Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: 5 tombe per un medium

Produktionsland: Italien/USA 1966

Regie: Massimo Pupillo

Darsteller: Barbara Steele, Walter Brandi, Mirella Maravidi, Alfredo Rizzo, Riccardo Garrone
Was habt ihr nur immer mit euren Poe-Referenzen, liebe europäischen und überseeischen Gothic-Horror-Produktionen der 1960er Jahre, die ihr mir zwar als vollmundige Versprechen in Vor- und Abspännen aufs Brot schmiert, letztendlich aber doch so gut wie niemals wirklich einlöst? Ihr könnte mich nämlich nicht hinters Licht führen. Ich habe von dem US-amerikanischen Schriftsteller, dessen Werk beispiellos Rückstände schauerromantischer Trivialliteratur mit genuin modernen und teilweise nahezu avantgardistischen Ansätzen vereint, nun wirklich alles gelesen – seien es seine Gedichte, seine essayistischen Texte, seinen einzigen unvollendeten Roman, natürlich seine populären Kurzgeschichten, die den Grundstein für psychologisch motivierten literarischen Horror legten -, und meistens finde ich dort, wo Poe draufsteht, höchstens das eine oder andere versprengte Motiv, einen vertrauten Namen, eine einzige Idee unter vielen, die tatsächlich von ihm stammt oder zumindest von seinen Ideen inspiriert worden ist, oftmals aber auch rein gar nichts, was dieses Schmücken mit fremden Federn rechtfertigen würde. 5 TOMBE PER UN MEDIUM ist auch so ein Fall. Poe soll hier eine nicht näher definierte Vorlage beigesteuert haben. Es gibt allerdings keine Erzählung von ihm, die auf den Titel des Films, oder einen ähnlichen, hört, und auch sonst muss man die Kongruenzen, die zwischen Poes Oeuvre und vorliegender US-amerikanisch/italienischen Co-Produktion unter der Regie Massimo Pupillos, (der allerdings mit dem Endergebnis derart unzufrieden gewesen sein soll, dass er seinen Namen in den Credits freiwillig räumte, damit dieser durch den des Produzenten Ralph Zucker ersetzt werden konnten), in äußerst losen Parallelen suchen wie, dass Poe und Pupillo beide von Menschen, Pferden, alten Gemäuern erzählen. In den zeitgleich entstandenen AIP-Filmen von Roger Corman stolpert man immerhin noch über den einen oder anderen bekannten Handlungsstrang, und in Antonio Margheritis DANZA MACABRA von 1964 tritt Poe immerhin noch höchstselbst in Erscheinung, aber 5 TOMBE PER UN MEDIUM ist ein vollständig eigenständiger Film, der – das sei an dieser Stelle schon einmal mit Nachdruck betont – solcherlei Publikumstäuschung gar nicht nötig hätte, denn: Was für ein wunderschönes, wagemutiges, wildes Werk, das gleich drei meiner liebsten B-Movie-Genres in einer abenteuerlichen Mixtur verrührt: Klassischen Gothic Horror mit Schuhu und Donnerschlag und Türknarzen und viel Trockeneisnebel; klassischen Whodunit-Krimi mit einer Kiste voller roter Heringe und einer Halle voller undurchsichtiger, unsympathischer, unheimlicher potentieller Verdächtiger; klassischen Zombiefilm, bei dem sich die jahrhundertelang verschlossenen Grabdeckel von Individuen, die noch in ihren Särgen besinnungslos vor Rache kreischen, langsam heben, um die Gegenwart mit einer blutdürstigen Vergangenheit zu überschwemmen.

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Abb.1: Würde ich jemals ein Buch über den (italienischen) Gothic-Horrorfilm der 1960er Jahre schreiben, würde ich es "Eine Eule im Getriebe" nennen, und als Cover sollte diese Szenen aus vorliegendem Film dienen, die ich dann auch im Ersten Kapitel ausführlich sezieren würde, um auf die immanente Genre-Dichotomie zwischen Tradition (Eule) und Moderne (Automotor) hinzuweisen, und ich würde neben ihr Goyas Gemälde EL SUENO DE LA RAZÓN PRODUCE MONSTRUOS mit seinen Eulen und Fledermäusen abdrucken lassen, und argumentieren, dass "sueño" im Spanischen sowohl "Traum" als auch "Schlaf" bedeuten kann, und mich fragen: Muss die Vernunft nur einpennen, und dann kommen all die Schreckgespenster, oder träumt die schlafende Vernunft sie am Ende gar herbei?, und so weiter.

Bei der Prologsequenz muss ich an den kleinen Hans denken. Der hieß eigentlich Herbert Graf, und befand sich bei Sigmund Freud in Behandlung, der ihm 1909 seine detailreichste Fallstudie widmet: ANALYSE DER PHOBIE EINES FÜNFJÄHRIGEN KNABEN. Was stimmte nicht mit dem Knaben, dass seine Eltern ihn zum Begründer der Psychoanalyse auf die Couch schickten? Mit viereinhalb wurde er Zeuge eines Verkehrsunfalls. Ein Pferdewagen stürzt auf offener Straße, und mit ihm das ihn ziehende Ross. Seitdem ist Hänschen merklich verstört. Er hat Angst vor Pferden, vor Pelikanen und vor dem Pipi-Machen. Für Freud steht fest: Nur dem Ödipus-Komplex kann die Schuld hierfür in die Schuhe geschoben werden. Die Pferde seien natürlich ein Phallussymbol, und außerdem habe Hans kurz zuvor ein Schwesterchen bekommen, weswegen sämtliche Vorgänge, die mit der Fortpflanzung zu tun haben, ihn in panischen Schrecken versetzen, und er habe mehrmals onaniert, und sein Vater ihm das verboten. Während Freud in heute selbst von psychoanalytischen Hardlinern mindestens kritisch betrachtenden Argumentationslinien seine Theorie zu belegen versucht, Kastrationsängste und Penisneid seien die grundlegenden Pfeiler der menschlichen Kultur, eröffnet er quasi nebenbei, und ohne es zu wollen, erschütternde Einblicke in eine relativ lieblos verlaufende Kindheit um Neunzehnhundert, in der ein Kind nicht zur Projektionsfläche für wissenschaftliche Theorien wird, sondern zudem unter väterlichen Drohungen, mütterlichem Liebesentzug und darunter leidet, dass ein Pferdchen vor seinen Augen verunglückt ist – und wahrscheinlich weniger an uneingestandenen vatermördischen Absichten, oder uneingestandenen inzestuösen Gefühlen der Mutti gegenüber. Wozu dieser Exkurs ins Wien des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, wo wir doch eigentlich im Italien des Jahres 1964 sind? Weil die Prologsequenz von 5 TOMBE PER UN MEDIIM sich als ein atemloser Kurzfilm präsentiert, der die wichtigsten Freud’schen Symbole zu einem dichten Gewebe zusammenschnürt. Der kleine Hans ist groß, und trinkt zitternd und schweißgebadet ein Glas Hochprozentiges in Großaufnahme. Das Quietschen eines Pferdekarrens ist zu hören, Hufgetrappel. Zoom auf eine Glastür, wo ein Arm ihre Außenseite begrabscht. Flucht des Mannes aus einer verlassenen Schenke in einen Traum für jeden Freund gepflegter Schwarzweißphotographie. Die Kamera folgt ihm in einem anmutigen Schwenk, während er durch verlassene Dorfgassen eilt, und schließlich in einem Pferdestall landet, wo er sein Reittier satteln und die Flucht auf vier Beinen fortsetzen möchte. Soweit kommt es nicht: Von der Tonspur dröhnt und trommelt es. Kein Wunder, dass sein Gaul durchdreht und die Hufe spielen lässt. Das Ende des Lieds: Unser Held liegt mit zerschmettertem Schädel – ein Auge guckt vorwurfsvoll aus dem Matsch seines Kopfes in die heranzoomende Kamera – im Heu, und der Titel des Films kann erscheinen. Kann man schöner darstellen, dass ein vor der imaginären Entmannungsschere Fliehender letztlich von einem Penis, der größer ist als der seine, den eigenen amputiert bekommt als in diesem Ensemble aus animalischer, ophthalmischer und konkret-physischer Schwanz-Surrogate? Noch schöner: Pupillos Interpretation ödipaler Triebregungen findet nicht in einer sterilen Seelenklempnerpraxis stattfindet, sondern inmitten der üppigsten Auswüchse des gotischen Grusels.

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Abb.2: Die Kräfteverhältnisse sind natürlich klar abgemessen. Winzig erscheint Alberts Automobil im Vergleich zu den Säulenstempeln, die das Schloss von Bregonville bewachen. So nützlich das technische Vehikel auch ist, so wenig Chancen hat es gegen die rein ornamentale Natur der Vergangenheit. Nach einem Schwenk sehen wir übrigens gleich das Hauff-Anwesen, auf das das Auto zufährt, und erneut vor seiner historischen Größe klein wird wie eine Fliege.

