der atavistischen Triebe moderner Neandertaler produzieren.“ Ich allerdings frage mich, völlig mitgenommen (aber auf positive Weise) von meiner Sichtung im Düsseldorfer Filmmuseum: Wie konnte und kann jemand jemals dieses für die große Leinwand aus dem Urschleim des kinematographischen Grundrüstzeugs geformte Meisterwerk als stumpfe Splatter-Orgie abkanzeln? Ist es nicht eher so, dass D'Amatos melancholisch-verträumter, grundsätzlich meditativ gestimmter, und schauerromantisch durchsetzter Film jedes empfindsame Cinephilen-Herz dazu einladen sollte, die Kunststücke des Kinos in ihrer puren Essenz und im Takt von George Eastmans entmenschlichtem Röcheln und Schmatzen einfach nur abzufeiern? Es stimmt wohl, dass das ebenfalls von Luigi Montefiori unter seinem augenzwinkernden Pseudonym verfasste Drehbuch nicht mehr als zwei bis drei Seiten besessen haben mag, und es ist augenscheinlich, dass die D’Amato zur Verfügung stehenden Ressourcen bei einer zeitgleichen Hollywood-Produktion nicht mal fürs Catering gereicht hätten. Wer aber geht schon ins Kino, um elaborierte Geschichten erzählt zu bekommen oder mit kostspieligen Schauwerten sediert zu werden? In einer Hinsicht ist ANTHROPOPHAGUS ein typischer D’Amato-Streifen: An reiner Handlung passiert wenig, und von dem nicht viel, und nach einer kurzen Weile schon meint man regelrecht, der Zeit beim Zerfließen zusehen zu können – eine Kunstfertigkeit, die Signore Massacessi beispielweise in seinem Karibik-Zyklus voller Porno und Zombie noch verfeinern sollte. Zugleich aber treffen in ANTHROPOPHAGUS (wie innerhalb D’Amatos unüberschaubarem Oeuvre möglicherweise nur im gleichen Jahr in BUIO OMEGA noch einmal) so viele Faktoren aufeinander, deren harmonisches Zusammenspiel es allein rechtfertigen würde, dass sich der Name dieses Films tätowiert auf irgendwelchen Brustkörben wiederfindet: Der Soundtrack Marcello Giombinis mit seinen verschlafenen Synthie-Tupfern, seinen schmetternden Orgelklängen und weintrunkenen Klaviermelodien aus griechischen Tavernen. Die Außendrehorte zwischen felsiger Mittelmeerinsel, italienischen Kirchenkatakomben und poetischen Dorffriedhöfen. Die schwelgerische Handkamera Enrico Biribicchis, die sich gar nicht sattsehen kann an morbiden Details wie verlorenen Damenschuhen, hinter Spiegeln versteckten modernden Zimmern und Knochenhaufen, die halb unter Sargdeckeln hervorlugen. Zusätzlich zu all diesen handwerklichen, technischen, ästhetischen Erfolgsentscheidungen ist ANTHROPOPHAGUS aber auch eine intertextuelle Ebene eingeschrieben, die sich mir in der bereits erwähnten Nachtzugfahrt eröffnete, und die ihren Ausgangspunkt für mich bei dem ebenfalls bereits nacherzählten Abenteuer hat, das Odysseus und seine Gefährten in der Höhle eines menschenfressenden Riesen bestehen müssen.

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Abb.2: Der Name des Bootes, mit dem unsere Helden und Heldinnen auf das Menschenfresser-Eiland schippern, ist Programm in D'Amatos wohl melancholistem, wenn nicht sogar tiefraurigstem Film. Saudade - eines der schönsten Wörter der Welt - ist ein zwar nicht altgriechischer, sondern portugiesischer Begriff für etwas, das in dieser Form nur in der Kultur der Iberischen Halbinsel bekannt ist. Traurigkeit, Sehnsucht, Melancholie, das Wissen um den unwiederbringlichen Verlust von etwas Geliebtem - all das kann man unter dem Gefühl subsumieren, das das Wort zu beschreiben versucht, und das damit wie kein zweites als Motto über D'Amatos schluchzendem Inseldrama stehen kann.

Schon die Ausgangslage von D’Amatos Epos ist derjenigen in der ODYSSEE wesensverwandt: Zwar sind es keine mit allen Wassern der Kriegs- und Fabulierkunst gewaschenen Mitstreiter des Trojanischen Kriegs, die in ANTHROPOPHAGUS auf einer entlegenen Insel landen, sondern die üblichen wenig memorablen Knallchargen, wie man sie aus jedem B-Horror-Film kennt – man kann nur kochen, wenn man den Dosenöffner findet, und wenn man zu viel Langeweile hat, küsst und fummelt man schon mal fremd, und ansonsten hat man so wenige Charaktereigenschaften, dass es mir Schwierigkeiten bereitet, mich überhaupt an die exakte Anzahl der austauschbaren Nasen zu erinnern, die im Zentrum vorliegenden Films stellvertretend für die Zuschauerschaft leiden, sinn- und ziellos umherirren, oder Plattitüden austauschen -, dafür steht die von dem Zwei-Meter-Hünen Eastman verkörperte Figur des titelgebenden Menschenfressers eindeutig in einer Traditionslinie mit dem einäugigen Riesen, über den ich nun schon so viele Worte verloren haben. Wie Polyphem haust Nikos Karamanlis abgesondert von anderen Lebewesen auf seiner Insel, und wie für Polyphem gibt es wenig, das ihm so sehr das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt wie die Aussicht auf frisches, rohes Menschenfleisch, und wie Odysseus und seine Gefährten sitzt unser Ensemble aus Griechenlandreisenden auf der Zyklopeninsel fest – nur dass sie die Absenz ihres Bootes an der Flucht hindert, und kein vor einen Höhleneingang gerollter Felsbrocken. Freilich hat D’Amato seinen Polyphem einer ihn noch mehr entmenschlichenden Kur unterzogen: Während Homers Zyklop die menschliche Sprache beherrscht, und wenigstens ein paar ansatzweise Funken Intelligenz besitzt, trennt Nikos Karamanlis wenig bis gar nichts von einer reißenden Bestie, die völlig ihren Instinkten ausgeliefert ist. Höchstens in der Tatsache, dass er die eigene Schwester, seine einzige Vertraute, vor dem Zugriff der eigenen Zähne verschont, und dass ihn zumindest in einer Szene schwermütige Erinnerungen an das Schicksal seiner Frau und seines Sohnes heimsuchen, kann man zu Gunsten einer irgendwie gearteten Psychologisierung der Figur auslegen. Das hat vor allem damit zu tun, dass D’Amato seinen Anthropophagus nicht als, wie es bei Polyphem der Fall ist, gottgegebenes Ungeheuer präsentiert, sondern ihm eine tragische Vergangenheit andichtet, die erklärt, wie aus einem liebenden Familienvater ein Embryonen verschlingendes Scheusal werden konnte. Diese Hintergrundfolie – eine Modulation der sattsam bekannten Geschichte von der französischen Fregatte Méduse, die im Juli 1816 im Atlantik auf Grund läuft, und deren Besatzung daraufhin versucht, mit mehreren Flößen das afrikanische Festland zu erreichen, wobei man sich während der zehn Tage auf offenem Meer alsbald von den Leichen der bereits verstorbenen Passagieren ernährt; inspiriert hat das Ereignis nicht zuletzt Théodore Géricault zu seinem berühmten Gemälde LE RADEAU DE LA MÉDUSE, das 1819/1820 die Romantik in Frankreich einläutet, und von dem kunstbeflissenen D’Amato in ANTHROPHAGUS offenbar bewusst zitiert wird – gründet all die kannibalistischen Exzesse des Films auf einem realistischen Fundament. Nichts liegt dem Film ferner, als sich in übernatürlichem Hokuspokus zu verlieren, stattdessen kontrastiert er die mystischen, gotischen Momente ständig mit einer Wirklichkeit, deren Kanten herb und hart sind. Nikos Karamanlis ist, trotz gleicher kulinarischer Neigung, kein übermächtiges Monstrum wie Polyphem, sondern eine zutiefst tragische Figur, deren emotionale und physische Verrohung das Drehbuch George Eastmans weitgehend nachvollziehbar macht.

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Abb.3: Thédore Géricaults FLOSS DER MEDUSA nach einer wahren Begebenheit: Wie Nikos Karamanlis sind auch die ehemaligen Passagiere der Fregatte "Medusa" auf ihren viel zu kleinen Flößen tagelang der offenen See und ihrem sich zu kannibalistischen Exzessen steigerndem Hungergefühl ausgeliefert.

Damit enden die Gemeinsamkeiten zwischen der ODYSSEE und ANTHROPOPHAGUS noch lange nicht. Vielmehr hat D’Amato um seinen wortkargen, permanent röchelnden und schmatzenden Hauptdarsteller ein ganzes Kaleidoskop an Motiven gruppiert, die man einerseits aus Homers Langgedicht kennt, die aber andererseits konsequent gegen den Strich gebürstet wurden. Anders als sein antiker Vorgänger verliert Nikos Karamanlis nicht sein Augenlicht. Trotzdem aber ist eine Figur vertreten, die ein, wie es einmal beiläufig heißt, Unfall vor vielen Jahren hat blind werden lassen: Ein junges Mädchen, das, neben Nikos‘ Schwester, die fernab des Dorfes in ihrer geräumigen Villa residiert bzw. stranguliert, die einzige Überlebende des Massakers zu sein scheint, das der amoklaufende Menschenfresser in seinem Heimatort angerichtet hat. Verblüffend ist nicht nur, dass dieses halbe Kind, das eigentlich nur seinen verfeinerten Hör- und Geruchssinn vorweisen kann, um dem umherstreifenden Nikos nicht ins Netz zu gehen, es offenbar geschafft hat, sich bislang in leeren Häusern und Weinfässern vor ihrem Verfolger zu verstecken. Wirkt es nicht, als bestünde da eine besondere Beziehung zwischen dem verrohten Hünen und dem zierlichen Mädchen, das beinahe die Eigenschaften einer blinden Seherin zu haben scheint? Auch die Art und Weise, wie die Dame letztlich doch ums Leben kommt, wirft ein interessantes Licht auf das Spiel mit Versatzstücken der ODYSSEE, das in ANTHROPOPHAGUS im Hintergrund abläuft. Zuflucht suchend in der Dachkammer der Karamanlis-Villa wird das blinde Mädchen letztlich von den langen Armen Eastmans ergriffen, die sprengkörpergleich durch das Holzdach schnellen. Was zunächst für Nikos wie ein Triumph aussieht – endlich hat er das kostbare Wild erlegt, nach dem er schon eine Ewigkeit auf der Jagd ist -, bedeutet zugleich aber auch seinen Untergang: Der zuvor scheinbar unverwundbare Kannibale erhält seine erste Verletzung genau in der Sekunde, als er das blinde Mädchen ermordet, purzelt vom Herrenhausdach herunter, stürzt sich in einem Brunnen fast zu Tode, und rappelt sich nur noch einmal auf, um von Tia Farrow den Bauch aufgeschlitzt zu kriegen. Würde man sich zu weit aus dem Fenster lehnen, wenn man davon ausginge, dass D’Amato oder Eastman oder beide ganz bewusst das Motiv der Blendung von ihrem Polyphem-Charakter separiert haben, um ihn dann, exakt in dem Moment, in dem das Monster und die Blindheit ihre blutrote Hochzeit abhalten, gewissermaßen dadurch zu „blenden“, indem man die Erbeutung einer Person, die stellvertretend für ihn ihr Augenlicht verloren hat, zur entscheidenden Ursache dafür zu machen, dass es der Bestie endlich an den Kragen geht?

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Abb.4: Odysseus treuer Hund Argos begleitet ein namenloses Touristenpärchen am Sandstrand entlang - jedenfalls so lange bis er wünschelrutengleich die Anwesenheit des Anthropophagus erspürt, und auf Nimmerwiedersehn aus vorliegendem Film Reißaus nimmt.