Die bürokratische, durchrationalisierte, mit Paragraphen und harten Fakten operierende Moderne ist indes nur einen Schnitt entfernt: Wir wechseln in eine Rechtsanwaltskanzlei, wo gerade einer der beiden Notare, Joseph Morgan, seinen Hut genommen hat, um übers Wochenende zu einem wichtigen Termin zu eilen, und sein Kollege Albert Kovac deshalb statt seiner einen offenbar dringlichen Brief entgegennimmt, in dem ein sterbender Schlossbesitzer namens Hauff um die Anwesenheit eines Rechtsgelehrten bei dem Aufsetzen seines Testaments bittet. Zwar wundern sich Kovac und Sekretärin ein bisschen über die Handschrift des Verfassers, denn „so schreibe seit Jahrhunderten niemand mehr“, doch natürlich kann man, wie Kovac anmerkt, einem Totgeweihten selbst am Vorabend des Wochenendes seinen letzten Wunsch nicht abschlagen, und schon tritt der nominelle Held unseres Schauerstücks eine Reise an, die ihn in eins jener Paralleluniversum bringt, wie wir es auch aus vergleichsweise Hammer-Produktionen kennen: Da gibt es Leute mit Nachnamen wie Nemek, Stinner oder eben Hauff, und Ortschaften namens Kravitz, Ratzen oder Bregonville, und über manchen Läden sind deren Funktionsbezeichnungen – wie bei einer „Apotheke“ – in Deutsch angegeben. Das ist natürlich eine Verbeugung an die Genre-Tradition. Schon Poe wusste, dass der Schrecken aus Deutschland kommt, und spielt damit auf den immensen Ausstoß trivial-unterhaltsamer Geistergeschichten, Raubritterromane und Räuberpistolen aus deutschsprachigen Ländern Ende um Achtzehnhundert an. Seine erste veröffentlichte short story von 1836 heißt dementsprechend auch noch METZENGERSTEIN, Untertitel: A TALE IN THE TRADITON OF THE GERMAN, und spielt in einem pseudo-mittelalterlichen Phantasie-Ungarn, und ja, auch ein grusliger Gaul hat eine tragende Rolle in ihr inne. Während es nicht viel Sinn macht, der Topographie des Films mit geographischen Kenntnissen auf die Pelle zu rücken, lässt sich exakt indes seine temporale Verortung bestimmen: Wir befinden uns im Frühjahr 1911 – um genau zu sein: im Mai –, denn, wie Kovac erfährt, als er endlich im Schloss von Bregonville ankommt, hat dessen Besitzer bereits vor einem Jahr das Zeitliche gesegnet, während seine Erben – Töchterchen Corinne, die natürlich sofort ein Auge nach Albert wirft, der dieses geschickt aus der Luft zu fangen weiß, sowie Stiefmutter Cleo, die derart unterkühlt und fahl daherkommt, dass der Heizboiler Überstunden leisten muss – sich nicht erklären, wer denn in seinem Namen einen solchen Brief geschickt haben soll: Ist ein makabrer Scherz, eine Verwechslung, eine Notiz aus dem Jenseits? Immerhin ähneln Schrift und Siegel denen des Verstorbenen wie ein Ei dem anderen. Klar, Albert verbringt die Nacht im Schloss, und erfährt dessen Geschichte von der aufmerksamen Corinne: Errichtet sei es auf einem Lazarett des fünfzehnten Jahrhunderts, in dem Pestkranke untergebracht worden sind. Einige von ihnen seien losgezogen, um die Bewohner der umliegenden Dörfer mit ihrer tödlichen Krankheit zu infizieren. Ihre zur Strafe dafür abgehackten Hände kann man noch in Vitrinen im Arbeitszimmer ihres toten Papas bestaunen, und die Gräber der Unglückseligen hinterm Schloss auf dem Acker. Ob Hauff ein ernstzunehmender Forscher gewesen sei, oder nur jemand, der es liebte, seine Besucher zu erschrecken, fragt sich der zunehmend irritierte Albert nicht nur angesichts der wie selbstverständlich ausgestellten Totenhände, sondern auch des Faktotums Kurt, seinerzeit Hauffs buckliger Bediensteter, der immer noch stumm durch die Gemächer schleicht.

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Abb.3: Ein Kamera-Zoom in die Vergangenheit: So sah das Gelände des Hauff-Anwesens früher aus, als da noch ein Siechenlazarett stand, in dem die Pest wütete. Überall in diesem Gemäuer tun sich solche Schlüssellochblicke auf - am Ende ganz leiblich, wenn sich Sargdeckel heben und konservierte Hände zu Wuseln anfangen.

Etwas unterscheidet 5 TOMBE PER UN MEDIUM von ähnlich gelagerten Filmen der italienischen Massenproduktion gotischen Grusels – und das kann man ihm dann doch, mit einigem Biegen und Brechen, als kleine Reminiszenz an die Spezifik von Poes Oeuvre anrechnen. Poe operiert, wie gesagt, mit einem Teil seines literarischen Bestecks im traditionellen Repertoire der Schauerromantik, und mit dem andern in einem rein psychologischen Grauen, das sich aus menschlichen Extremsituationen wie Folter, Wahnsinn oder sexuellen Obsessionen speist. Da gibt es hübsche Frauenleichen, die sich als Scheintote entpuppen, und an traurigen Seen liegende Herrschaftshäuser, und vatikanische Verließe im Zwielicht schlotternder Funzeln, wie man das aus Standardwerken der Gothic Novel von Ann Radcliffe oder Clara Reeve oder Horace Walpole kennt. Da gibt es auch die langsam anschwellende Manie, einen eigentlich harmlosen Menschen zu ermorden, eine Fixation auf die Zähne eines jungen Mädchens, oder mesmeristische Experimente, die ein Leben nach dem Tod ermöglichen sollen. 5 TOMBE PER UN MEDIUM ist ein Film, der diese beiden widerstreitenden Pole direkt an seiner Fassade aushandelt. Schon der Pferdchentraum zu Beginn, indem einfach mal psychoanalytische Theoretisieren im Gewand wohligen Schauders daherkommt, sowie die Wahl des Jahres 1911 deutet auf eine den Film strukturierende Hybris hin: Albert reist nicht mit der obligatorischen Kutsche ins Hinterland, sondern mit seinem Privatwagen. Der tote Hauff hat eine Wachswalze voll Tonaufzeichnungen hinterlassen, wo er, wie Van Helsing in Bram Stokers DRACULA, seine Forschungsergebnisse bezüglich der Siechenvergangenheit des eigenen Schlösschens zum Besten gibt, und, nebenbei, seinerzeit moderne Technik unserem Helden Albert, metaphysischem Grauen auf den Leib rücken. Zugleich aber ist Bregonville ein Ort, der beinahe in seiner morbiden Vergangenheit ersäuft, voller Gemälde, Statuetten und sonstiger Artefakte, die so tun, als sei die Zeit gemeinsam mit ihnen erstarrt. Wunderschön bringt die Szene, die erklären soll, weshalb Albert am nächsten Morgen nicht zurück ins Büro gelangt, sowohl die Diskrepanzen zwischen Progression und Tradition auf den Punkt, sondern führt sie außerdem auf wirklich aberwitzige Weise zusammen. Zwiespältig steht das Hausmädchen der Hauffs Alberts Auto gegenüber. Sie sagt, ihr Großvater habe sie immer vor den Dingern gewarnt. Trotzdem ist sie neugierig: Fährt das denn dann von selbst? Albert kurbelt derweil, um den Motor in Bereitschaft zu versetzen. Da dringt ein Geräusch unter der Haube hervor, als ob man einer Katze auf den Schwanz getreten hätte. Als er einen Blick ins Innere des Fahrzeugs wirft, stellt er fest, dass sich eine Eule im Getriebe verfangen hat. An eine Weiterfahrt ist nicht zu denken. Der regelrecht zerfledderte Vogel verklebt und verkeilt den Motor. Es ist ein Angriff der vergangenen auf die gegenwärtige Zeit, so, als sei der Nachtvogel aus dem berühmten Goya-Gemälde vom Schlaf/Traum der Vernunft herbeigeflattert, um das Herandrängen der technologische Moderne in die Einöde von Bregonville durch den Einsatz des eigenen Lebens vernichtend zurückzuschlagen. Albert jedenfalls bleibt nichts übrig, als erst einmal vor Ort zu bleiben, sich in Corinne zu verknallen, zusammen mit dem Dorfarzt Dr. Nemek dem Rätsel um einen briefeschreibenden Verstorbenen nachzugehen, und sich alsbald dem noch größeren Rätsel gegenüberzusehen, dass alle fünf Zeugen, die den Tod Hauffs miterlebt haben – er soll sturzbesoffen eine Treppe runtergestürzt sein – entweder bereits innerhalb eines Jahres von Herzlähmung dahingerafft worden sind, oder ihnen jetzt vor den Augen wegsterben: Den Bürgemeister Berit beispielweise finden sie zusammen leblos in der Apotheke, und kurz darauf knüpft sich Zeuge Nummer vier, der paralysierte Stinner, in seiner Stube auf. Nur der fünfte Mann fehlt noch? Wer er ist, weiß niemand, da sein Name auf dem Totenschein unleserlich ist…

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Abb.4: Weshalb sich eine Reminiszenz an Carl Theodor Dreyers VAMPYR entgehen lassen, wenn man die Gelegenheit dazu hat? Nachdem sich der paralysierte Stinner aufgeknüpft hat, schneidet ihn ein Polizeibeamter vom Deckenbalken, und tritt dabei zunächst einzig als körperloser Schatten in Erscheinung.