Wenn ich mir anschaue, was der Film sonst noch für Anleihen aus der ODYSSEE übernimmt, fällt es mir jedenfalls schwer, an reine Zufälligkeiten zu glauben. Odysseus treuer Hund Argos – der einzige, der sein Herrchen in der Verkleidung eines heruntergekommenen Bettlers erkennt, als er in inkognito auf Ithaka auftaucht - sehen wir gleich zu Beginn im Prolog, der ein Touristenpärchen am Strand der Menschenfresserinsel grausam genug um die Ecke bringt, auch dort aber unter umgekehrten Vorzeichen: Der herrenlose Streuner, der sich dem Paar anschließt – der männliche Part vermutet, er spekuliere darauf, dass sie ihm was zu Fressen hinwerfen, während der weibliche Part davon ausgeht, dass der Hund sie einfach ins Herz geschlossen habe, und ihnen deshalb nicht mehr von der Seite weicht –, scheint Nikos‘ Anwesenheit zu erschnüffeln, als der noch im Ozean vor der Küste taucht, und als weißer Hai eine Badende ersäuft. Noch bevor sich Karamanlis aus dem nassen Element erhebt, und auf das musikhörende Bübchen zustapft, ergreift der Vierbeiner in weiser Voraussicht die Flucht – und wird in ANTHROPOPHAGUS sodann nicht mehr gesehen. Ebenfalls mit von der Partei: Eine Orakelszene, wie sie meines Wissens nun vielleicht nicht prominent in der ODYSSEE vertreten ist, aber zum festen Bestandteil antiker Dramen gehört. Bei D’Amato sind es Tarotkarten, die den baldigen Tod einer Schwangeren verkünden, und die die Wahrsagerin danach wie eine Opfergabe dem Meer überantwortet. Selbst eine Totenreichvision wurde in ANTHROPOPHAGUS eingebaut – oder kann man das minutenlange Schwelgen der Kamera in einer von menschlichen Gebeinen, quiekenden Plastikfledermäusen und verwitterten Sarkophagen angefüllten Gruft (meinen Recherchen zufolge handelt es sich um die Katakomben von Santa Sanvinilla in der italienischen Provinz Viterbo) etwas anderes sehen als eine augenzwinkernde Reminiszenz an Odysseus' Hades-Spaziergang, wo er auf Anraten der Zauberin Kirke hinabsteigt, um den blinden Sehen (!) Tiresias nach seiner Heimfahrt zu befragen. Im Erdinnern trifft er seine Mutter, verstorbene Kampfgefährten, Sisyphos und Tantalos, und wendet sich mit einem ähnlichen Schaudern von all den Martern ab, die die unerlösten Seelen im Totenreich zu erdulden haben wie das, das nicht nur die bundesdeutschen Zensoren beim Anblick von D’Amatos Schlüssellochblick in die Hölle ergriffen haben muss. Neben der Tatsache, dass ANTHROPOPHAGUS mit seinen zahllosen Szenen von ohne rechtes Ziel umherwandelnden Personen das Motiv der Irrfahrt schon allein in seine Struktur selbst einbindet, hat D’Amato sich direkt nach dem Prolog noch einen besonders hintersinnigen Scherz erlaubt. Gerne wird der Umstand, dass es der Regisseur selbst ist, den wir im Wagen einer Seilbahn mit dem Rücken zur Kamera stehen sehen, während seine Helden und Heldinnen sich über ihren bevorstehenden Trip unterhalten und Freundschaft mit Tia Farrow schließen, als simpler Cameo abgetan. Hat man die Anfangszeile der ODYSSEE im Hinterkopf – in der Voss’schen Übersetzung: „Sag mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes / Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung, / Vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat, / Und auf dem Meere so viel‘ unnennbare Leiden erduldet, / Seine Seele zu retten, und seiner Freunde Zurückkunft“ – eröffnet sich einem jedoch noch ein viel signifikantere Deutung. Innerhalb der Raumtiefe dieser Szene kann man drei Ebenen unterscheiden: Das Innere der Kabine als Bühnenraum, davor quasi als Hindernis der Kamera der Körper bzw. Kopf D’Amatos, der den halben rechten Bildkader einnimt, und die Kamera selbst, die zusammenfällt mit der Extradiegesis des Auditoriums. Salopper gesagt: Um die Gespräche hören, die Gesichter unserer Protagonisten studieren, überhaupt einen Zugang zum intradiegetischen Universums des Films erhalten zu können, müssen wir an D’Amato vorbei, der als geistiger Autor des Spektakels als eine Art Torwächter fungiert – oder eben wie eine körperlich ins Bild gesetzte Muse, die uns kurz auf ihre physische Präsenz hinweist, bevor sie danach gedankenverloren ihre Lyra anzuschlagen beginnt, und nur noch zu hören, nicht mehr zu sehen ist.

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Abb.5: Joe D'Amatos Rübe rechts im Bild - Cerberus und Muse in einem?

An dieser Stelle fehlen noch ein paar kurze Sätze zu den beiden kontroversesten Szenen des Films, die wohl hauptsächlich dafür verantwortlich sind, dass D’Amatos Bildgedicht in den Fußnoten der Filmgeschichte noch immer, falls es dort überhaupt Erwähnung findet, als Schlachtplatte abgetan wird, der höchstens Geistesgestörten irgendeine Form ästhetischen Genusses abgewinnen können – (und die tatsächlich, einmal abgesehen von der einen oder anderen obligatorischen, und nun nicht unbedingt über alle Maßen graphischen Beißer- oder Knabberei, tatsächlich die einzigen nennenswerten visuellen Grenzüberschreitungen dieses Films darstellen, der sich, statt einen Gewaltkulminationspunkt an den nächsten zu heften, viel mehr um eine zen-buddhistische Atmosphäre besorgt zeigt.) Eine Ikone für sich ist natürlich das Schlussbild des seine eigenen Eingeweiden verschlingenden Nikos Karamanlis, die man, wo wir uns nun schon mal aufs Terrain der griechischen Mythologie begeben haben, durchaus als Inversion oder Transkription der Ödipus-Geschichte lesen kann bzw. deren Deutung durch die Psychoanalyse, die im obszönen, d.h. hinter der Bühne stattfindenden Akt der Blende eine veritable Kastration zu erkennen meint. Da Karamanlis‘ Libido in seine Magengegend verlagert ist, fällt es leicht, in seinem auto-kannibalistischen Exzess ebenso eine (Selbst-)Kastration zu erblicken. Genauso gut verweist die Szene freilich aber auch auf all die unersättlichen Ungeheuer, von denen die antike Sagenwelt voll ist – man denke nur an das Seemonstrum Skylla oder das Menschenfresservolk der Laistrygonen, denen Odysseus ebenfalls auf seinen Irrfahrten einen Besuch abstattet, und viele seiner Männer ihren Verdauungstrakten überlassen muss. Eindeutiger zuzuordnen ist die Schockszene zuvor, in der Nikos sich über die Leibesfrucht einer Schwangeren hermacht. Durch die spezifische Art und Weise, wie D’Amato dieses Spektakel inszeniert, kann man gar nicht umhin, an die Geschichte des griechischen Gottes Kronos (bzw. römischen Saturn) zu denken, und was dieser mit insgesamt sechs von sieben seiner Söhne anstellte. Nachdem er nämlich den eigenen Vater, Himmelsgott Uranos bzw. Caelus, entmachtet und kastriert hat, prophezeit ihm ein Orakel, dass es ihm selbst nicht besser ergehen wird: Einer seiner Söhne soll es sein, der ihm seinerseits wieder als Leichnam vom Thron herabstößt. Kronos bleibt demnach nicht viel anderes übrig, als sämtliche männliche Kinder, die er in der Folge mit seiner Gattin Reha (griech. Opis) zeugt, eigenhändig zu ermorden. Nur den siebten Sohn, Zeus bzw. Jupiter, kann die verzweifelte Mutter auf der Insel Kreta in Sicherheit bringen, und vor dem Schicksal bewahren, vom eigenen Vater lebendig gefressen zu werden. Auch diese grauenhafte Vision hat ihre Blutspritzer in der Kunstgeschichte hinterlassen. Bei Peter Paul Rubens zerfleischt der greise Saturn einem noch im Säuglingsstadium befindlichen Knaben mit bloßen Zähnen den Brustkorb, während Francisco Goya auf seinem vielleicht alptraumhaftesten Gemälde den komplett entmenschlichten Gott an einem bereits stark in Mitleidenschaft gezogenen Menschenkadaver nagen lässt. Ich kann mir kaum vorstellen, dass D’Amato und Eastman nicht im Bilde gewesen sind über die piktorale Tradition, in die sich ihr ANTHROPOPHAGUS zwangsläufig einreiht, und dass sie nicht bewusst auch diese Götterlegende ein bisschen von den Füße auf den Kopf gestellt haben, wenn sie Karamanlis‘ Embryonenmord als Konsequenz des Verlustes seines eigenen Sohnes konnotieren – (nicht von ungefähr setzt die Rückblende, die uns über das Schicksal seiner Familie unterrichtet, kurz vor besagter bestialischen Szene ein.) Besonders bemerkenswert ist die Bildkomposition, in die sie das Verspeisen des ungeborenen Lebens einbetten: Während Karamanlis‘ als Pseudo-Saturn ein Substitut des eigenen Sohnes verschlingt, ist die ganze Zeit über der tatsächliche intradiegetische Vater des Embryos quasi als Simulation der Zuschauersaft fest im Bildhintergrund verankert.

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Abb.6-8: Saturn verschlingt seine Kinder - bei Peter Paul Rubens (1636), bei Francisco Goya (zw. 1819-1823) und bei D'Amato (1980).

Wie mir dann noch am nächsten Tag auffiel, während ich in einem weiteren Zug saß – diesmal bei Sonnenlicht und Richtung Bodensee –, haben beide Hauptverantwortlichen für die so schlichte und so scheußliche Geschichte des Nikos Karamanlis, Aristide Massacessi und Luigi Montefiori, sowohl vor der Realisation vorliegenden Films als auch danach mehr als einen kleinen Zeh in der mythologischen Tradition des klassischen Altertums gehabt. So hat Montefiori, als er noch nicht Eastman hieß, in Federico Fellinis SATYRICON den Minotaurus verkörpert – ein Film im Übrigen, der in seiner delirierenden Schlussszene ebenfalls nicht mit kannibalistischen Festmahlen hinterm Berg hält. Dichter an der Homer’schen Vorlage ist D’Amato in seiner Rolle als Regieassistent für Jean-Luc Godards am Set einer ODYSSEE-Verfilmung spielenden LE MÉPRIS gewesen, wo zwar Polyphem nicht auftaucht, aber allerhand Theorien darüber aufgestellt werden, ob denn der Held von Troja nicht nur deshalb auf Irrfahrten gegangen sei, weil es ihn gar nicht so sehr reizte, zurück ins heimische Ehebett zu gelangen. Das mögen kontingente Sachverhalte sein, wie sie das Leben nun einmal schreibt, nur kann ich ab da nicht mehr an Zufälle glauben, wo ich mir, wie gestern geschehen, noch einmal die inoffizielle Fortsetzung von ANTHROPOPHAGUS vorknöpfe, den ebenfalls von D’Amato inszenierten und von Eastman geskripteten ROSSO SANGUE, dessen deutscher Titel in etwa genauso absurd ist wie der Versuch der Beiden, die Figur des Nikos Karamanlis, der hier allerdings Mikos Stenopolis heißt, in das Korsett eines eher generischen Slasher-Films zu integrieren. Interessant allerdings: Erneut stellt nicht nur Eastman einer weiblichen Figur mit Handicap hinterher – in ROSSO SANGUE ist es ein Mädchen, das aufgrund irgendeines Unfalls vorübergehend querschnittsgelähmt sein soll -, sondern vor allem bekommt er endlich von sich selbst die Blendungs-Szene auf den Leib geschrieben, die in ANTHROPOPHAGUS noch fehlt. Wenn Mikos mit von einer Schere zerstochenen Augen – (die Schere als Werkzeug der Kastration!) - sein weibliches Opfer in dessen weitläufigem Elternhaus hetzt, ist er allein auf seinen Tast- und Gehörsinn angewiesen, und macht einen zugleich bedrohlichen, aber auch ziemlich wehrlosen Eindruck, und oszilliert im Schlussakt von ROSSO SANGUE, wie Polyphem, zwischen einer Komik, die viel Tragisches hat, und einer Tragik, die man eigentlich nur lachhaft finden kann.

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Abb.9-10: Die Blendung des Polyphem - einmal ganz klassisch mit Fackel in Francesco Bertolinis, Giuseppe de Liguros und Alfreda Padovans Monumentalfilm-Klassiker L'ODISSEA (1911), einmal etwas virtuoser mit einer Bastelschere in D'Amatos ROSSO SANGUE (1980).