5 TOMBE PER UN MEDIUM ist kein oberflächlicher Film. Seiner Struktur selbst werden immanent die Dispositive der Umbruchszeit eingeschrieben, in der er spielt. Wie ein hard-boiled Privatermittler irgendeines film noir erläutert Albert mit einer zugleich reflektierten wie coolen Stimme uns immer mal wieder seine Gedanken und Gefühle. Nachdem erstmal das Arsenal an gänsehauterzeugenden Kulissen und Charakteren etabliert worden ist, kippt der Film in eine Krimihandlung, bei der es erst um Deduktion und Feinanalyse geht, und dann darum, den Cast in zwei Gruppen einzuteilen: Die strahlenden Helden aus dem Bilderbuch, und die ganz Verworfenen, an denen Mario Bava seine Freude gehabt hätte. Manche Szene kommt mir daher wie aus einem Experimentalfilm. Wie göttlich einfach nur, wie das Hausmädchen der Hauffs durch einen Wald stapft, und dazu ein Knarren ertönt, als würden wir, wie in Ingmar Bergmans PERSONA, gleich dem Film selbst beim Rollen und vielleicht zuhören. Wie zum Sich-Darin-Suhlen einladend einfach nur die Schwarzweißphotographie von Carlo di Palma, der genau weiß, wann welcher Schatten welchen lichten Fleck verschlucken muss, und wann in welchem Meer aus Schwarz wo ein heller Punkt auflodern soll. Wie rhythmisch die Montage, wenn sie immer mal wieder die narrative Dynamik für ein paar Sekunden zum Verweilen animiert, und sich zusammen mit einem überlauten Tonspur-Ticken ganz darin gefällt, Großaufnahmen von sich in Gang setzenden Uhren aneinanderzuheften. Wie nett auch, Luciano Piggozi als Diener Kurt zu sehen, und Barbara Steele als unnahbare femme fatale, und Walter Brandi als Schwiegermutters Liebling. Nicht zuletzt: Was für einen Teufel mag die insgesamt vier Drehbuchautoren geritten haben, den Film – statt ihn einer logisch nachvollziehbaren Auflösung entgegenzuführen – in der letzten Viertelstunde dann noch einer surrealistischen Invasion an Eigenheiten zu opfern, bei der die ausgestopften Pestkrankenhände das Grapschen beginnen, ein kleiner Junge plötzlich mitternächtlich trällernd an einem Brunnen erscheint, und nur reinigendes Wasser Protagonisten und Antagonisten davor bewahren kann, vorm plötzlich um sich greifenden und in Sekundenschnelle mordenden Schwarzen Tod gerettet zu werden. Verstanden habe ich zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr, was da eigentlich gerade vor meiner Nase passiert. Klar ist nur: Auch wenn das Getriebe noch etwas weitergetuckert hat, es sind zu viele Eulen, viel zu viele, als dass sich aus seinem Gestotter noch etwas Sinnloses herauslesen ließe. Bei der großflächigen Kontamination der Physik durch die Metaphysik bleiben letztendlich keine Zweifel daran, für wen oder diese kleine, schmucke, und unverständlicherweise von mir jetzt erst entdeckte bunte Tüte betörender Bilder Partei ergreift. Auch Pupillo, der Mitte der 60er einen Lauf gehabt zu haben scheint, und die Welt 1965 nicht nur mit 5 TOMBE PER UN MEDIUM, sondern noch mit zwei weiteren Gothic-Horror-Stücken - LA VENDETTI DI LADY MORGAN sowie IL BOIA SCARLATTO – zu einem besseren Ort gemacht hat, gehört allein angesichts vorliegenden Films nun wirklich nicht mit dem Gesicht zur Wand in die Trash-Ecke, sondern in jenen so schwierig fassbaren Grauzonenbereich zwischen Avantgarde-Sensibilitäten, Erzählkino und Lust am Trivialen, an der ich mich nicht sattsehen kann.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: 24 Horas de Sexo Explícito

Produktionsland: Brasilien 1985

Regie: José Mojica Marins

Darsteller: Vânia Bonier, Albano Catozzi, Bené de Oliveira, Walter Laurentis, Sílvio Júnior
In den 80ern befindet sich nicht nur die brasilianische Filmindustrie im Allgemeinen in einer Krise, sondern mit ihr auch einer ihrer eigenwilligsten Vertreter. Bereits im Verlauf des vorherigen Jahrzehnts hat Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler José Mojica Marins sukzessive an Popularität eingebüßt. Zum integralen Bestandteil der Popkultur seines Heimatlandes ist er 1964 geworden, als sein dritter Spielfilm À MEIA NOITE LEVAREI SUA ALMA das Vielfache seiner außerordentlich limitierten Produktionskosten einspielen konnte. Seine Rolle als nihilistischer, blasphemischer, für seinen Wunsch, einen Sohn zu zeugen, über Leichen gehender Totengräber Zé do Caixao macht ihn quasi über Nacht zum Nischenstar. Auch in der Fortsetzung ESTA NOITE ENCARNAREI NO TEU CADÁVER drei Jahre später bleibt Mojica seiner Kunstfigur treu, die mit ihren krallenartigen Fingernägeln, ihrem Dracula-Cape und einem ausgeprägten Sadismus die wohl einzige genuin brasilianische Schreckgestalt sein dürfte, die das dortige Kino hervorgebracht hat. Die Budgets mögen weiterhin in den unteren Sektoren angesiedelt sein, Mojica schafft es mit seinen kruden Visionen irgendwo zwischen klassischem Universal-Horror und Herrschell-Gordon-Lewis-Blutfesten trotzdem (oder gerade deshalb) zugleich die Zensoren des brasilianischen Militärregimes auf den Plan zu rufen als auch in der Gunst eines eher jüngeren Publikums so weit zu steigen, dass er mit TV-Auftritten, öffentlichkeitswirksamen Kampagnen wie seiner Kandidatur für ein lokalpolitisches Amt, und natürlich einer kontinuierlichen Produktion von Filmen, in denen er sich und seine Kunstfigur zunehmend von einer Meta-Ebene auf die nächste hievt, alsbald zu einem der schillerndsten Flecken lateinamerikanischer Unterhaltungskultur zu werden.

Dennoch sind Anfang der 80er die Wellen des Ruhms dabei, in eine finanzielle und künstlerische Flaute überzugehen. Mit Geld hat er nie haushalten können, erklärt Mojica im Interview für die 2000 entstandene Dokumentation MALDITO – und wenn er nur zehn Prozent all der Chancen ergriffen hätte, die sich ihm im Lauf seiner Karriere geboten haben, würde er heute ganz anders dastehen. Was er zwei Jahrzehnte zuvor jedoch ergriffen hat, das ist ein Angebot der Pornoproduktionsfirma Fotocenas Films: Falls er für sie eine Handvoll expliziter Sexfilme schießen würde, würde die ihm im Gegenzug aus den erzielten Einnahmen den finalen Teil seiner noch unabgeschlossenen Zé-do-Caixao-Trilogie finanzieren. Ihren Sitz hat die vertrauenswürdige Firma im Viertel Boca di Lixo in Sao Paulo, nach dem ein ganzes Filmgenre benannt worden ist, dem letztlich auch die Filme zugeordnet werden müssen, die Mojica für seine Auftraggeber unter dem Pseudonym J. Avela herunterkurbelt: Für den schnellen Konsum konzipierte pornochanchada (= leichte Komödien mit sexuellen Obertönen, vergleichbar der commedia sexy all’italiana, die teilweise als unpolitisches Massenopium Unterstützung von der Regierung erfuhren), aber auch, gerade nach dem Sturz der Militärdiktatur 1985, handfeste Porno-Ware, in der mit Vorliebe harte Vergewaltigungen zur sexuellen Stimulation des (vorwiegend männlichen) Publikums dienen sollen. Der Film, den Mojica nach einem Drehbuch seines langjährigen Freundes und Wegbegleiters Mário Lima letztendlich realisiert, heißt 24 HORAS DE SEXO EXPLÍCTIO, und trägt seinen Titel zu Recht, wenn er auch nur eine Laufzeit von knappen achtzig Minuten besitzt.