Abschließend fällt mir noch einmal der Begriff „atavistisch“ in die zum Glück noch nicht geblendeten Augen, den Hahn und Janssen in ihrem Horrorlexikon-Eintrag zu ANTHROPOPHAGUS verwenden. Die Autoren wollen diesen Begriff natürlich negativ verstanden wissen. Sie meinen damit einen kulturellen Rückfall in ein primitiveres Stadium, einen Rückschritt im Evolutionsprozess, eine Verrohung von bereits etablierten Triebmodulationen, die den modernen Menschen von seinen Vorfahren trennen. Was Hahn und Janssen in ihrer engstirnigen Sicht auf jegliche Genre-Filme, die wohligen Grusel weit hinter sich lassen und sich stattdessen drastischeren Bildern und Themen verschrieben haben, allerdings mit Sicherheit völlig übersehen haben, ist, dass „Atavismus“ als Etikett für ANTHROPOPHAGUS besser nicht passen könnte – und zwar positiv verstanden. Atavus, das ist im Lateinischen der „Urahn“, und wenn, wie ich zu skizzieren versucht habe, Polyphem der Urahn von Nikos Karamanlis ist, und der Film, in dem er auftritt, dadurch zwangsläufig ein Derivat blutiger Götter- und Monster-Geschichten darstellt, die alt sind wie die Menschheit selbst, und in ihrer Funktionsweise nicht, wie Hahn und Janssen andeuten, primär der Stillung gewaltgeiler Neigungen gedient haben, sondern sehr komplexen, symbolischen gesellschaftlichen Anforderungen entsprachen, - und außerdem ein Derivat der fast genauso alten visuellen Repräsentationen dieser Götter und Monstren und der brutalen Morde, die sie verübt haben, oder denen sie zum Opfer gefallen sind, - dann hat ANTHROPOPHAGUS, wie ich finde, seinen angestammten Platz verdient neben einem Goya, einem Rubens, einem Caravaggio, einer attischen Amphora, einem Fresko von Alessandro Allori, oder einer Zeichnung Tischbeins in den Kunstmuseen dieser Welt. NIGHT OF THE LIVING DEAD, neben dem zunächst ebenso kein renommierter Filmkritiker im Kino sitzen wollte, ist längst Bestandteil des MOMA, Dario Argento und Mario Bava kommen ebenfalls allmählich im filmwissenschaftlichen Diskurs an. Es ist vielleicht nur eine Frage der Zeit, bis auch ANTHROPOPHAGUS aus den Hinterzimmern der Schmuddelvideotheken befreit wird – oder bis solche Hilfskonstruktionen wie „Hochkultur“ und „Trivialkultur“ obsolet genug werden, dass jeder einigermaßen cineastisch geschulte Mensch, selbst wenn er den Film nicht besonders leiden kann, zuzugestehen bereit ist, dass D’Amato und Eastman aus einem Minimum von Mitteln die moderne Variante eines antiken Satyrdramas geschaffen haben, das mehr mit archaischen Opferritualen zu tun hat als mit bürgerlichen Trauerspielen, und deshalb bestens für die Tage geeignet ist, an denen einem einmal nicht der Sinn nach Lessing steht.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Anthropophagous 2000

Produktionsland: Deutschland 1999

Regie: Andreas Schnaas

Darsteller: Andreas Schnaas, Oliver Sauer, Cornelia de Pablos, Andreas Stoek, Maja Carstens
Abt.: Welche Handlung, welche Atmosphäre? Ich hab bei MACBETH nur auf die Gewaltszenen geachtet...
Wie unbelehrbar und erfahrungsresistent Menschen sein können, das habe ich mir einmal mehr durch mein eigenes Verhalten bewiesen. Obwohl ich den Namen Andreas Schnaas mit zwei höchstens im Negativ-Sektor beeindruckenden Filmerlebnissen verbinde – zum einen die Sichtung seines Frühwerks ZOMBIE ´90: EXTREME PESTILENCE mit fünfzehn oder sechzehn, sprich, in der Sturm-und-Drang-Phase meiner cinephilen Neigung, als ich (unter anderem mit Hilfe des genannten Machwerks) relativ schnell feststellte, dass der deutsche Amateur-Splatterfilm und ich in diesem Leben nie die engsten Freunde werden würden; zum andern ein Filmabend wenige Jahre später im Keller eines Bekannten in irgendeinem südpfälzischen Dorf, wo der Gastgeber und seine Vertrauten (und zwangsläufig ich) sich mit der kompletten VIOLENT-SHIT-Trilogie die letzten Reste Niveau abzutrainieren versuchten, und den ich eigentlich nur durch die reichliche Zufuhr von billigem Alkohol halbwegs heil überstanden habe –, und obwohl ich eigentlich intelligent genug bin, um zu wissen, dass der Hamburger Independent-Regisseur, wenn er sich an ein Remake von D’Amatos Menschenfresser-Klassiker ANTHOPOPHAGUS wagt, sicherlich nicht dessen traumgleiche Atmosphäre, sein meditativ-mediterranes Inselflair, sein schauerromantisches Grandeur zu duplizieren versuchen wird, lasse ich mich in meiner derzeitigen ANTHROPOPHAGUS-Hochstimmung, die noch immer vom Genuss des besagten Films als 35MM-Kopie auf dem diesjährigen Mondo Bizarr nachhallt, dann doch dazu herab, nach mehr als einer Dekade Abstinenz noch einmal meine wunden Augen auf einen Film zu werfen, von dem mir meine Vorurteile zuflüstern, dass ihn ein Berberaffe mit einer Smartphone-Kamera spannender, unterhaltsamer, interessanter hinkriegen würde.

Tatsächlich hätte ich Schnaas‘ Hommage an D’Amato – „in loving memory“ widmet er ihm seinen ANTHROPOPHAGOUS 2000, außerdem wird im Abspann noch Lucio Fulci und David Warbeck gedankt; sicherlich, Signore Massacessi hat in seiner langen Karriere etliche Filme zu verantworten, bei denen ich mich wirklich verbiegen muss, um aus ihnen einen ästhetischen und/oder intellektuellen Mehrwert zu extrahieren, aber seinen Namen in Verbindung mit vorliegendem Abfallprodukt zu wissen, darum bin ich froh, dass er das aufgrund seines Ablebens wenige Monate vor Veröffentlichung des Streifens nicht mehr mitbekommen musste - in ihrer Essenz perfekt auch beschreiben können, ohne jemals überhaupt eine Szene aus ihm gesehen zu haben: einfach weil Schnaas sich selbst treu bleibt, und das, was ZOMBIE `90 und seine VIOLENT-SHIT-Saga auszeichnet, mühelos in das Universum des Nikos Karamanlis hinüberrettet. Dem Budget – die imdb spricht von 50.000 D-Mark, was ich nur für plausibel halte, wenn Schnaas da noch zwei Wochen Toskana-Urlaub für sich und seine gesamte Crew miteingerechnet hat – geschuldet gibt es einige sachte Modifikationen gegenüber dem Original: Da die Reise auf eine Ägäis-Insel wohl zu teuer gewesen ist, dreht man eben in der mittelitalienischen Pampa, und weil man die Geschichte unbedingt als Flashback erzählen möchte, integriert man einen Pro- wie Epilog in dem ein Interpol-Agent die Menschenfresser-Höhle erkundet, und darin sowohl Karamanlis‘ Aufzeichnungen als auch eine Ladenfuhre halbverwester Kadaver findet, und uns dankenswerterweise (oder auch nicht) aus diesen vorliest, was sich für Gräuel im naheliegenden Dorf zugetragen haben. Ansonsten bleibt Schnaas aber bei den Leisten, die D’Amato knapp zwei Jahrzehnte zuvor so simpel wie effektiv geschustert hat: Auch hier treibt Nikos Karamanlis mit Frau und Kind (allerdings einer Tochter) auf dem Rettungsschlauchboot seiner Yacht tagelang ziellos im Mittelmeer umher, wird durch die fehlende Zufuhr von Nahrung und Flüssigkeit und die unerbittlich brutzelnde Sonnenhitze zum Kannibalen, und erleichtert, nachdem er seine Familie verspeist hast, als Mörderbestie ein ganzes toskanisches Dörfchen um seine Einwohner. Auch hier ist es eine Gruppe austauschbarer Gesichter und Körper, die mit einem Minibus durch das italienische Hinterland fahren, um dort zu urlauben, und deren angemietete Gaststube ausgerechnet in dem entvölkerten Ort liegt, den Nikos zu seinem Herrschaftsgebiet ausgerufen hat. Auch hier setzt Nikos unseren Helden und Heldinnen – darunter: ein Althippie, der ständig seine Akustikklampfe bei sich trägt, die obligatorische Schwangere, die es fertigbringt, sich beim Aussteigen aus dem Minibus beinahe ein Bein zu brechen, und ein Asthmatiker, der sich gerne in Märtyrerpose sieht, und aus dem Jammern gar nicht herauskommt – arg zu, was zu den beiden wohl kontroversten Momenten des Originals führt: Nikos entreißt einen Embryo dem Mutterleib (wobei diesmal kein gehäutetes Kaninchen, sondern ein Baby-Born-Püppchen dran glauben muss) und sich selbst die Eingeweide, um beides sichtlich zufrieden zu verschlingen (was ihn nicht daran hindert, danach noch für zehn Minuten quicklebendig auf Menschenjagd zu gehen). Manchmal klebt Schnaas nahezu sklavisch an seinem großen Vorbild, und recycelt selbst Details wie den spontanen Sex zwischen zwei Mitgliedern unserer Protagonistentruppe, den Stangulationssuizid von Nikos‘ zuvor im Trauerflor durch das Gespensterdorf wandelnden Schwester, und sogar das Kätzchen, das sich im Original als mitternächtliche Klavierspielerin betätigt, (hier aber nur mit einem weiteren Katzerl ebenfalls durchs Dorf streift; die Mieze heißt übrigens Fanni, wie im Abspann zu lesen ist; jedenfalls eine von ihnen; die andere wird nämlich kurioserweise überhaupt nicht erwähnt.) Freilich wurde das Äußere des titelgebenden Unholds - vom Regisseur, Drehbuchautor und Produzent höchstpersönlich verkörpert - ebenfalls dem Original nachempfunden. Andreas Schnaas ist zwar kein Hüne wie George Eastman, und eher beleibt als muskulös, aber die verwitterte Visage, die zerzausten Haare und das unaufhörliche Röcheln und Grunzen stehen ihm jedenfalls weitaus besser als die Berufsbezeichnung Filmemacher.

Bevor man aus dem obigen Absatz nun irgendeine Form des Lobes dafür herausliest, das ich Schnaas dafür zolle, dass er dem Drehbuch Luigi Montefioris derart treugeblieben ist, füge ich besser gleich hinzu, dass sich der Film mit dieser inhaltlichen Nähe nun wirklich keinen Gefallen tut. Wäre ANTHROPOPHAGOUS 2000 nicht die inoffizielle Neufassung eines anerkannten Klassikers des transgressiven Kinos, könnte man ihn einfach als einen hundsmiserablen Film abkanzeln; so jedoch fordert er mich regelrecht auf dazu, ihn mit seinem Vorbild zu vergleichen, und dabei kann diese piktorale Jauchegrube nur verlieren. Die melancholische Atmosphäre des Originals sucht man in ANTHROPOPHAGOUS 2000 genauso vergeblich wie eine einzige interessante Kameraeinstellung, eine überraschende Montage-Idee, Schauspielkunst, die weiterreicht als für eine Webcam-Show, oder irgendein Gespür dafür, wie man Dramaturgie erzeugt oder rudimentär eine Geschichte erzählt - und dass das Ganze in einer home-video-Ästhetik wie vom letzten Rügen-Trip gefasst ist, hilft ebenfalls nicht dabei, den Film wenigstens schmeichelhaft fürs Auge zu machen. (Na gut, wenigstens einmal sieht Schnaas' Silhouette durch die Lichtsetzung ganz schmuck aus, wie er eine Treppe hinabsteigt, und dass man einen der Camper gepfählt wie die berühmte Dame in CANNIBAL HOLOCAUST enden lässt, ist vielleicht als augenzwinkernde Reminiszenz an Deodatos postmoderne Kannibalismus-Pastiche gedacht, wirkt in vorliegendem Film aber eigentlich nur dämlich.) Stattdessen fragt einer der Protagonisten seine hochschwangere Frau, als er sie ausgerechnet in einer Menschenfresserhöhle wiederfindet, eher beiläufig, ob es ihr denn gutginge; eine andere Dame stößt beim Anblick zerbissener Leichname den wohl kürzesten und unüberzeugendsten Schrei der Filmgeschichte aus; und unser nomineller Held, d.h. die einzige Figur, die den Abspann lebend erreichen darf, erinnert sich kurz vor Filmende daran, dass er doch eigentlich die ganze Zeit ein Mobiltelefon in der Jackentasche stecken hat, mit dem man doch, wo man nun schon mal von einem mordlustigen Kannibalen gehetzt wird, um Hilfe rufen könnte. Obwohl die Original-Geschichte nun wirklich nichts ist, was komplexeres narratives Geschick erfordert, um sie geradlinig zu rekonstruieren, verzettelt sich Schnaas‘ Skript in zahllosen Nebenschauplätzen – beispielweise fährt einer der Protagonisten seinen Freunden per Zug hinterher, da er Arzt ist, und noch eine schwere Operation hat ausführen müssen - führt Figuren ein, um sie danach gleich wieder zu vergessen – bei einem Pärchen, das, wie bei D’Amato, zu Beginn an einem See zerhackstückt wird, soll es sich um weitere Freunde unserer Rasselbande halten; als die aber nicht rechtzeitig zum verabredeten Treffpunkt auftauchen, verlieren sie unsere Helden und Heldinnen genauso schnell aus dem Gedächtnis wie der Film selbst - oder einfach nur als Kanonenfutter zu verheizen – welche Funktion sonst haben die beiden Camper, die zu keinem Zeitpunkt in irgendeiner örtlichen, zeitlichen, personellen Beziehung zum restlichen Figurenensemble stehen? -, separiert seine Protagonisten andauernd in irgendwann kaum noch zu überblickende Einzelgrüppchen. Wenn es schon in D'Amatos ANTHROPOPHAGUS irgendwie befremdlich wirkt, dass Nikos eine ganze Insel verzehren kann, ohne dass die Polizei seinem Treiben Einhalt gebietet, stolpert Schnaas über dieses zarte Logikloch so sehr, dass er seinem Film noch die letzten Vernunftknochen bricht: Ernsthaft, seine Kindergartentruppe findet im ausgestorbenen Dorf mehrmals Zeitungen, die detailliert über die Missetaten des Monstrums berichten, Einhalt scheinen die Behörden diesem trotzdem nicht gebieten zu können?

Aber was ereifere ich mich über die narrative Schmalbrüstigkeit eines Films, der mir doch gleich zu Beginn unter die Nase reibt, worauf es ihm eigentlich ankommt: Blutigste Gewalt. Was bei D’Amato vergleichsweise spärlich und dadurch recht effektiv eingesetzt wird, verkommt bei dem Qualität mit Quantität verwechselnden Schnaas zur Nummernrevue an Körperdekonstruktionen, bei denen man nicht weiß, ob man sich um die geistige Gesundheit ihres Schöpfers sorgen oder über die nun wirklich erbärmlichen Effekte amüsieren soll. Nicht mal die Terrakottaköpfe aus Andrea Bianchis LE NOTTI DEL TERRORE dürften neidisch auf das sein, was Schnaas uns hier als zerdrückte, zerplatzende, zerbissene Menschenschädel präsentiert. Auch hätte dem Regisseur – und dem Großteil der deutschen Amateur-Splatter-Zunft im Übrigen – einmal jemand einen Glückskeks mit der Botschaft zustecken sollen, dass etwas nicht automatisch dadurch besser wird, wenn man es besonders lange zu sehen sein lässt, sprich, die meisten Gewaltszenen hätten um mindestens die Hälfte ihrer Laufzeit gekürzt werden können. Dann wären die Effekte zwar immer noch billig gewesen, und die Intention hinter dem genüsslichen Zelebrieren von Bildern des Skalpierens, Erdrosselns und Zerschießens fragwürdig, zumindest hätte sich aber nicht die Ennui eingestellt, die mich befällt, wenn ich gefühlte fünf Minuten dabei zusehen muss, wie eine Frau immer wieder ein Messer in den Rücken gerammt bekommt. Was außerdem stört, ist Schnaas‘ Faible für Erbrochenes, dessen Fachterminus – das habe ich schmerzhaft bei der Sichtung von Lucifer Valentines SLAUGHTERED VOMIT DOLLS lernen müssen – Emetophilie lautet. Ob nun Schwangere sich am Straßenrand übergeben, oder Polizeibeamten, wenn sie sich mit Nikos‘ Leichenkammer konfrontiert sehen, oder – ich glaube, das ist die widerlichste Szene, die mir seit langem vor Augen gekommen ist – sich Landstreicher von dem Erbrochenen ernähren, das andere ihnen in die Hände spucken – wenn ich Schnaas nicht für einen der wenigen Filmemacher halten würde, die nicht mal zufällig von irgendeinem umhersausenden Funken Talent gestreift werden, könnte ich fast auf die Vermutung verfallen, auf einer Meta-Ebene wolle mir ANTHROPOPHAGOUS 2000 mit der ganzen Reiherei eine spezifische Rezeptionsästhetik mit auf den Weg geben. Erregen – zumindest sexuell – will der Film mich jedoch ganz sicher nicht, im Gegenteil: Eine ausgewalzte Zeltbalzerei gleich in den Anfangsminuten zwischen zwei, sagen wir, nicht dem zeitgenössischen Schönheitsideal der westlichen Welt entsprechenden Menschen, die derart uninspiriert, fernab selbst von Rudimenten dafür, wie man Körper erotisch in Szene setzen könnte, und dicht an der Grenze zum Hardcore vorbeischrammend runtergekurbelt wurde, hat in mir wohl auf Wochen jeden Gedanken an Sex erstickt.

Ich habe, wie man weiß, sicherlich nichts gegen Filme, die ohne Budget im Wald gedreht worden sind. Auch mit einer handelsüblichen Videokamera – wie ich spätestens seit Sadie Benning weiß, selbst mit einem Spielzeug! – kann man ergreifende Bilder kreieren, beeindruckende Geschichten erzählen, visuelle Experimente fabrizieren. Das alles aber nur, wenn man nicht Andreas Schnaas heißt. Im Ernst, ich habe selten einen Film gesehen – einen Film zudem, der als Film vermarktet wird, d.h., die Verantwortlichen gehen wirklich davon aus, dass es Menschen gibt, die ihr Produkt für wertvoll genug halten, dass sie dafür ihr kostbar verdientes Geld ausgeben! -, der in allen Belangen derart unfilmisch ist. Was ist Kino?, fragte schon in den 50ern André Bazin, und seine Antwort lautete sicherlich nicht: Ohne Sinn und Verstand die Kamera einfach auf Laiendarsteller halten, die entweder Blödsinn oder ihre Eingeweide von sich geben. Dass Schnaas und Konsorten diese bildgewordene Bankrotterklärung – und damit ihre potentiellen Kunden - selbst in irgendeiner Form ernstnehmen, kann ich mir kaum vorstellen, wenn man bedenkt, dass man es nicht mal für nötig befunden hat, dem Film eine anständige Post-Synchronisation angedeihen zu lassen (wirklich zu hören sind die Darsteller und Darstellerinnen tatsächlich nur, wenn sie mal unabsichtlich exakt in Richtung Mikrofon plappern.) Den Menschen, der ANTHROPOPHAGOUS 2000 für einen spannenden, gutgemachten, unterhaltsamen Film hält, und der nicht in einer Höhle fernab der Zivilisation aufgewachsen ist, und nur diesen einen Film überhaupt kennt, den würde ich gerne einmal kennenlernen – und dann noch gleich denjenigen, der diesem Scheiß achtzig Minuten Lebenszeit schenkt, obwohl er eigentlich intelligent genug sein sollte, sofort die Straßenseite zu wechseln, wenn ihm ein Produkt mit dem Namen Andreas Schnaas entgegenkommt.

Ach ja, wenigstens eine Szene gab es, bei der mir der Bauch vor Lachen hüpfte. Einer der beiden erwähnten Camper spaziert in den Wald, während der andere ein Nickerchen im Zelt hält. Als er erwacht, und seinen Freund nicht gleich in seiner Nähe vorfindet - in Wirklichkeit wurde er bereits vom Anthropophagus geschnappt -, stolpert er im Umfeld des Zeltes umher, und ruft nach ihm: "Hey, Du Scheißkerl! Wo steckst Du schon wieder?" Seine derbe Wortwahl in diesem Kontext hat mich für einen Moment ziemlich amüsiert. Aber was rede ich: Wenn schon die kontextfremde Verwendung von Vulgärsprache das Einzige ist, was ich an einem Film positiv herausstreichen kann...
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: L'Absence

Produktionsland: Deutschland/Frankreich/Spanien 1992

Regie: Peter Handke

Darsteller: Eustaquio Baraju, Bruno Ganz, Sophie Semin, Jeanne Moreau, Alex Descas
Zwischen 1971 und 1992 hat der österreichische Schriftsteller Peter Handke insgesamt vier Spiel- bzw. Experimentalfilme realisiert. DIE ABWESENHEIT ist – nach CHRONIK DER LAUFENDEN EREIGNISSE (1971), DIE LINKSHÄNDIGE FRAU (1978) und DAS MAL DES TODES (1985) – seine bisher letzte Regiearbeit.

Erneut basiert ein Film Handkes auf einem Erzähltext seiner eigenen Feder. DIE ABWESENHEIT heißt nicht nur genauso wie ein sogenanntes „Märchen“, das er drei Jahre vor Beginn der Dreharbeiten publiziert hat, sondern folgt dem Prosastück auch inhaltlich weitgehend: Vier archetypisch-allegorische Figuren – ein dunkelhäutiger Soldat aus der französi-schen Kolonie; ein ältlicher, abgehalfterter Spieler vom Rande der Gesellschaft; eine junge, adrette Frau, die eine Zeitlang in der Psychiatrie saß; ein griechischer Poeten-Greis, der sich gerade von seiner französischen Ehefrau getrennt hat – brechen zunächst unabhängig voneinander zur großangelegten spirituellen Sinnsuche auf, finden schließlich zusammen, küren den Dichter zu ihrem Führer, und streunen neunzig Minuten lang durch das wunderhübsch photographierte Hinterland Spaniens und Frankreichs (darunter als Schauplatz Handkes eigenes Wohnhaus außerhalb von Paris in Chaville), führen ausnahmslos kryptische, sich größtenteils wie Monologe gebärdend Dialoge, kapern einen Linienbus, nächtigen unter freiem Himmel.

Eine Referenz, die mir regelrecht ins Gesicht springt, ist das letzte Drittel von Alejandro Jodorowskys HOLY MOUNTAIN. Während Jodorowsky allerdings ein ausgiebiges Bad in den collageartig zusammengewürfelten Symboliken jeder erdenklichen und unerdenklichen Menschheitsreligion nimmt, sind konkrete symbolistische Szenen bei Handke eher spärlich gesät – verfehlen dann aber, wenn man plötzlich vor ihnen steht, ihre Wirkung nicht: Ich denke an die wundervolle Trias aus Schlange, Igel und Schildkröte, die wie an einer unsichtbaren Kette in der Mitte eines Feldwegs angeordnet sind, oder an eine nicht weniger schöne Kamerafahrt an einem Ensemble aus getrockneten Maulwürfen, die als zusammengeflochtenes Knäuel von einem Baum herabbaumeln. Wichtiger jedoch als die Bilder sprechen zu lassen – für mich geben die beiläufig zauberhaften Kompositionen zwischen hohen Bergen, zwitschernden Wiesen, dichten Wäldern und schließlich der Weite der Wüste ein konstantes Summen von sich, das angenehm anzuhören ist, jedoch auf Dauer ziemlich monoton –, scheint Handke es, seine Figuren bei alltäglichen Verrichtungen zu beobachten, denen der präzise Kamera-Blick, wie den sie umlagernden Naturphänomen, allein durch ihr vehementes Starren ihre Aura zurückgeben bzw. sie überhaupt erst sichtbar machen soll: Wie sie sich auf primitive Weise Essen zubereiten, eine Melone miteinander teilen, in das kühle Nass eines Sees hüpfen, von Hügeln aus die Ebene anstarren oder wiederum von der Ebene angestarrt werden, das ist alles ist sehr fragil inszeniert, in zu zerbrechen drohende Bilder gefasst, und verfestigt sich am wenigsten durch die derart chiffrierten Sätze, die die Figuren permanent von sich geben, dass mir jedweder Schlüssel dazu fehlt. Handkes Helden sind keine psychologisch nachvollziehbaren Charaktere in einer kohärenten Handlung, sondern wandelnde Gleichnisse in einer Versuchsanordnung aus Bildern, die sich ausnahmslos mittels Gedichtversen, (pseudo)-philosophischen Reflexionen und langen, vermeintlich ihre Lebensschicksale aufarbeitenden Litaneien miteinander verständigen – oder, besser gesagt, permanent aneinander und an mir, dem Zuschauer, vorbeireden. Verstärkt wird dieses Eindruck noch, dass jede der Figuren in ihrer eigenen Sprache plappert: Der Spieler Deutsch, der Poet Griechisch, die junge Frau und der Soldat Französisch.

Eine zweite Referenz, die sich mir langsam aufdrängt, ist jene Phase Jean-Luc Godards Ende der 80er, Anfang der 90er, als er sich entschließt, seine Schauspieler in Naturkulissen wie Gemälde zu stellen, und sie zu Klassischer Musik, wie in NOUVELLE VAGUE (1990) oder HÉLAS POUR MOI (1993), Zitate berühmter oder vergessener Philosophen, Schriftsteller oder sonstiger Männer (und Frauen) der (europäischen) Kulturgeschichte deklamieren zu lassen. Herrscht bei Godard dadurch aber eine intellektuelle Fülle vor, die man, wenn einem der Sinn danach steht, durchaus dahingehend dekonstruieren kann, dass man der Herkunft eines bestimmten Satzes auf den Grund geht, und dadurch Verbindungslinien zu ziehen beginnt zwischen einer Theorie und einer nächsten, die einen freilich früher oder später in einem undurchdringlichen Spinnengewebe einschließen, handelt es sich bei DIE ABWESENHEIT um einen reichlich reduktionistisches Werk. Handke scheint zu sehr von sich selbst zu besessen, um irgendwem sonst irgendeinen Freiraum zuzugestehen. Sein Film hat etwas Masturbatorisches. Eigentlich höre ich die ganze Zeit einem Selbstgespräch zu.