Drei Freunde – und, um den selbstreflexiven Tendenzen treuzubleiben, die Mojica spätestens Anfang der 70er entwickelt, außerdem hauptberufliche Pornodarsteller – kommen eines Tages auf die grandiose Idee, gemeinsam eine Wette abzuschließen: Wer von ihnen innerhalb eines Tages die meisten Frauen beglücken könne, der würde als Sieger aus dem Contest hervorgehen. Damit man jedoch nicht schummeln kann, muss ein Schiedsrichter her – und den findet man im schmuddeligen Nachtclub um die Ecke in Gestalt eines dicklichen Homosexuellen, der gerne bereit ist, die drei Herren zu einem entlegenen Landhaus außerhalb Sao Paulos zu begleiten, wohin sie außerdem eine Gruppe Prostituierten geordert haben, die wiederum angeblich die „hässlichsten Frauen“ sein sollen, die man hat auftreiben können – (während sie für mich nun nicht wirklich besser oder schlechter aussehen als die Akteurinnen, die ich sonst vor allem aus italienischen Pornos der 80er Jahre kenne; immerhin gibt diese Behauptung dem Film aber Gelegenheit für eine weitere Meta-Spitze, denn beim Strandspaziergang fragt einer unserer Helden seinen Kumpel, der sich um die Organisation des weiblichen Körpermaterials gekümmert hat, wo er denn die Schabracken herhabe, etwa aus einem Zé-do-Caixao-Film?, und ja, dabei musste ich kurz schmunzeln). Ebenfalls mit von der Partie: Ein plappernder Papagei, der das nun folgende Treiben permanent kommentieren muss, und einem schon nach fünf Minuten gehörig die Nerven mit seinem rastlosen Schnabel malträtiert. Erträglicher ist er aber immerhin noch als der freilich um kein Schwulenklischee verlegene Ringrichter, der ebenso pausenlos die Kopulationsakte zählt, damit er nichts verpasst, immer wieder seine prüfende Miene, analog zur Kamera, ganz nah an die Geschlechtsteile unserer Darsteller heranschiebt, und jedes Mal, wenn einer unserer Helden zum Orgasmus gekommen ist, eine Münze in das ihm zugehörige Spardöschen wirft. Da ich den Film auf Portugiesisch ohne Untertitel gesehen habe, weiß ich nun nicht im Detail, worauf die unaufhaltsame Wortflut des guten Mannes hinauswill, kann mir aber irgendwie kaum vorstellen, besonders Substantielles versäumt zu haben.

Wichtiger scheint Mojica sowieso zu sein, - und das hat er in einem anderen Interview eigentlich recht offen zugegeben -, die Hauptattraktion seines Films – schnörkellosen Gruppensex in allen erdenklichen und unerdenklichen Variationen – so unerotisch wie möglich zu inszenieren. Seine Erklärung: Da er 24 HORAS DE SEXO EXPLÍCITO als reine Auftragsarbeit verstanden hat, will er eher mit einer dezidiert subversiven Haltung auf dem Regiestuhl Platz genommen haben – im Sinne von: Wenn ich schon beischlafende Leiber dirigieren muss, dann soll wenigstens niemand meiner Zuschauer von denselben in irgendeiner Weise positiv affiziert werden. Falls das wirklich Marins‘ Ansatz war und nicht nur ein weiterer elaborierter Scherz des um elaborierte Scherze nie Verlegenen, hat er sein Ziel voll und ganz erreicht: Es gibt wirklich keine einzige Szene in vorliegendem Film, von der ich mir ansatzweise vorstellen könnte, dass sie irgendeinen Menschen auf dieser Erde dazu bringt, auch nur den kleinen Finger zur Stimulation nach dem eigenen Geschlechtsteil auszustrecken. Marins‘ Stil ist – wie eigentlich üblich für die Boca-di-Lixo-Produktionen; zumindest die, die ich bislang kenne – schmutzig, rau, holprig, und wenn das im Horror-Kino – wie seine frühen Meisterwerke beweisen – durchaus funktioniert, hat es hier auf mich die gegenteilige Wirkung, und ich muss mich bewusst auf Distanz zu den Bildern setzen, um sie überhaupt goutieren zu können. Es hilft dem sichtlich ohne nennenswertes Budget, ohne Drehbuch und ohne viel technische Sorgfalt gestemmten Film freilich ebenso kein bisschen, dass seine Tonspur, zusätzlich zu dem überdrehten Redeschwall des erwähnten Live-Kommentators, angefüllt ist mit Musikstücken, die unpassender kaum sein könnten. Es fällt tatsächlich aber schon schwer, zu glauben, dass ein versierter Filmemacher wie Mojica es nicht ironisch gemeint haben sollte, wenn wir quasi unermüdlich mit alberner Zirkusmusik, schwülem Jazz und Synthie-Geblubber beschallt werden – (und wenn dann auch noch völlig unvermittelt eine englischsprachige Version von Kraftwerks DIE ROBOTER erklingt, schmunzle ich bei diesem freudlosen Vergnügen zum insgesamt zweiten Mal.) Jenseits des guten Geschmacks sind zudem einige der pubertären Witze, mit denen der Film nicht sparsam umgeht. Soll ich wirklich darüber lachen, wenn eine der Frauen beim Analsex plötzlich Blähungen bekommt, oder wenn ein Penis und eine Vagina in Großaufnahme derart mit Comic-Stimmen unterlegt werden, dass es den Eindruck erweckt, sie würden miteinander Zwiesprache halten – (beim zustimmenden Nicken wedelt der erigierte Penis übrigens auf und ab, und irgendwie schafft es die Darstellerin ihre Schamlippen so zum Pulsieren zu bringen, dass sie halbwegs synchron zu der weiblichen Stimme aus dem Off kontrahieren.) Habe ich schon erwähnt, dass wir neben dem uninspirierten, ermüdenden Balzen, das etwa achtzig Prozent des Filmmaterials in Beschlag nimmt, noch mit einem umhertollenden Homosexuellenklischee und einem sprechenden Papagei konfrontiert sind?

In der bereits erwähnten MALDITO-Dokumentation, die Mojica in gesetztem Alter und mit Klauen statt Fingernägeln in seiner Privatwohnung besucht, wird 24 HORAS DE SEXO EXPLÍCITO so viel Platz eingeräumt wie sonst nur dem allerersten Zé-do-Caixao-Abenteuer. Das liegt vor allem, heißt es dort, an den weiten Kreisen, die der Film in der brasilianischen Klatschpresse gezogen hat. Den Grund hierfür finden wir relativ am Ende des schalen Reigens, wenn nämlich einer der drei Herren unverhofft von der Villa aufbricht, um seine Angetraute aufzusuchen, diese aber in den Armen bzw. Vorderläufen eines Schäferhunds namens Jack in flagranti erwischt. Ein Großteil des renommée von 24 HORAS DE SEXO EXPLÍCITO resultiert offenbar wirklich daraus, dass der Film der erste brasilianische Porno gewesen sein soll, in dem man Zoophilie-Szenen bestaunen konnte. Ganz so schlimm wird es in der mehrminütigen Schäferhund-Szene zwar nicht, sprich: eine sichtbare Penetration zwischen Hundeschweif und der Lustpforte der Porno-Veteranin Vânia Bournier fängt die Kamera nicht ein. Dennoch werden die Szenen, in denen ein offenbar sehr erregter Vierbeiner sich zumindest ausgiebig am Körper der völlig übertrieben stöhnenden, kreischenden und Fratzen schneidenden Darstellerin reibt, wohl nicht nur Tierschützern mindestens grenzwertig finden. Mojica setzt aber – ich sage doch: elaborierte Scherze sind das Metier dieses Manns! – noch einen drauf, und lässt seinen Helden sich auf, sagen wir, absonderliche Weise an der treulosen Gattin rächen. Es zieht ihn hinaus auf die Weide, wo er Kontakt mit einem sprechenden (!) Hengst aufnimmt, diesem ans Gemächt greift, und dazu überredet, ihn von hinten zu besteigen. Davon bekommen wir zum Glück noch weniger explizite Einblicke zu sehen, und mit den davongaloppierenden Phantasien eines gewissen Herrn Massacessi hat die kurze Szene glücklicherweise nichts zu tun - obwohl natürlich trotzdem auch hier gilt: Eine manipulierende Männerhand an einem Pferdepenis, habe ich das nun wirklich sehen müssen? Mit dem Schäferhund Jack hat es übrigens, erfahre ich erneut in MALDITO, ein schlimmes Ende genommen: Nachdem sein Besitzer den Publicity-Rummel um sein Haustier nicht mehr ertragen konnte – angeblich druckte eine brasilianische Schmuddelzeitschrift sogar ein Interview mit dem Rüden! -, soll er ihn einfach vergiftet haben. Manchmal schreibt das Leben Geschichten, von denen man sich wünscht, sie niemals gelesen zu haben.