Ebenfalls an Godard erinnert mich allerdings, in welcher subtiler Großartigkeit Handke die Bewegungen seiner Darsteller – darunter solche illustren Namen wie Bruno Ganz als Spieler und Jeanne Moreau als Frau des Poeten, mit der Handke in den 70ern für einige Jahre zusammenlebte, aber auch Unbekannte wie seine damals aktuelle Ehefrau Sophe Semin oder Eustaquio Baraju als Dichterfürst – und die, die von ihrer Umgebung ausgehen, als feinironische Choreographien inszeniert. Immer mal wieder sitzt unsere Pilgertruppe stumm und regungslos an Bächen, auf Weiden, an Wegesrändern, und Fahrradfahrer, Jogger oder Motorcross-Fahrer müssen plötzlich, obwohl um sie herum genügend Platz wäre, unbedingt mitten durch ihre Gemeinschaft hindurchpreschen. Zuweilen vermitteln auch Kameraschwenks oder Montage-Ellipsen ein Augenzwinkern, das einen etwas von der dem Film immanenten Steifheit und Gesetztheit erlöst. Ich mochte es, wenn unsere Helden auf einmal, ohne dass der Film das irgendwie erklären würde, abwechselnd als Fahrer und Fahrerinnen eines Linienbusses fungieren, oder wenn sie auf einem Felsen über einem reißenden Wildbach campieren, und die Kamera abwechselnd in die eine oder andere Richtung guckt, und von dort immer mehr Wanderer herbeiströmen, bis sie regelrecht umzingelt sind von sie interessiert anstierenden Menschen, als seien sie besonders exotische Zooexponate. Was ich indes überhaupt nicht mochte: Wenn Jeanne Moreau am Ende minutenlang direkt in die Kamera monologisiert, und ich verzweifelt nach einem Funken Selbstironie in ihrem Gesicht und Handkes Sätzen suche. Oder wenn Bruno Ganz und Sophie Semin, nebeneinander sitzend, soweit ich das verstanden habe, eine frühere Begegnung rekapitulieren, sich dabei nicht einmal in die Augen schauen, und derart emotionslos ebenfalls minutenlang ihre Dialoge herunterbrechen, dass dagegen Bresson wirkt wie Zulawski. Oder wenn kurz vorm Abspann unbedingt noch versucht wird, die Elfenbein-turmhaftigkeit des Films zu negieren, indem Handke auf den zu lodern beginnenden Jugoslawienkrieg verweisen muss, was im realitätsentrückten Kontext der vorherigen eineinhalb meditativ-einschläfernden Stunden nicht ansatzweise so überwältigend wirkt wie Jodorowskys „Zoom back, camera!“ und die damit einhergehende Enttarnung der kinematographischen Illusion in HOLY MOUNTAIN.

Bedeutungsschwanger, hochgradig verklausuliert, demonstrativ dem Publikums-Gros den Rücken zukehrend, jedoch dabei, zumindest mir, nichts viel von Bedeutung mit auf den Weg gebend, mich nicht mal anheizend, die Verklausulierung interpretatorisch aufdröseln zu wollen, und bei aller Verweigerungshaltung eben keine nach Kippen und Alkohol riechende Lou-Reed-Lederjacke tragend, sondern einen bildungsbürgerlichen Blazer, das ist Handkes DIE ABWESENHEIT, trotz der einen oder anderen angenehm absurden Idee und Landschaftsbildern, die ich mir gerahmt übers Bett hängen würde, für mich.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Produktionsland: Deutschland 1978

Regie: Peter Handke

Darsteller: Edith Clever, Bruno Ganz, Rüdiger Vogler, Angela Winkler, Gérard Depardieu, Bernhard Wicki
Wie man eine Sache plötzlich noch mehr liebt, obwohl man eigentlich gerade mit einer ganz anderen Sachen beschäftigt gewesen ist
Das ist die Ausgangsposition der Geschichte meines liebsten Films von allen, Andrzej Zulawskis POSSESSION aus dem Jahre 1980: Ein Mann kehrt von einer rätselhaften Geschäftsreise – angeblich in eine Gegend, wo es Polarbären gebe – zu seiner Familie nach Westberlin zurück. Seine Frau wirkt distanziert, entfremdet. Man liegt weit auseinander im gemeinsamen Bett, eine unsichtbare Mauer zwischen sich, und hat nicht einmal mehr Lust aufeinander. Schließlich verschwindet die Frau, hinterlässt nur eine Notiz: So könne sie nicht weitermachen. Die Trennung ist besiegelt. Allein bleibt der Mann mit dem Kind in der Wohnung zurück, entleert von jeglichen Idealen, auf die er sich bislang gestützt hat. – Das ist die Ausgangsposition der Geschichte desjenigen Films, den ich neulich Abend zum ersten Mal gesehen habe, Peter Handkes DIE LINKSHÄNDIGE FRAU aus dem Jahre 1978: Ein Mann kehrt von einer nicht näher spezifizierten Finnlandgeschäftsreise nach Paris zurück, wo er mit seiner Familie lebt. Seine Frau wirkt distanziert, entfremdet. Man geht zusammen essen, gönnt sich eine Nacht in einem Luxushotel. Näherbringt die Beiden das dennoch nicht. Schließlich eröffnet sie ihm bei einem Spaziergang, dass sie eine Erleuchtung gehabt habe: Sie müsse ohne ihn sein, wolle die Trennung, und dass er aus ihrer gemeinsamen Wohnung ausziehen solle. Allein bleibt sie mit ihrem kleinen Sohn dort zurück, und bringt sich peu à peu bei, wie dieses Leben aussehen soll, alleinerziehend, ohne Mann an der Seite, mit einer fordernden Freiheit konfrontiert.

Die Parallelen sind zu sinnfällig, um als bloße Zufälle abgetan werden zu können. Es steht für mich fest, dass Zulawski, als er Ende der 70er, Anfang der 80er zum zweiten Mal aus seinem Heimatland Polen ins Exil getrieben wird, nach New York, nach Paris, letztlich nach Westberlin, wo er sein Meisterwerk dreht, Handkes Spielfilm gekannt haben muss, und dass er in diesem sogar sozusagen eine Art Seelenverwandten gefunden haben könnte: Zulawski hat zu dem Zeitpunkt die Trennung von seiner ersten Ehefrau, der Schauspielerin Malgorzata Braunek, hinter sich, die mit einem selbsternannten Guru durchgebrannt ist, und ihn mit dem gemeinsamen Sohn zurückgelassen hat. Auch Handke ist in den 70ern alleinerziehender Vater, nachdem die Mutter seiner Tochter ihn verließ – eine schmerzliche Erfahrung, die er in zahllosen autobiographischen Texten und Photographien verarbeitet. Beide Männer sind außerdem gestrandet fern ihrer Heimat: Der Österreicher Handke zieht freiwillig nach Frankreich, in einen Vorort von Paris, wo er heute noch lebt, und Zulawski wird quasi vom Set seines anderen Meisterwerks, dem Science-Fiction-Epos NA SREBRNYM GLOBIE, als politischer Dissident aus dem Land gejagt, worauf auch seine Wahlheimat Frankreich werden wird.

Das sind aber anekdotische Details, die aufgrund ihrer mangelnden Originalität nicht weiter ins Gewicht fallen sollen. Wie viele Männer wurden Ende der 70er von ihren Frauen verlassen? Wie viele Kunstschaffende waren darunter? Selbst wenn Zulawski DIE LINKSHÄNDIGE FRAU in Paris oder Berlin auf der großen Leinwand sieht, was bedeutet das, wenn die beiden Filme doch von ihrer ganzen Machart derart unterschiedlich sind? Bei Zulawski regiert, wie man weiß, die Hysterie, das Chaos, die vollumfängliche Destruktion. Wenn sein Ehepaar, Marc und Anna, sich in Szenen einer Ehe am Rande epileptischer Anfälle und weit über diese hinaus sich nicht nur psychisch gegenseitig zerfleischen, dann muss das bei ihm konsequent im Dritten Weltkrieg münden. Ihre Liebe zueinander ist so monströs, dass sie letztendlich die gesamte Welt mit in den Abgrund reißt. Vollgestopft ist POSSESSION außerdem mit derart vielen, oftmals relativ subtilen, Querverweisen zu Politik, Literatur- und Kunstgeschichte, selbstreflexiven Zügen, die ihn in einem seiner zahllosen Subtexte zu einem Manifest der Zulawski’schen Poetologie stempeln, und Genre-Versatzstücken aus Agententhriller, Ehedrama und vor allem Monsterfilm, dass Kritiker, obwohl es wohl noch eins der heterogeneren Werke Zulawskis ist, bemängeln könnten, er breche unter seiner schierer Fülle an Inhalt regelrecht zusammen. Wem das noch nicht reicht, der wird einer nervösen Handkamera ausgesetzt, einer rapiden Montage, Schauspielern, die ihre Dialoge hecheln, kreischen oder bedeutungsschwanger flüstern, jedoch kaum einmal realistisch aufsagen, und Szenen reinster Transgression, von denen der Badewannenselbstmord eines Kindes, Isabelle Adjanis Sex mit einer oktopusartigen Kreatur und ihre Fehlgeburt in einem Berliner U-Bahn-Schacht wohl die verstörendsten darstellen.

Ganz anders Handke, bei dem nicht nur die Geschlechterrollen vertauscht sind, d.h. im Fokus als Substitut und alter ego seiner selbst die titelgebende Schriftstellerin steht, während ihr Ex-Mann es ist, der immer mal wieder sporadisch auftaucht, um den Sohn zu besuchen, ihr Vorwürfe zu machen, ihr gönnerhaft Geld anzubieten. Was in POSSESSION an Handlung regelrecht überbordet, weicht in DIE LINKSHÄNDIGE FRAU einer narrativen Reduktion, die Fragmente, statische Bilder, scheinbar wahllose Impressionen aus dem Leben Evas, wie Handkes Heldin heißt, aneinanderreiht. Sie tippt an ihrer Schreibmaschine. Sie zeltet mit dem Sohn eine Nacht im Wald. Sie sitzt in Cafés, fährt Bahn, trifft sich mit ihrem Verleger, ihrer besten Freundin. Handke erforscht seine Figur aus weiter Distanz, emotionslos, schmucklos, wobei seine Kamera teilweise sogar mehr an tristen Häuserfassaden, Stadtparklandschaften, und langen Aufnahmen aus fahrenden Zügen heraus interessiert scheint statt daran, seine Protagonistin psychologisch greifbar werden zu lassen. DIE LINKSHÄNDIGE FRAU wirkt in technisch-ästhetischen Belangen wie Schauspielerführung, Kameraarbeit, Soundtrack, Schnitt etc. wie die exakte Antithese zu POSSESSION. Was sich dort an Gefühl exzessiv in die Physis der Akteure einschreibt, ist hier kaum sichtbar. Es ist wie mit jenen Filmen der Berliner Schule, wie sie beispielweise Angela Schanelec seit Jahrzehnten dreht: Die Emotionen sind noch weiter heruntergekocht als wir das aus unserem eigenen Alltag kennen, die Darsteller sprechen tonlos, wenn sie nicht sowieso schweigen, und es bei vermeintlich vielsagenden Blicken und Gesten belassen. Dazu dokumentiert die Kamera einfach nur, und reiht die Montage letztlich nur bruchstückhaft aneinander. In Schanelecs neustem Film, DER TRAUMHAFTE WEG von 2016, geht das so weit, dass das Endergebnis zumindest mir nicht mehr wie ein Film vorkommt, sondern eine bloße Versuchsanordnung von Fragmenten, die so oder auch völlig anders zusammengezimmert hätten werden können.

Es sind zwei unterschiedliche Verweigerungshaltungen, die Handke und Zulawski zum Ausdruck bringen. Handkes Puritanismus zieht sich in sich selbst zurück. Er möchte keine Zugeständnisse machen an klassisches Erzählkino, an Publikumsunterhaltung, an Moden und Klischees. Sein Autorenkino ist weitgehend geprägt von einem freudlosen Existenzialismus, in den zuweilen überraschende Absurditäten brechen, zuweilen Gérard Depardieu an verlassenen Bahnhofsteigen herumsitzt, Rüdiger Vogler als arbeitsloser Schauspieler sich selbst spielt, und ansonsten so wenig passiert, dass es eine meditative Stimmung evoziert, der man sich hingeben kann, wenn man möchte, aber nicht unbedingt muss. Zulawski wiederum wählt den Weg der Subversion durch Affirmation. Nahezu jeder seiner Filme ist an der Oberfläche einem bestimmten Genre verpflichtet: L’AMOUR BRAQUE ein Gangster-Actioner, DIABEL ein historischer Kostümfilm, LA NOTE BLEUE ein Biopic. In POSSESSION werden Menschen von einem glibberigen Ungeheuer verspeist, es treten Agenten und Gegen-Agenten auf, und im Finale explodieren unmotiviert ganze Autoreihen. Indem er die Konflikte seiner Figuren bis zur Grenze der Konsumierbarkeit steigert, überführt er sie in einen Hyper-Realismus, der sie erst recht evident werden lässt. Ihre Verzweiflung, ihre Dramen, ihre Wut werden psychisch spürbar, da Zulawski all diese Gemütsäußerungen, statt sie psychologisch zu gründen, durch überhaupt nichts abfedern. POSSESSION ist derart plakativ, dass er schon wieder realistisch wirkt. Vor allem fordert er von seiner Zuschauerschaft eine (emotionale) Stellungnahme. DIE LINKSHÄNDIGE FRAU kann faszinieren oder langweiligen, man kann dem Film, wie ich das getan habe, in einer eigenartig sedativen Stimmung folgen, oder aber kurz den Raum verlassen, um sich einen Tee zu kochen. POSSESSION lässt durch seine Maschinengewehrsalven auf sämtlichen sensualistischen Ebenen nur zwei Möglichkeiten zu: Ausschalten oder dranbleiben, ihn hassen oder lieben.