Eine weitere dieser Geschichten kann auch Mojica erzählen. 24 HORAS DE SEXO EXPLÍCITO – der mit Abstand abstruseste und abtörnendste Film des Meisters, den ich bislang gesehen habe, und ich habe fast alles von ihm gesehen – sollte sich bereits gleich nach seiner Veröffentlichung im Mai 1985 zu Mojicas größtem wirtschaftlichen Erfolg mausern – was angesichts solcher Großtaten wie der avantgardistischen Live-Performance FINIS HOMINIS (1971), dem schauerromantischen Episoden-Horror O ESTRANHO MUNDO DE ZÉ DO CAIXAO (1968) oder einem Frühwerk wie dem anrührenden Jugenddrama MEU DESTINO EM TUAS MAOS (1963) nicht mal mehr wie Ironie, sondern wie blanker Huhn anmutet. Den versprochenen Abschluss der Zé-do-Caixao-Trilogie hat ihm die Fotocenas Filmes übrigens ebenfalls nicht finanziert – was wiederum Mojica, wohl froh, überhaupt seit langer Zeit gutes Geld zu sehen, nicht davon abhält, 1987 eine Fortsetzung seines „Skandalerfolgs“ unter dem verheißungsvollen Titel 48 HORAS DE SEXO ALUCINANTE auf die Beine zu stellen. Ob ich mir den in nächster Zeit allerdings anschauen werde, darüber muss ich noch lange mit meinem Beichtvater diskutieren…
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: 48 Horas de Sexo Alucinante

Produktionsland: Brasilien 1987

Regie: José Mojica Marins

Darsteller: José Mojica Marins, Mario Lima, Eliane Gabarron, Oswaldo Cirillo, Nadia Tell, Andréa Pucci
Nach meiner kürzlichen Sichtung von José Mojica Marins‘ 24 HORAS DE SEXO EXPLÍCITO konnte ich im Nachgang eigentlich nur zwei goldene Haare in einer ansonsten kaum genießbaren Suppe finden: 1. Dass Mojica Marins seinen Film bewusst so unästhetisch heruntergekurbelt wie möglich, und das Endergebnis demnach seiner Intention entsprochen haben dürfte, sowie 2. Dass er darauf verzichtet hat, eine Sodomie-Szene zwischen Frau und Hund in aller Deutlichkeit zu bebildern. Nun, wenn ein Film sein (limitiertes) Budget um ein Vielfaches wieder einspielt, wundert es natürlich kein bisschen, dass die Verantwortlichen einen Teufel tun, ihm nicht ein Sequel hinterherzuschieben, das die zahlungswilligen Geldbörsen der begeisterten Zuschauerschaft noch weiter abgrasen soll. Von daher ist es nachvollziehbar, dass José Mojica Marins, obwohl er seinen bis dato größten kommerziellen Erfolg nach eigenem Verlautbaren zum eher miserablen Teil seines Oeuvres rechnet, diesem zwei Jahre später mit nahezu dem identischen Team einen Nachzügler namens 48 HORAS DE SEXO ALUCINANTE folgenlässt. Wer aber – wie ich, der es sich wirklich fünfmal überlegt hat, ob er einen besinnlichen Feierabend tatsächlich damit verbringen soll, ein ramponiertes VHS-Digitalisat auf einer dubiosen Pornoseite im portugiesischen O-Ton ohne Untertitel zu sichten -, glaubt, dass der vermeintliche „zweite Teil“ einfach dort ansetzt, wo der erste aufgehört hat, sprich, noch einmal einen gleichen Sex-Wettbewerb, nur diesmal auf gleich zwei Tage ausgedehnt, präsentiert, der täuscht sich in einem Meister der Subversion wie Mojica Marins einer ist. Dass dessen Agenda darin besteht, selbst wenn er ohne nennenswertes Budget Menschen beim Sexhaben filmen muss, sein Publikum von einer Irritation in die nächste zu führen, beweist 48 HORAS DE SEXO ALUCINANTE mit derartig exemplarischer Grandeur, dass ich Mojica Marins bereitwillig schon nach den ersten Filmminuten die sehr fordernden eineinhalb Stunden verzeihe, die 24 HORAS DE SEXO EXPLÍCITO mich vor Kurzem gekostet hat. Anders gesagt: In vorliegendem Werk läuft Mojica plötzlich zu Hochtouren auf, die ich ihm nach dem kontinuierlichen Qualitätsverlust seiner Filme seit Mitte der 70er und dem Desaster des unmittelbaren Vorgängers eigentlich gar nicht mehr zugetraut hätte.

Dass der brasilianische Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler sich in seinen Filmen gerne selbst verkörpert – oder zumindest Kunstfiguren, bei denen es schwerfällt, ihn von seiner bürgerlichen Identität jenseits des Kinos zu trennen –, und durch ein hintergründiges Wechselspiel zwischen extra- und intradiegetischen Realitäten und Identitäten immer wieder metareflexiv auf das Filmemachen an sich verweist, war mir natürlich bewusst. Trotzdem erstaunte es mich in Erwartung eines weiteren plumpen Porno-Ringelpiezes nicht wenig, dass 48 HORAS DE SEXO ALUCINANTE damit eröffnet, dass es einer Sexologin in Sao Paulo geht wie mir: Sie hat sich in einem örtlichen Schmuddelkino irgendwo in Boca de Lixa gerade den noch immer auf Hochkonjunkturen laufenden 24 HORAS DE SEXO EXPLÍCITO angeschaut, kommt aber zu einem völlig anderen Schluss als ich in meiner dann doch eher vernichtenden Kritik. Komplett exaltiert von den expliziten Bildern, beschließt sie, diejenigen zu kontaktieren, die sie auf die Hinterhofleinwände der brasilianischen Hauptstadt gebracht haben, und lädt das Duo Mário Lima und José Mojica Marins in ihre Praxis ein, um ihnen ein Angebot zu unterbreiten, das diese nicht abschlagen können: Aus angeblich wissenschaftlichem Forscherinteresse – zumindest reime ich mir die eröffnende Dialogszene mit meinen rudimentären Spanischkenntnissen so zusammen –, und völlig ohne pekuniäre Motive, möchte unsere Heldin das in 24 HORAS DE SEXO EXPLÍCITO veranstaltete Experiment – (eine Gruppe Männer muss während besagter Zeitspanne pausenlos mit Frauen kopulieren, bis am Ende derjenige als Gewinner gekürt wird, der die meisten Ejakulationen gehabt hat ) – noch einmal wiederholen, nur diesmal länger, heftiger, und mit mehr involviertem Personal. Niemand scheint ihr für die Ausführung ihres Vorhabens geeigneter als die beiden Herren, die bereits das Original auf die Beine gestellt haben.

Mojica und Lima willigen ohne zu zögern ein, und mieten vom Geld der Sextherapeutin ein Filmstudio, das sie innerhalb kürzester Zeit zu einer Balzwiese ausbauen lassen: Zahllose Frauen und Männer – (tatsächlich habe ich irgendwann völlig den Überblick verloren, wie viele Personen es da nun eigentlich miteinander treiben) – finden sich dort ein, und werden dazu angehalten, nachdem die Uhr einmal zu ticken begonnen hat, ohne Unterlass ihre Geschlechtsteile ineinander zu stecken. Unvermeidlicherweise ebenfalls mit von der Partie: Sowohl der korpulente Homosexuelle, der bereits im Vorgänger den Schiedsrichter gespielt hat, und der – man mag es glauben oder nicht! – diesmal als römischer Imperator verkleidet von einem Thron aus das Spektakel beäugt, kommentiert und belächelt, als auch sein plappernder Papagei, der seinen Käfig verlassen darf, und munter zwischen den Kopulierenden umherflattert, und ebenfalls inspiziert, gackert, faselt. Ein Novum allerdings ist, dass die finanziellen Mittel diesmal sogar für Nummern-Girls ausreichen, die immer dann, wenn eins der Mannsbilder – natürlich immer außerhalb der weiblichen Körper, damit es keine Gelegenheit zum Schummeln gibt – zum Erguss gekommen ist, Fahnen schwenken, um den Operatoren in der Zentrale des Fernsehstudios anzuzeigen, dass diese auf ihren Computern dem jeweiligen Wettbewerbsteilnehmer innerhalb einer virtuellen Kartei eine Position nach oben rücken lassen. Man sieht: Noch effizienter, noch mechanischer, noch technologischer bebildert Mojica Marins in vorliegendem Film die Sexualakte, die mehr mit Leistungssport zu tun haben als mit Intimität oder auch nur der Befriedigung von Trieben.