Unterstreicht aber, was ich bisher geschrieben habe, nicht eher die Differenzen als die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Filmen? Weshalb bin ich mir so sicher, dass Zulawski DIE LINKSHÄNDIGE FRAU als Folie herangezogen hat, um sie in POSSESSION durch den ironischen Fleischwolf zu drehen, und sich auf diesem Wege über ein entschlacktes, unterkühltes, selbstbezügliches Autorenkino lustig zu machen, dessen erklärter Feind sein eigenes Oeuvre größtenteils ist? Weil POSSESSION bis in unbedeutende Details hinein motivische Überschneidungen zu DIE LINKSHÄNDIGE FRAU kennt. Gestern war ich regelrecht sprachlos darüber, wie viele Gemeinsamkeiten es dann tatsächlich sind. Von der grundsätzlich identischen, nur geschlechterspezifisch invertierten Kerngeschichte abgesehen, finden sich: U-Bahn-Fahrten; Kinder in Badewannen; ein Paar, das in einer fremdsprachigen Großstadt lebt; der nicht weiter erklärte Auslandsaufenthalt des Vaters; eine Lehrerinnennebenfigur; ein (Beinahe-)Autounfall auf offener Straße; Ohrfeigen in Frauengesichter; ein rufendes Kind als Störfaktor einer geschlechtlichen Vereinigung; einen auffällig in Szene gesetzten Frauenmantel; einen Film-im-Film; selbst Bernhard Wicki, der bei Handke Evas leicht lüsternen Verleger spielt, sollte ursprünglich in Zulawskis Film eine Nebenrolle als Annas (jüdischer) Ex-Mann bekleiden – (und ist, wie Zulawski in einem Interview erzählt, letztlich aus dem Drehbuch gestrichen worden, weil er am Set immer nur sturzbetrunken aufkreuzte). Es sind, wie gesagt, bloße Motive, kleine Details, die jedes für sich kaum der Rede wert wären, im Zusammenspiel aber wirken wie eine Partitur, ein Grundstock, eine Ausgangsbasis, von der aus Zulawski dann seine eigenen fiebrigen Visionen aufgescheucht hat. All das macht POSSESSION für mich nicht schlechter, nicht besser, nur noch reicher um einen weiteren jener Querbezügen, die ich nach zehn Jahren und mindestens vierzig Sichtungen des Films immer noch am Freischaufeln bin.

Eine Szene verdeutlicht das, was Handke und Zulawski trennt, vielleicht am schönsten. Bruno Ganz als Evas Ex-Mann ist zu Besuch, und hält ihr eine Standpauke. „Bald wirst Du einen alten Hals haben... Eines Tages wirst Du Dich aufhängen! Kaust an den Fingernägeln!", sagt er zu ihr, worauf sie ihn zu beschwichtigen versucht: „Das Kind schläft!" Unbeeindruckt poltert Bruno weiter: „Du sagst das Kind, als ob es für mich keinen Namen mehr haben dürfte. Ihr Frauen mit eurer mickrigen Vernunft, mit eurem brutalen Verständnis für alles und jeden, und nie ist euch langweilig, ihr Taugenichtse, den ganzen Tag sitzt ihr herum, und lasst die Zeit vergehen. Warum nie etwas aus euch werden kann? Weil ihr euch nie alleine betrinkt." Es ist eine lange Litanei, die Bruno seiner Ex-Frau und uns entgegenschießt. Sätze, Sätze, Sätze, die verdeutlichen, wie kaputt die Beziehung der Beiden zueinander ist. Handkes Figuren reden viel, und handeln wenig. Was tun die Figuren Zulawskis in der gleichen Situation? Marc beschimpft Anna als Schlampe, ohrfeigt sie bis ihr die Nase blutet, während sie ihn weiter provoziert, verfolgt sie auf die Straße, wo sie bewusst einen Abschleppwagen, der ein demoliertes Auto mit sich führt, zur Kollision mit einer Straßenlaterne bringt. Danach: Ihr blutverschmiertes Gesicht in Großaufnahme, wie es sich mit weit aufgerissenen Augen und manischem Blick der Kamera zuwendet.

Freilich ist DIE LINKSHÄNDIGE FRAU von sämtlichen vier Filmen, die der österreichische Schriftsteller zwischen 1971 und 1992 inszeniert hat, der mit Abstand zugänglichste, konventionellste, verständlichste. Einmal fernab all der POSSESSION-Bezüge kann ich ihn jedem empfehlen, der nicht schreiend davonläuft, wenn er die Namen ähnlicher Exponenten des deutschsprachigen Autorenkinos der 70er wie Wim Wenders, Volker Schlöndorff oder Margarethe von Trotta hört. Den zugehörigen Roman habe ich nie gelesen.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Des Morts

Produktionsland: Belgien 1979

Regie: Thierry Zéno, Dominique Garny, Jean-Pol Ferbus

Darsteller: Tote und lebende Menschen aus Asien, Europa und den USA
Mit VASE DE NOCES hat der belgische Experimentalfilmemacher Thierry Zéno der Kinogeschichte 1974 eines ihrer, meiner Meinung nach, transgressivsten Artefakte geschenkt. Die komplett dialoglose, einzig mit Monteverdi und verstörenden elektronischen Klangflächen Alain Pierres untermalte Geschichte eines Mannes, der einsam und verlassen auf einem Bau-ernhof lebt, eine Liebesbeziehung zu einem Schwein beginnt, mit diesem einen Wurf Ferkel zeugt, die er, nach dem erfolglosen Versuch, seine Nachkommen zu Menschen zu erziehen, allesamt aufknüpft, worauf die Muttersau den Freitod wählt, sehe ich zum ersten Mal mit fünfzehn oder sechzehn in einer Fassung, die damals auf irgendwelchen Torrent-Seiten kursiert sein muss: Das Bild ist miserabel, der Ton asynchron, außerdem stockt die DVD-R, die mir ein Freund gebrannt hat, mindestens jede Viertelstunde, und man muss sie aus dem Laufwerk nehmen, und neu laden lassen. Trotzdem entfaltet VASE DE NOCES seine volle Wirkung bei meinem früheren Selbst. Ich habe noch keinen Plan davon, wie stark der Film in der mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Bildwelt eines Hieronymus Bosch oder Pieter Bruegel verhaftet ist. Mir erschließen sich die alchemistischen Experimente nicht, die die von einem äußerst leidensfähigen Dominique Garny verkörperte namenlose Hauptfigur mit ihren eigenen Exkrementen anstellt. Ich stehe vor einem Rätsel, inhaltlich überhaupt mehr aus dem Film herauszulesen als eine meditative Abfolge schwermütiger und schockierender Schwarzweißbilder. Dass der US-amerikanische Verleihtitel THE PIG FUCKING MOVIE diesem lyrischen, wenn auch extremen Meisterwerk Unrecht tut, ist mir freilich dennoch schon damals klar. Jahre später liegt VASE DE NOCES bei Camera Obscura in einer vorbildlichen DVD-Edition vor: Mit einem Essay von Stiglegger, einem Video-Interview mit Thierry Zéno, und natürlich mit synchronem Ton, und einer Bildqualität, die einen glasklar erkennen lässt, was sich da vor einem gerade abspielt. Meine ursprüngliche DVD-R mit der etwas manierierten Handschrift jenes Freundes von einst, den ich seit mindestens zehn Jahren nicht mehr gesehen habe, wahre ich dennoch weiterhin wie einen Schatz aus Kindertagen.

Damals, in meiner Euphorie über VASE DE NOCES, habe ich mir für relativ wenig Geld den Nachfolgefilm Zénos gekauft, der bereits in einer allerdings wenig vorbildlichen Edition bei Woodhaven Entertainment erschienen war, sprich, offenbar direkt von einer verrauschten VHS auf DVD kopiert, und damit optisch ungefähr auf dem Niveau wie die Fassung von VASE DE NOCES, die ich seinerzeit vorliegen hatte. Das Team um Zeno ist identisch mit dem, das schon VASE DE NOCES fünf Jahre zuvor inszeniert hat: Dominique Garny wird neben Jean-Pol Ferbus als Co-Regisseur geführt, und erneut steuert Alain Pierre einen sparsamen, jedoch eindringlichen Elektro-Score bei. Nur wird diesmal keine bildgewaltige, sperrige Allegorie erzählt. DES MORTS ist, wie der Titel bereits andeutet, ein Panorama menschlichen und animalischen Sterbens rund um den Globus und quer durch die Zeiten. Zéno und sein Team bereisen die Vereinigten Staaten, Europa, Asien, um ihre Kameras auf Begräbnisrituale, auf siechende Körper, auf rituelle Schlachtungen, auf Seziertische oder Tiersärge zu richten. Ohne die italienische Mondo-Formel und deren shockumentary-Derivate wie vor allem John Alan Schwartzs FACES OF DEATH wäre dieser Film undenkbar. Doch obwohl Mark Goodall in einem der wenigen (populär-)wissenschaftlichen Texte zu Zénos Film argumentiert, dieser würde knietief in der Tradition dieses Genres irgendwo zwischen Exploitation, Dokumentarfilm und Kunstkino waten, mutet DES MORTS mir eher wie eine bewusste Gegenfigur zu den tabubrechenden Bildern an, die zuvor Regisseure wie Jacopetti und Prosperi, oder die Castiglioni-Brüder, oder Climati und Morra in ihren Mondo-Spektakeln untergebracht haben, um ihr Publikum, indem sie es an die eigene Vergänglichkeit erinnern, mit einem Nervenkitzel sondergleichen zu versorgen.

Was konstituiert einen Mondo-Film? Zunächst einmal seine Montage. Was wäre allein der originale MONDO CANE, wenn Jacopetti, Prosperi und Cavara nicht so ziemlich jeden schnitttechnischen Kniff angewandt hätten, um ihre Zuschauer affektiv zu überwältigen? Da wird mitten in einem Zoom geschnitten, da gefrieren die Bilder, da überwindet ein einzelner Schnitt Raum und Zeit, und lässt Dinge aufeinanderstoßen, die so wenig miteinander zu tun haben, dass ihr Zusammenprall einem visuellen Schock gleicht. Was wäre MONDO CANE außerdem ohne den suggestiven Orchesterscore Riz Ortolanis, der nicht nur die Herzen von Oscar-Jurymitgliedern höherschlagen ließ, sondern dessen Titelsong „More“ zu einem veritablen Pop-Hit avancierte? Was wäre MONDO CANE zuletzt ohne seinen voice-over-Kommentator, dessen zynischem Nihilismus und augenzwinkerndem Spott nun wirklich alles zum Opfer fällt, was Menschen tun oder nicht tun – seien es die Fruchtbarkeitsriten eines indigenen Volks, der Cargo-Kult auf Neuguinea, die Verwirrungen der Modernen Kunst, oder das unkoordinierte Umherpurzeln sturzbesoffener Reeperbahngäste? All das findet sich in DES MORTS entweder gar nicht, oder lediglich in Rudimenten. Einen Off-Sprecher erspart Zéno uns gänzlich. Die Musik Alain Pierres ist derart zurückhaltend, dass sie einem bei den seltenen Gelegenheiten, wo sie erklingt, kaum richtig zu Bewusstsein dringt. Eskapaden der Montage beschränken sich im Grunde auf die genre-üblichen Gegenüberstellungen von Praktiken in unterschiedlichen Kulturkreisen. Dichotomien-Pärchen sind zum Beispiel: In Thailand wird eine ältere Frau über Tage hinweg beigesetzt, ihr ganzes Dorf übt sich in Trauergeschrei, mehrere Ochsen werden geschlachtet, ein Hahn, ein Schwein, während in den USA Leiharbeiter den Sarg mit den leiblichen Überresten von jemandem, den sie nicht mal gekannt haben, zu plärrendem Radio-Rock fachmännisch in sein Erdloch lassen. Aus einem Flugzeug wirft ein Pilot hauptberuflich die Asche Verstorbener ins Meer, während zugleich Hindus ihre Toten einfach einem Heiligen Fluss überlassen, der sie mit sich nimmt, und zwischen Badenden verwesen lässt. Ein Bestatter richtet einen Toten her, säubert ihm die Nägel, kleidet ihn ein, übertüncht sein Tot-Sein, und seine öffentliche Repräsentation während der Trauerfeier korreliert so überhaupt nicht mit dem Eindruck, den sein eingefallener Leib kurz zuvor noch im Leichenschauhaus erweckt hat.