Mojica Marins scheint es bei alldem allerdings einzig und allein um schräge Kamerawinkel, um Diskontinuitäten in der Montage, um dislozierende Perspektiven zu gehen – und natürlich darum, Sex möglichst bizarr in Szene zu setzen. Da fährt die Kamera schon mal genüsslich unter einer langen Reihe Vaginen vorbei, oder wechselt völlig unmotiviert von Großaufnahmen in Geilheit verzerrter Gesichter zu triefenden Geschlechtsteilen. Dazwischen sehen wir immer wieder Mojica, Mario und ihre Kameraleute, wie sie zwischen den einzelnen Kriegsschauplätzen der maschinellen Lust umherstolpern, Anweisungen geben, an ihren Linsen drehen, oder, wie im Falle des Regisseurs, genüsslich in Ketten ihre Zigarren rauchen. Positiv anzumerken ist außerdem, dass für den atemlos dudelnden Soundtrack nicht wieder die schlimmsten Plattenläden Sao Paulos geplündert worden sind: Die furchtbare Zirkusarenamusik des Vorgängers bleibt glücklicherweise aus, dafür treffen ellenlange bluesige Gitarren-Soli, etherische Synthie-Klangflächen und, erneut, Kraftwerks DIE ROBOTER aufeinander, dass ich gerne wissen würde, woher überall der Tonbeauftragte vorliegenden Films all diese sicherlich nicht rechtmäßig erworbenen Soundschnipsel zusammengeklaubt hat.

Würde 48 HORAS DE SEXO ALUCINANTE damit enden, dass – was geschieht – unser Held aus dem ersten Film den Ruhm erlangt, erneut der Mann mit den meisten Orgasmen zu sein, wäre das wohl für Mojica Marins noch nicht das Maß aller Originalität gewesen, weshalb sich etwa ab Hälfte der Laufzeit ein Subplot erst schüchtern in den Vordergrund schiebt, dann immer mehr an Substanz gewinnt, bis er im letzten Drittel den zu diesem Zeitpunkt bereits vollendeten Sex-Wettbewerb schlicht übermannt: Zunächst wird die Sextherapeutin, die die ganze Fleischbeschau überhaupt erst initiiert hat, beim Anblick derselben von eher ungewöhnlichen Visionen eingeholt. Während sie unter einem ausgestopften Kuhkopf steht, der, weshalb auch immer, an einer Wand des Filmstudios hängt, fährt die Kamera langsam auf ihr Gesicht zu und enthüllt uns dann, dass sie offenbar vor ihrem inneren Augen nicht etwa länger den menschlichen Akteuren direkt vor ihrer Nasenspitze, sondern Rindern und Pferde auf einer Weide beim Besteigen und Bestiegen-Werden zusieht. (An dieser Stelle übrigens ein Lob an Mojica Marins dafür, dass er tatsächlich raus aufs Land gefahren ist, um besagte Tiere beim Geschlechtsakt abzulichten, und er sich nicht einfach auf die Eröffnungsszene von Walerian Borowczyks Meisterwerk LA BÊTE verlassen hat, wie es die Herren Mattei oder Massacessi so gerne getan haben.) Bald stellt sich heraus: Unsere Sexologin leidet unter akuter Frigidität, die mit einem Kindheitstrauma zu tun hat. Weil sie sich immer hinaus auf die Weide stahl, um ihre geliebten Tiere anzuhimmeln, wird sie eines Tages von der Mutter mit einer Rute gezüchtigt. Seitdem – das heißt: da sie damals noch im vorpubertärem Zustand gewesen ist, noch nie – klappt es bei ihr im Sexuellen nicht mehr, weshalb sie Mario Lima und Mojica Marins bittet, ihr doch irgendwie die Möglichkeit zu verschaffen, es mit einem tatsächlichen Rind oder Pferd treiben zu können, denn nur dadurch, so lautet ihre Fachexpertise, könne sie von ihren Triebhemmungen erlöst werden und jemals die Freuden des Beischlafs erfahren.

Ganz so offenherzig wie der Vorgänger hantiert 48 HORAS DE SEXO ALUCINANTE allerdings nicht mit dem Tabuthema der Zoophilie, sondern wird auf ganz andere Weise absonderlich. Mojia Marins nämlich beweist, dass er entweder firm in der antiken Mythologie ist, und die Geschichte von Pasiphae kennt, die Gattin des kretischen Königs Minos, die sich in einen Stier verliebt, und, da dieser ihren Avancen wenig affirmativ gegenübersteht, den Erfinder Daedalus bittet, eine hölzerne Kuh zu konstruieren, in deren sie Hohlraum sie sich sodann splitternackt hockt, um durch eine Öffnung im hinteren Bereich den Penis des getäuschten Stieres zu empfangen – oder aber Walerian Borowczyks OVID-Adaption ARS AMANDI gesehen hat, die vier Jahre vor 48 HORAS DE SEXO ALUCINANTE genau diese Szene erstmals fürs Kino illustriert. Mojica Marins und Mario Lima amalgieren die Person Daedalus‘ in einer Figur, und suchen einen örtlichen Taxidermisten auf, der ihnen eine ausgestopfte Kuh auf einem Podest ausliefert, die sie wiederum auf einer Weide installieren, und die sich selbst therapierende Therapeutin in ihr Platz nehmen lassen. Da beide noch nicht vollends in Fundamentalopposition zum guten Geschmacks stehen, ist es aber – übrigens wie bei Borwoczyk – kein echter Stier, der daraufhin über unsere Heldin herfällt, sondern ein gutbestückter Herr in dem wohl lausigsten Stierkostüm jenseits von Silvio Amadios TESEO CONTRO IL MINOTAURO (1960). Auch gebiert die Sexologin nach vollzogenem Akt nicht, wie ihre antike Vorläuferin, ein Mischwesen aus Stier und Mensch, das dann die Jünglinge und Jungfrauen in einem kretischen Labyrinth verschlingt, sondern haut ihrem Beischläfer erstmal eine runter, und konfrontiert Mojica und sein Team mit Vorwürfen, wie man sie nur derart hinters Licht habe führen können. Obwohl der vermeintliche Bulle ihr scheinbar seine Liebe erklärt, nimmt sie daraufhin Reißaus, und lässt es so wirken, als würde der Film kein positives Ende nehmen.

In der letzten Viertelstunde entdeckt Mojica Marins schließlich aber doch noch, dass hinter seinem bärtigen Gesicht, seinem permanenten Zigarrenrauchnimbus und unter den langgewachsenen, sich bereits krümmenden Krallennägeln ein wahrer Romantiker versteckt ist. Die Sexologin und ihr Beischläfer nämlich nähern sich letztlich einander an, haben leidenschaftlichen, diesmal sogar recht konventionell abgefilmten Sex zu einer rührseligen Instrumentalversion von Lobos I’D LOVE YOU TO WANT ME, und finden sich für die Schlussszene mit Mario und Marins in einer Bar ein, wo ihnen zu allem Überfluss auch noch ein Schlagersänger ein emotionales Ständchen intoniert. Die Lehren, die ich aus 48 HORAS DE SEXO ALUCINANTE ziehe, lauten also, dass das Waten in Obszönitäten und Perversionen einen am Ende doch noch in den Hafen monogamer Liebe führt, dass man im Brasilien der 80er Jahre offenbar dann zu einem gemachten Regisseur werden konnte, wenn man sich an der Aufgabe abarbeitete, sexuelle Handlungen so hypnotisch wie möglich auf Zelluloid zu bannen, und dass ich persönlich jeden Film sofort um einiges mehr abfeiere, wenn in ihm die Möglichkeit en nuce versteckt ist, ihn als Reflexion über das Kino, die Bedingungen des Filmemachens oder als ausgeklügelte Persiflage zu lesen. Da vorlie-gender Film letzteres in beinahe lehrbuchartiger Manier umsetzt, versöhne ich mich mit Mojica Marins zunächst so wenig geistreich scheinendem Porno-Output, und erkenne an, dass dieser Kino-Magier es einmal mehr mit (äußerst) bescheidenen Mitteln fertiggebracht hat, mir Augen, Ohren und herunterklappenden Kiefer übergehen zu lassen.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Angely revolyutsii

Produktionsland: Russland 2014

Regie: Aleksey Fedorchenko

Darsteller: Irina Ermalova, Konstantin Balakirev, Darya Ekamasova, Pavel Basov, Oleg Yagodin

Als ob Alejandro Jodorowsky in seinen Alterswerken wie LA DANZA DE LA REALIDAD oder POESÍA SIN FIN nicht unablässig die eigene Familiengeschichte thematisieren, sondern einen Film über die Auswirkungen der Russischen Revolution auf ethnische Minoritäten der neugegründeten Sowjetunion drehen würde…

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Dabei ist ANGELY REVOLYUTSII aber eindeutig ein Film von Aleksey Fedorchenko – jedenfalls soweit ich das, der ich bislang nur NEBESYNE ZHENY LUGOVYKH MARI von ihm kenne, (und begeistert davon gewesen bin!), dies zu beurteilen vermag. Wie man sich erinnert, war das Vorgängerwerk eine wundersame Ansammlung von Vignetten aus dem Folklorebestand des wolga-finnischen Mari-Volks, die ein bisschen an die lebensbejahende, vitale, erotische Adaption des DECAMERONE durch Pier Paolo Pasolini erinnert hat, nur wesentlich farbenfroher, und beinahe zusammenbrechend unter seinem schillernden Ballast aus verzaubernden Frauengesichtsgroßaufnahmen, phantasievollen Kostümen, und gar nicht mal allzu leisen magisch-realistischen Tönen. In ANGELY REVOLYUTSII sind die Grund-Koordinaten ungefähr dieselben: Auch hier wirft Fedorchenko einen liebevollen Blick auf die indigenen Völker der Nenets und der Khanty, denen von ihren Göttern untersagt worden ist, mit den seltenen Besuchern ihrer sibirischen Heimat in Interaktion zu treten. Genau dies soll aber eine Delegation von fünf Avantgarde-Künstlern unter Führung Polina Schneiders, ehemalige Geheimagentin und Heldin der Revolution, bewerkstelligen – und zwar über den Agitprop-Umweg in Form von vor allem Theaterstücken und anderen performativen Aktionen, deren Zweck es ist, die abgeschiedenen Völkchen aus ihren heidnisch-archaischen Gebräuchen zu lösen, und zu wahren Sowjetmenschen umzuerziehen, notfalls auch mit Gewalt.

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Anders als in NEBESYNE ZHENY LUGOVYKH MARI erfährt allerdings nicht nur die Welt der Indigenen ihre symbolische Erhöhung durch unglaublich detailverliebte und teilweise ordentlich bizarre Garderoben, Set-Pieces und Zeremonielle, von denen einem, ähnlich wie bei Werner Herzogs ekstatischen Wahrheiten, nie ganz klar ist, ob sie nun wirklich dem Kulturschatz der Khanty und Nenets abgeschaut sind, oder sie sich Fedorchenko am Ende doch nur ausgedacht hat. (Im Ernst, gibt es wirklich einen Volksstamm im ewigen Eis, der tote, an Bäumen aufgeknüpfte Kätzchen als Gottheiten verehrt?) Unter Fedorchenkos Zugriff verkehrt sich vor allem auch das utopische Abenteuer des Sozialismus zum inszenatorisch völlig überzeichneten, und nicht selten reichlich augenzwinkernden Rausch – seien es nun die Abenteuer von Polina Schneider, die wirken wie groteske comic-strips eines weiblichen James Bond im Auftrag des Weltkommunismus, einige absonderliche, aber in ihrer sadistischen Qualität wohl durchaus realistische Hinrichtungsmethoden, von denen wir eine bereits aus VIVA LA MUERTE des Jodorowsky-Weggefährten Fernando Arrabal kennen, oder freilich die künstlerischen Betätigungen unserer Helden, bei denen Tiermasken, übergroße Särge, nackte, an Ästen baumelnde Frauen, und suprematistische Gemälde á la Malewitsch zu einem inflationären Einsatz kommen, der sich durchaus als Karikatur auf die zeitgenössische (und gegenwärtige) sogenannte „Avantgarde“ lesen lässt. Die Grenzen zwischen bitterem Ernst, feiner Ironie, historischer Studie und munter dahingaloppierender Phantasie sind dabei fließend. Wie bei Jodorowsky geben sich blutige, grausame, zärtliche, surreale, melodramatische Szene so dicht die Klinke in die Hand, dass man bei all dem Öffnen und Zuschlagen neuer (emotionaler) Türen durchaus das Gefühl haben kann, der Film erschlage einen selbst mit seinen Schlag auf Schlag folgenden Ideen, seiner fragmentarischen, munter in der Chronologie der Ereignisse herumhüpfenden Struktur, seinen zahllosen Haupt- und Nebenfiguren, und dem unüberschaubaren Zwitterpanorama aus Fakten und Fiktionen.

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Dieses Panorama wiederum ähnelt tatsächlich nicht wenig Dziga Vertovs Reise durch die Sowjetunion SCHESTAJA TSCHAST MIRA von 1926, bei der das Kamera-Auge ebenfalls indigenen Völkern einen Besuch abstattet, und, gemeinsam mit der dialektischen Montage, ein Loblied darauf singt, dass nun ein Sechstel der Erde unter dem Banner des Sozialismus endlich zur brüderlichen und schwesterlichen Einheit zusammenfinde. ANGELY REVOLYUTSII hingegen illustriert das exakte Gegenprogramm zu derartig euphorischen Weltverbrüderungschören, nämlich, wie diese Einheit auf Kosten jener ethnischen Minoritäten hergestellt wird, denen es, wenn sie nicht von ihrem alten Glauben lassen wollen, übel ergeht, und, wie weltfremde Avantgardisten diese Einheit herstellen wollen, indem sie unter ihrem egozentrischen Idealismus alsbald die Menschlichkeit vergessen, und, wie machtbesessene Parteioberen nicht zimperlich darin sind, ihre Macht zu vergrößern, und dabei jedes der Ideale zu verraten, denen sie sich eigentlich, auf Lenin schwörend, verpflichtet haben.

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Es wird niemanden wundern, dass mich auch ANGELY REVOLYUTSII auf genau dem richtigen Fuß erwischt hat, und dass wiederum ich mich nicht wenig darüber wundere, was für ein Geheimtipp Fedorchenko offenbar nicht nur hierzulande noch immer ist. Dieser Film ist herber als NEBESYNE ZHENY LUGOVYKH MARI, weniger märchenhaft, noch komplexer, und kein bisschen schlechter.

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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Ménilmontant

Produktionsland: Frankreich 1926

Regie, Drehbuch, Kamera: Dimitri Kirsanoff

Darsteller: Nadia Sibirskaia, Yolande Beaulieu, Guy Belmont, Jean Pasquier

Wie konnte ich den estländisch-französischen Filmemacher Dimitri Kirsanoff (1899-1957) eigentlich bislang derart sträflich vernachlässigen bzw. so völlig aus den Augen verlieren? Seinen wohl berühmtesten Film MÉNILMONTANT von 1926 habe ich wohl irgendwann mit sechzehn gesehen, als all diese Experimental-Film-Klassiker noch frei bei ubu.web zugänglich waren, und ich mich an schulfreien Tagen bis zur Besinnungslosigkeit mit Werken von Jean Painlevé, Georges Franju, Stan Brakhage, Kenneth Anger oder Andy Warhol zuschüttete. Weshalb allerdings Kirsanoffs MÉNILMONTANT weniger Eindruck bei mir hinterlassen hat als mein erster Besuch im Zoo mit sieben oder acht, kann ich heute im Grunde nur noch damit erklären, dass man manchmal einfach in einer bestimmten Stimmung sein muss, um einem bestimmten Film angemessen begegnen zu können. Tatsächlich hätte der Film nämlich genau meinen damaligen (und heutigen, denn viel geändert hat sich da wohl nicht) Vorlieben entsprechen müssen. Wenn man sich mit sechzehn freiwillig stundenlang Großaufnahmen küssender Menschen anschaut, oder explizite Impressionen aus dem Pariser Schlachthof, oder Mottenflügel, die auf Filmbänder geklebt wurden, dann sollte man es doch lieben, wenn ein Film mit dem möglicherweise heftigsten Axt-Mord der Kinogeschichte eröffnet, oder?