Wo genau wir uns gerade auf der Welt befinden, erklären uns nüchterne Ortsbestimmungen, die in Textform über den Bildern erscheinen: Le 19 juin, Bovesse, Belgique. Le 23 mai, Maesanga, Thailande. Le 17 janvier, Los Angeles, USA. Manchmal sprechen Menschen zu uns. Bei einer buddhistischen Grablegung singen die Mönche. Die Untertitel geben nur den Inhalt ihrer rituellen Gesänge ohne weiterführenden Kontext wieder. Ein an Muskelschwund erkrankter Mann erklärt, dass er weiterhin am Leben hänge, trotzdem er keine seiner Extremitäten mehr bewegen kann, und eigentlich nur noch darauf wartet, dass auch sein Herz stagniert. Ein Bestatteter führt uns gleich im Prolog in die erforderlichen Maßnahmen ein, die zu treffen sind, wenn man einen frischen Leichnam vor sich liegen habe, und ihn für die Beisetzung herausputzen soll. Ansonsten überlässt Zéno uns den Bildern, und die Bilder uns. Sein Film ist schnörkellos, ohne Schauwerte. Wenn gezeigt wird, wie in einem mexikanischen Krankenhaus die Opfer von Messerstechereien und Raubüberfällen reihenweise wegsterben, oder wenn wir zwei Pathologen dabei zuschauen, wie sie einen Leichnam öffnen, oder wenn wir einen langen Blick in einen Kremationsofen werfen, in dem gerade ein menschlicher Körper von Flammen verzehrt wird, dann verhandelt der Film das mit einer Beiläufigkeit, einer Alltäglichkeit, einer Unaufgeregtheit, die einfach nur bebildern möchte, und keinen Hintergedanken dahingehend hegt, in mir das wachzurufen, was der sensualistische Philosoph Edmund Burke schon im achtzehnten Jahrhunderts als „delightful horror“ bestimmt hat: In der Sicherheit meines Fernsehsessels ergötze ich mich an Bildern des Unsagbaren wie Folter, Leid oder eben Tod, eben weil ich mich in der Sicherheit meines Fernsehsessels weiß. Zéno, Garny und Ferbus sind Chronisten des Todes und unseres Umgangs mit ihm. Dies geschieht!, sagen mir ihre Aufnahmen von bei Stierkämpfen zu Tode gespießter Bullen, noch zuckender abgetrennter Ziegenhäupter, oder – möglicherweise die Szene, die sich am meisten ins Mondo-Terrain herüberbeugt – das „Television Archive Document“ eines philippinischen Guerilla-Kämpfers, der aufgrund des Verdachts auf Verrat von seinen Kameraden erschossen wird: Während der Mann sterbend im Gebüsch liegt, schaufelt man ihm seine Grube. Dies geschieht!, oder, im Sinne von Roland Barthes‘ Photographie-Noema: Es-ist-so-gewesen. Da schwingt keine Anklage mit, kein blödes Feixen, keine Sensationslust, keine Agenda, die über die reinen Bilder hinausgreifen würde. Wenn DES MORTS eine solche besitzen soll, muss ich die ihm schon selbst hinzudichten.

Undenkbar wäre DES MORTS möglicherweise auch ohne eine grundlegende thanatologische Studie, die nur zwei Jahre früher, 1977, von dem französischen Mediävisten Philippe Ariès veröffentlicht wird: L’HOMME DEVANT LA MORT untersucht das Verhältnis des Menschen zur eigenen Sterblichkeit vom Mittelalter bis in die Neuzeit, und basiert dabei auf einem ausufernden Konvolut an Dokumenten wie Testamenten, Grabinschriften, literarischen Zeugnissen, künstlerischen Darstellungen. Was bei Ariès ein diachrones Unterfangen ist – wir folgen dem Tod quer durch die Jahrhunderte von seiner gezähmten Form im frühen Mittelalter, als man ihn als integralen Bestandteil des Lebens betrachtete, bis hin zu seiner verwilderten Form im zwanzigsten Jahrhundert, wo man ihn an die Peripherien der Gesellschaft exiliert und mit einem Tabu belegt hat –, stellt bei Zéno ein synchrones dar. Anders als Ariés, der nur die westliche Welt im Blick hat, schweift derjenige Zénos von Ost nach West, von Nord nach Süd: In einer beschaulichen belgischen Kleinstadt werden die Toten noch in einem katholischen Zeremoniell zu Grabe gebracht wie ihre Ahnen vor hunderten von Jahren. Auch im nepalesischen Pashupatinath entledigt man sich der Toten wie seit Menschengedenken, indem man sie in einen Zufluss des Ganges wirft, wo sie fortan verfaulend mit den Wellen treiben. Demgegenüber stehen vergleichsweise moderne Umgangsweisen mit Toten wie die Kyronik, das Einfrieren Verstorbener zum Zweck, sie, wenn die Technik erstmal so weit sein sollte, wiederzu-beleben, oder auch das Medium des Films, das die Verflossenen in ihrer Lebendigkeit festhalten zu vermag: Eine Frau lässt immer wieder die letzte Video-Aufnahme ihres an Leberkrebs verschiedenen Mannes ablaufen, da dies die einzige Möglichkeit für sie ist, noch einmal seine Stimme zu hören, seinen lebenden Körper zu sehen.

Auch hier aber kein Ausspielen der Zivilisation gegen die archaischere Gesellschaft, oder der Tradition gegen die Moderne: Zéno macht sich nicht lustig, bewertet nicht, hebt nicht die eine Trauerpraxis über die andere. Er ist wie mit dem „wilden Denken“, das Claude Lévi-Strauss Anfang der 1960er in die Ethnologie einführt. Laut Lévi-Strauss seien naturnah lebende Kulturen stets darum bemüht, sich aus ihren Alltagsbeobachtungen ein holistisches Weltbild zusammenzuzimmern, das sie mit einer über Mythen vermittelten ganzheitlichen Weltanschauung versorgen solle. Es entstehen monströse Klassifizierungssysteme, in denen jedes Element ihrer Umwelt – vom kleinsten Tier und vom entferntesten Vorfahren bis zum breitesten Fluss und zum überwältigendsten Wetterphänomen – seinen Platz findet, und zu den übrigen Elementen in assoziative Beziehungen tritt. Dieses archaische wilde Denken und das moderne gezähmte Denken seien aber keine einander radikal gegenüberstehende Oppositionspaare. Vielmehr handle es sich bei ihnen, argumentiert Lévi-Strauss, einzig um zwei unterschiedliche Verfahrensweisen der menschlichen Spezies, mit der Komplexität der Welt zu Rande zu kommen. Es ist wie mit der Architektur: Die Grundrisse mögen ähnlich sein, doch dort entsteht eine Kathedrale, hier ein Luxusbordell, dort drüben eine einfache Lehmhütte. Oder: Konfrontiert mit dem früher oder später eintretenden Tod erschlagen die einen vier Ochsen, die nur auf die linke Seite fallen dürfen, um eine verblichene Verwandte im Jenseits gnädig zu stimmen, und schieben die anderen ihre Sterbenden in Hospitäler ab, wo sie nicht mehr mit ihnen konfrontiert sein müssen, und kniet eine dritte Gruppe stundenlang schluchzend vor einem nackten Mann an einem Kreuz, während jemand lateinische Phrasen über sie hinwegschickt.

Am Ende enttarnt sich DES MORTS auf einer zarten Meta-Ebene selbst als filmische Illusion. Zuvor haben Zéno und sein Team alles darangesetzt, ihre Anwesenheit als Filmemacher vergessen lassen zu machen. Anders als Jean Rouch oder andere Protagonisten des cinéma vérité, denen es wichtig ist, ihrem Publikum permanent unter die Nase zu reiben, dass es nur ihre subjektive (Kamera-)Sicht ist, denen man auf den Leinwänden beiwohnt, treten Zéno, Garny und Ferbus völlig hinter ihren Bildern zurück. Erst kurz vor dem Abspann kommen sie aus ihrem Hinterhalt hervor, und rekapitulieren den zurückliegenden Film: Aneinandergereiht sind Aufnahmen der Menschen, die wir in der letzten halben Stunde kennengelernt haben, und sie alle schauen mehr oder weniger direkt in die Kamera. Ein Traktorfahrer, der ein offenes Grab mit Erde füllt. Ein Gast einer thailändischen Totenwache. Der Bestatter vom Anfang, der noch immer mit seiner Leiche beschäftigt ist. DES MORTS ist die Anti-These zu FACES OF DEATH, und Thierry Zéno der wohl waghalsigste, mutigste, sperrigste Filmemacher, den Belgien bislang hervorgebracht hat. Er stirbt am 7. Juni 2017, wenige Monate nach unserem letzten E-Mail-Kontakt.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Orozco el embalsamador

Produktionsland: Japan 2001

Regie: Kiyotaka Tsurisaki

Darsteller: Froilan Orozco und seine Toten
Im vierten Kapitel von Wilhelm Raabes 1889 erschienener Erzählung „Der Lar“ treffen sich die Freunde Dr. Kohl junior und Bogislaus Blech nach Jahren, die sie sich aus den Augen verloren haben, zufällig auf offener Straße wieder. „Mit dem wohlwollenden Lächeln eines Mannes, der aus der wohlgesicherten Höhe auf drunten sich abängstendes Gewimmel herabblickt“, schreibt Raabe, „sagte Herr Bogislaus Blech, indem er eine ziemlich umfangreiche, ernsthaft aussehende schwarze Ledermappe mit Silberpressung unterm Arm vornahm, sie öffnete und dem erstarrenden Freunde zur Einsichtnahme hinhielt: ,Meine jetzige Spezialität!‘“ In dieser Mappe wiederum erblickt Kohl zu seiner Verblüffung morbide Photographien, darunter „ein todtes Kind in Blumen“ sowie der seit neun Tagen verstorbene „Geheime Kommerzienrath von Bromberger.“ Auf die Frage, was das zu bedeuten habe, und was denn nun seine Profession sei, antwortet ihm der Freund, er sei „Leichenphotograph, offiziell!“, und zwar „durchaus nicht mit einer Stimme wie aus dem Grabe heraus, sondern freundlich, leichthin, wie Jemand, der auf eine Frage eine eigentlich ganz selbstverständliche Auskunft giebt, eine Erklärung, an die der Andere bloß zufällig augenblicklich gerade nicht selber gedacht hatte.“ Kohl kann seine Entrüstung, seine Abscheu nur halb verbergen, worauf Bloch die sinnfällige Verbindung der beiden bis heute fortwirkenden Hauptbereiche gesellschaftli-cher Tabus, nämlich Tod und Sexualität, vollzieht, wenn er süffisant erwidert: „Lebendige Nacktheit weiblichen Ge-schlechts gefiele auch Dir besser. Natürlich! Mir auch.“

Auch Kiyotata Tsurisaki bezeichnet sich, wenn man ihn nach seinem Beruf fragt, als Leichenphotograph. Nur lebt er ein Jahrhundert später als Raabes Bogislaus Blech, der zu einer Zeit seine Kamera auf tote Körper richtet, als die Photographie gerade noch dabei ist, aus ihren Kinderschuhen herauszuwachsen, und Bilder verstorbener Familienangehöriger in unterschiedlichen Schichten und Kulturen einen dezidiert sozialen Gebrauchswert besitzen: Entweder werden die Toten hergerichtet, als stünden sie noch im Saft des Lebens – wir sehen Kinder in ihren Sonntagskleidchen, der Blick zwar seltsam starr, die Augen aber weit offen; Ehemänner, die ihre leblosen Gattinnen stützen, damit sie den Eindruck erwecken, sie würden nur etwas müde an ihrer Schulter lehnen; Männer in Gewändern, Posen, Interieurs, die die gesellschaftliche Stellung, die sie im Leben innehatten, in ihrem Tod fortsetzen –, oder sie werden (vor allem Frauen, Kinder und Haustiere) als schlafende Schönheiten inszeniert – der sanft entschlummerte Säugling in seiner Wiege; der ruhende Dackel in seinem Körbchen; die junge Frau als schöne Leiche, nach Poe das poetischste aller Themen, auf ihrem Sterbebett. Hundert Jahre später – und Dr. Kohl juniors brüskierte Reaktion darauf, womit sein Jugendfreund sich das Portemonnaie füllt, antizipiert das bereits – hat sich die Beziehung zwischen Photographie und Leiche freilich grundlegend verändert. Wenn wir heute Tote sehen, dann welche, die in Kriegen, bei Unfällen gestorben sind, oder die prominent genug sind, dass uns das Abbild ihres Leichnams in kulturell codierter Weise etwas angeht oder zumindest angehen sollte. Oder aber wir haben uns in arkane Kunstausstellungen verirrt, wo der Kamerafokus genau auf die Phänomene gerichtet wird, die aus dem Alltagsleben exkludiert werden, weil sich niemand gerne freiwillig mit ihnen befasst. Organische Prozesse wie Geburt, Sex oder Verwesung wären die Hauptvertreter dieser modernen Parias, um die sich nunmehr sowohl die allerdings ebenfalls unter Ausschluss der Öffentlichkeit operierende Konzeptkunst kümmert, oder aber die feuchten Katakomben digitaler Netzwerke, wo Gräuelbilder und -videos per Mausklick abrufbar sind, wenn ich nur versichert habe: Ja, natürlich bin ich über Achtzehn. Kiyotata Tsurisaki ist eine Figur, die irgendwo an der Schnittstelle zwischen beidem entlanggeht, sich nicht festlegen lässt, und sich nicht festlegen will.

Früher hat der Japaner BDSM-Pornos gedreht. Mitte der 90er entdeckt er seine wahre Profession. Er zieht über den Erdball, und lichtet Leichen ab – in Thailand, Russland, Palästina oder Kolumbien, wo er jahrelang einen Bestatter namens Froilan Orozco zunächst mit der Photo-, dann mit der Videokamera bei der Arbeit begleitet. Orozco ist dafür zuständig, tote Körper so herzurichten, dass sie in ihren Särgen keinen allzu schlechten Anblick abgeben. Er ist kein Pathologe, kein Forensiker. Er soll, wie Bogislaus Blech, seine Leichen einfach in einen Zustand versetzen, der sie nicht allzu schnell in Verwesung übergehen lässt, der ihre tödlichen Wunden und Verletzungen kaschiert, der sie wenigstens ein bisschen wirken lässt wie die Toten, die ab Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die Familienalben bevölkern, und sie zu veritablen Friedhöfen werden lässt. Der Film, zu dem Tsurisaki sein Material schließlich zusammenschneidet, erscheint 2001, und heißt schlicht OROZCO EL EMBALSAMADOR. Zu diesem Zeitpunkt ist sein Titelheld bereits selbst verstorben.

Tsurisakis Tanz auf der oben skizzierten Schnittstelle zwischen Exploitation und Edukation hat, meiner Meinung nach, vor allem damit zu tun, dass er sich, sowohl was seine Photographien als auch, was seinen Debut-Film betrifft, einer schonungslosen cinéma-vérité-Manier verschrieben hat, die die Dinge erst einmal so nimmt wie sie sich ihm darbieten, ohne zu kommentieren, zu kritisieren, oder zu kontextualisieren. Seine Photobände – wie RÉVÉLATIONS, der sich bei seinem Erscheinen regelmäßig dem Vorwurf aussetzen musste, eine pornographische Zurschaustellung der abgebildeten menschlichen Körper zu sein, eine Peepshow in der Pathologie sozusagen – liefern keine Hintergrundgeschichten, die die transgressiven Illustrationen menschlichen Sterbens irgendwo einbetten, und damit konsumierbar machen würden: Woran ist diese oder jene Person gestorben? Wurde ihr Mörder gefasst? Schon gar nicht: Was können wir aus ihrem Tod lernen? Tsurisaki ist ein bloßes Auge. Was es an uns delegiert, damit müssen wir dann selbst fertigwerden. Genau das macht die Einordnung seines Werks in die etablierten Dichotomien von hoher und trivialer Kultur so schwierig. Ist das nun Kunst, vergleichbar mit Warhols DEATH SERIES mit ihren farbig reproduzierten Autounfällen und deren Opfern? Oder ist das nun inhumaner Junk, vergleichbar mit FACES OF GORE und Konsorten mit ihrem genüsslichen Weiden an Körperdekonstruktionen zu Unterhaltungszwecken?

Ich kann höchstens von meiner Seherfahrung bezüglich OROZCO berichten. Skeptisch war ich durchaus, taucht der Titel doch oft und gerne im Netz auf Listen auf, wo die angeblich grauenerregendsten Werke der Filmgeschichte aufgezählt werden, und zwar zwischen Shockumentaries wie FACES OF DEATH und Pseudo-Snuff-Videos wie GUINEA PIG. Allerdings hat mich meine jahrelange Recherche im Sektor des subversiven Kinos ausreichend gelehrt, dass sich selbst in derartigen Listen oftmals versehentlich eine Perle verbirgt, die mehr ist als das, wozu ihre Rezipienten sie herabwürdigen wollen. Gerade Autopsien haben im Experimentalfilm Konjunktur darin, nicht nur mich essentiellen Erfahrungen zuzuführen, die nichts zu tun haben mit plumpen Schock, galligem Zynismus oder semi-pornographischer Nekromantik. Wenn Bogdan Borrowski in LE POÈME von 1985 die Autopsie eines alten Mannes auf der Tonspur mit einer Rezitation von Arthur Rimbauds Gedicht LE BATAUE IVRE über ein sinkendes Schiff synchronisiert – die Off-Stimme bricht ab, noch bevor Rimbauds Schiff den Ozeangrund erreicht hat, als der Leichensack zugeschnürt wird -, oder wenn Herz Frank DIAGNOZ von 1975 zunächst so wirken lässt wie eine betont seriöse Morgue-Dokumentation, diese dann aber durch subtil-surreale Alltagsszenen oder irritierende Kommentare verfremdet, oder wenn vor allem Stan Brakhage 1971 in THE ACT OF SEEING WITH ONE’S OWN EYES komplett ohne Ton für eine halbe Stunde Großaufnahmen sezierender Hände und seziert werdender Körperregionen aneinanderreiht, dann weisen all diese Filme eine Sperrigkeit, einen künstlerischen Formwillen, eine existenzialistische Qualität auf, die sie, glaube ich, für den gewöhnlichen Shockumentary-Aficionado eher un-brauchbar machen. Obwohl man sich da natürlich nie sicher sein kann: Es soll ja Leute geben, die CANNIBAL HOLOCAUST primär für einen kurzweiligen Horrorfilm halten.

Auch OROZCO ist vor einem solchen seine Subversionen über Gebühr als affizierende Stimuli betonenden Zugriff nicht gefeit – wie auch, wo er mir doch gleich in den ersten Minuten zeigt, wie unser Held Froilan stolz eine Kinderleiche präsentiert, sie der Kamera entgegenhält wie einen beliebigen Gegenstand, und sich darüber verwundert gibt, wie klein der Körper doch sei. Orozocos Verhalten wird verständlich, wenn man weiß, dass der Mann, wie uns eine Texttafel aufklärt, in seinem Leben über 50.000 Leichen sargfertig gemacht hat. Noch mehr leuchten seine fehlende Empathie, sein schwarze Humor, seine routinierten Handgriffe ein, wenn man weiß, dass er während der sogenannten „Violencia“, dem jahrzehntelang tobenden Bürgerkrieg zwischen Liberalen und Konservativen, bei der kolumbianischen Polizei angestellt war, und, wie er zumindest einmal beiläufig andeutet, auch für politische Säuberungen und Folterungen verantwortlich zeichnete. Darüber spricht Orozco aber nicht gerne, während Tsurisaki ihm wie ein Schatten folgt, ohne ihn, wie er in einem späteren Interview erklärt, jemals richtig kennengelernt zu haben. Lieber ist es dem Bestatter, detailliert von seiner Arbeit zu berichten – wie man, um Zeit zu sparen, die Eingeweide einfach als chaotischen Haufen in die Bauchhöhle schüttet; wie man die durch das herausgeflossene Blut entstandenen Hohlräume mit irgendwelchen alten Lumpen ausfüllt, um den Leichnam nicht in sich zusammenfallen zu lassen; wie man Glycerin auf die erloschenen Augen tupft, damit sie nicht so glasig wirken; wie man eine Schädeldecke so öffnet, dass das Gesicht unangetastet bleibt, und man es wie eine Maske nach vorne über den Schädel klappen kann; wie man mit einem rostigen Messer Watte in den Mundraum der Toten stopft, um ihre Wangen voller erscheinen zu lassen. Bei alldem wirkt Orozco auf mich alles andere als unsympathisch. Deutlich erklärt er, dass er sein bestes für die Toten geben will – wenn auch letztlich aus pekuniären Motiven: Falls die Leiche frühzeitig zu verwesen anfange, und die Familie fände das heraus, und würde das dem Bestattungsinstitut sagen, dann sei er natürlich seinen Job los. Einmal, als man gerade dabei ist, einen Berg Gedärme zu entnehmen, zu waschen und zurück in die offene Bauchhöhle zu kippen, fragt er seinen jungen Assistenten, ob sie gleich Mittagessen gehen wollen.

Wo Borroswki, Frank, Brakhage ihr Material auf die eine oder andere Weise ästhetisieren – sei es durch ihre Farbgebung, Irritationen innerhalb der Montage, eine kontrapunktische Tonspur – interessiert sich Tsurisaki kein Stück dafür, seine grobkörnigen, schmutzigen Bilder irgendwie zu mildern, indem er sie filmtechnisch bearbeitet, sie mit lyrischen Versatzstücken koppelt oder ihnen bewusst eine Meta-Ebene unterschiebt. Trotzdem ist OROZCO nicht ohne Kontext. Der generiert sich allerdings aus Tsurisakis Streifzügen außerhalb von Froilans Morgue. Immer wieder schneidet er zwischen dessen Arbeit Aufnahmen, die er scheinbar zufällig auf offener Straße gemacht hat. Leichen liegen blutüberströmt am Wegesrand – Opfer von Schießereien, Raubüberfallen, politischen Unruhen. Dazu muss man wissen: Natürlich hat sich Tsurisaki für seinen Film eine der gewalttätigsten Gegenden des per se nicht unbedingt für seine langen Friedensperioden bekannten kolumbianischen Staates ausgesucht – einen Ort, der nicht nur gezeichnet ist von verwahrlosten Hinterhöfen, verfallenen Häuserblöcken, Müll auf offener Straße, sondern an dem der Tod regelrecht in der Luft liegt. Auch das bebildert der Film einfach nur, ohne eine Anklage zu erheben, ohne sich irgendwie moralisch entrüstet zu geben, oder gar Lösungsansätze aufzuzeigen. Alles, was wir als Kommentar überhaupt erhalten, ist ein Folklore-Sequenz aus Gitarre und Trommelbeat, die selbst an den unangebrachtesten Stellen im Film als Leitmotiv fungiert.

Eine Darstellung der Beziehungen zwischen Lebenden und Toten in vermeintlich rückständigen Regionen der sogenannten Dritten Welt kann man OROZCO ebenfalls nicht unterjubeln. Die hygienischen Bedingungen hierzulande mögen besser sein, die Maßnahmen möglicherweise technisch ausgefeilter, die Arbeit weniger der an einem Fließband ähneln – aber ich kann mir vorstellen, dass das nur Sublimierungen sind, mit denen aufgefangen werden soll, dass auch in der westlichen Welt der tote Körper letztlich nur noch äußeren Anforderungen zu entsprechen hat: Denen der Hinterbliebenen, die ihn schmuck hergerichtet ein letztes Mal zu sehen wünschen; denen der Präparatoren, die mit einen möglichst leichten, kurzen Prozess haben wollen; denen einer Gesellschaft, die den Tod an ihre Peripherien verbannt hat, und jegliche Mittel mobilisiert, ihn dort auf Schach zu halten. OROZCO THE EMBALMER als ein Dokument für die Verrohung Lateinamerikas zu verstehen, das wäre genauso verfehlt, wie anzunehmen, dass die Exilierung Sterbender aus dem öffentlichen Bewusstsein irgendwie einen zivilisatorischen Fortschritt darstellte. Vielleicht ist das die Lehre, die ich aus Tsurisakis eindringlichem, eindrucksvollem Film, der mich, wie man wohl schon längst herausgelesen hat, (auch oder gerade weil ich nicht sagen kann, ob das nun Kunst oder Junk ist), sehr berührt hat, am Ende ziehe: Wie der alte Orozco mit seinen Leichen umspringt, wie er sie grob anpackt, hochhievt, sie öffnet, sie dann aber auch schminkt, ihnen die Haare bürstet, und währenddessen bereits darüber nachdenkt, was er zum Mittag essen soll, das erzählt – so furchtbar es zunächst auch anzuschauen sein mag – von einem selbstverständlichen Umgang mit dem Tod, der, wenn man dem Mediävist Philippe Ariès glaubt, einmal der gesellschaftlich vorherrschende gewesen sein muss, und der nun verschüttet liegt unter Verboten, Tabus und Überformungen, die zu einer völlig bizarren Szene führen, die ich erlebt habe, als ich ein paar Wochen ehrenamtlich auf einer Palliativstation gearbeitet habe: Statt ihren Sterbenden zu streicheln, mit ihm zu sprechen, ihm körperlich nahe zu sein, blickt die anwesende Familie kollektiv auf das EKG, und wartet darauf, dass eine langgezogene Linie und ein monotones Fiepen sie erlöst.

Würde ich Bogislaus Blech morgen zufällig auf der Gasse über den Weg laufen, und würde er mir erzählen, was er zurzeit denn so treibe, würde ich ihm, glaube ich, antworten: Wie interessant! Kann ich Dich bei Deinem nächsten Photo-Termin vielleicht als Assistent begleiten?
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