MÉNILMONTANT heißt ein Stadtteil von Paris, seit 1860 zumindest, denn vorher war es ein eigenständiger Ort, von dem aus, da er auf einem Hügel liegt, man das Zentrum der Metropole allerdings ganz gut im Blick gehabt hat. Von „Mesnil Mautemps“, also Schlecht-Wetter-Häuser soll sich sein Name ableiten, und weil knapp vor ihm die ehemalige Stadtgrenze verlief, konnte man dort den Alkohol billiger bekommen als in Paris selbst, was dazu führte, dass man in Ménilmontant Schenken an jeder Straßenecke fand. Später, mit Aufkommen der Industrialisierung, haben sich vor allem Arbeiter dort niedergelassen, und noch später hat Dimitri Kirsanoff nach seinem verschollenen Debut L’IRONIE DU DESTIN (1923) seinen zweiten Film dort gedreht. Er dauert keine vierzig Minuten, kommt ohne Vor-, Abspann und Zwischentitel aus, und weil Menschen gerne schematisieren und klassifizieren, wird er der französischen Filmimpressionisten-Schule zugerechnet, die natürlich eigentlich gar keine Schule gewesen ist, und oft auch mit Impressionismus nicht allzu viel zu tun hat, aber eben als Begriff den Vorteil besitzt, dass man unter ihm all die schönen Menschen, die nicht so gerne schematisieren und klassifizieren, und außerdem im Frankreich der 20er schöne Filmexperimente veranstaltet haben, wie Abel Gance, Germaine Dulac, Jean Epstein, Marcel L’Herbier oder Louis Delluc, subsumieren kann. Ich meine, ich verstehe schon, weshalb Henri Langlois und Georges Sadoul in dem Zusammenhang von Filmimpressionismus sprechen: Alle diese Filmemacher und Filmemacherinnen eignet ein poetischer, lyrischer Stil, der sich nicht selten in malerischen Natur- oder Landschaftsaufnahmen Ausdruck verleiht, und sie lieben es, Naturphänomene wie fließendes Wasser oder rauschende Weiden oder kopulierende Kröten symbolisch zu überhöhen, und arbeiten oft und gerne mit Überblendungen, sodass ein Bild das andere durchdringt wie ein Insektenstachel eine Hautfläche, und andererseits interessieren sie sich aber auch für das moderne Großstadtleben, und können, wie Claude Monet, nicht nur im Anblick von ein paar Seerosen meditativ versinken, sondern genauso beim Anblick von ein paar in den Bahnhof von Saint Lazare einfahrenden Zügen. Außerdem erzählen sie selten einmal Geschichten mittels Bilder, sondern schaffen Bilder, die wie von selbst, vergleichbar mit einem quasselnden, aufgekratzten Kleinkind, ihre eigenen Geschichten auf einen einprasseln lassen.

MÉNILMONTANT bildet da keine Ausnahme. Sein Skript wird sich gelesen haben wie das einer trivialen Dreiecks-Liebesgeschichte. Die Zutaten: Zwei Schwestern. Ein junger Bursche. Die Liebe, die beide zu diesem hegen. Ein junger Bursche, der sich aus dem Staub macht, nachdem er bekommen hat, was er wollte, nämlich ihre Schöße. Ein uneheliches Kind. Tränen der Versöhnung. Das sind aber, wie gesagt, nur die an sich schnöde wirkenden Bauelemente, aus denen Kirsanoff dann eine Kathedrale konstruiert.

Habe ich schon erwähnt, dass diese Kathedrale wohl mit dem fürchterlichsten Axt-Mord der Kinogeschichte beginnt? Furchtbar, obwohl man eigentlich gar nichts Schlimmes sieht. Furchtbar, gerade weil man eigentlich gar nichts Schlimmes sieht, und allein die Montage, die Heftigkeit, mit der die Einzelbilder vehement gegeneinanderstoßen, den Funken meiner Einbildung hochschnellen lässt, und mir Bilder vor Augen führt, die schlimmer sind als das, was überhaupt ein Film zu zeigen imstande ist. Kirsanoff antizipiert damit die Duschszene von PSYCHO um fast fünfunddreißig Jahre. Wutverzerrte, schreiende, blutüberströmte Gesichter. Eine Hand, die nach der Axt greift. Eine Hand, die die Axt nach getaner Arbeit fortwirft. Montiert wie ein Maschinengewehrfeuer. Mehr braucht Kirsanoff nicht, um innerhalb der Eröffnungsminute die Kindheit seiner beiden Protagonistinnen bis in die Grundfeste zu zerstören. Diejenigen, die da nämlich unter der Axtschneide sterben, sind die Eltern der beiden Schwestern, die es danach vom Land in die Großstadt verschlägt. Weshalb der aufbrausende Jüngling sie zerhackt, erklärt der Film übrigens nicht. Das muss er auch nicht. Was die Bilder sagen sollen, sagen sie: Unsere beiden namenlosen Heldinnen haben innerhalb einer Minute ihr Kindheitsparadies verloren, und müssen nun zusehen, wie sie sich als Waisen in Paris über Wasser halten.

Die Fahrt dorthin? Nun, sie besteht aus Aufnahmen fahrender Züge oder aus fahrenden Zügen heraus. Außerdem besteht sie aus Großaufnahmen flanierender Füße, und geschäftiger Straßenzüge. Die Schwestern teilen sich ein Appartement, schlafen zusammen in einem Bett. Erst als der Galan die Bühne betritt, kommt es zu Zwist und Eifersüchteleien. Nadia Sibiriskaia, Kirsanoffs damalige Ehefrau, spielt eine der beiden. Ich habe mich unsterblich in sie verliebt. Wie sie sich stundenlang die Beine in den Bauch steht, um in irgendeiner Seitengasse auf ihren Angebeteten zu warten. Wie sie traurig, fast wie eine Heldin Philippe Garrels, Baumwipfel anstarrt, und sich, einen Kameraschwenk später, als glückliches, junges Mädchen in der Provinz imaginiert, mit Grasbüscheln im Mund, Schleifchen im Haar, und langen Beinen, die durch Flussläufe tollen. Wie sie dann, ihr Neugeborenes in den Armen, mutterseelenallein auf einer Parkbank sitzt, und sich kaum traut, die Wurst und das Brot anzurühren, die ihr ein mitleidiger Greis herüberschiebt. Gerade letztere Szene hat mich zu Tränen gerührt. Sie macht erst recht klar, was für ein außergewöhnlicher Filmemacher Kirsanoff ist: In einem einzigen Film inszeniert er nicht nur den heftigsten Axt-Mord der Kinogeschichte, sondern auch eine derart anrührende, menschliche, ehrliche Szenen, die kein Hollywood-Melodram der damaligen Zeit so still, so zart, so nackt hinbekommen hätte.

Wenn dann noch das Kätzchen seine verdiente Screentime erhält, und einfach mal auf Samtpfoten die Treppenstiege hinabschleichen darf, und wenn dann noch eine Liebesnacht allein durch die Überblendung sich räkelnder, blanker Beine und wirbelnder Aufnahmen des Pariser Stadtverkehrs visualisiert wird, und wenn der Film dann noch in einem abstrusen, von mir an dieser Stelle nicht verratenen Finale gipfelt, das wirkt wie das Echo des grausigen Beginns, dann ist es um mich geschehen, und ich möchte im Grunde jedem Menschen, der nur irgendwas mit sich bewegenden Bildern von Menschen, die schon lange tot sind, anfangen kann, das Versprechen abringen, sich sofort kopfüber in diese erfrischende Quelle zu stürzen, die mir einmal mehr ganz unprätentiös erklärt hat, weshalb ich eigentlich so viel Zeit damit verbringe, mir sich bewegende Bilder von Menschen anzuschauen, die schon lange tot, aber nicht vergessen sind.

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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Inhumanities

Regie: Harvey Keith

Produktionsland: USA 1989

Darsteller: Indigene Völker aus jahrzehntealtem Mondo-Material
In Siegfried Kracauers 1960 veröffentlichter THEORY OF FILM kann man viele interessante Dinge lesen. Unter anderem etwas über den antiken Medusa-Mythos. Was vielleicht erstmal verwundert, denn das Eigentümliche der Medusa ist doch, dass man sie, im Gegensatz zu Filmen, nicht sehen kann. Laut griechischer Mythologie wird jedes Lebewesen, das der Gorgo ins Antlitz blickt, nämlich sofort zu Stein verwandelt. Der Held Perseus kann das Ungeheuer dementsprechend nur dadurch bezwingen, dass er ihm einen verspiegelten Schild entgegenhält. Dadurch, dass es Perseus möglich ist, das schlangenbekränzte Haupt in diesem anzuvisieren, kann er es in aller Ruhe vom Rumpf schlagen. Dass Kracauer diese symbolträchtige Geschichte aufs Kino überträgt, geschieht im Zusammenhang einer Diskussion von (dokumentarischen) Gewalt- und Todesdarstellungen. Er schreibt: „Die Spiegelbilder des Grauens sind Selbstzweck. Und als Bilder, die um ihrer selbst willen erscheinen, locken sie den Zuschauer, sie in sich aufzunehmen, um seinem Gedächtnis das wahre Angesicht von Dingen einzuprägen, die zu furchtbar sind, als daß sie in der Realität wirklich gesehen werden könnten. Wenn wir die Reihen der Kalbsköpfe [in Georges Franjus LE SANG DES BÊTES [1949]] oder die Haufen gemarterter Körper in Filmen über Nazi-Konzentrationslager erblicken – und das heißt: erfahren -, erlösen wir das Grauenhafte aus seiner Unsichtbarkeit hinter den Schleiern von Panik und Fantasie. Diese Erfahrung ist befreiend insofern, als sie eines der mächtigsten Tabus beseitigt. Perseus‘ größte Tat bestand vielleicht nicht darin, daß er die Medusa köpfte, sondern daß er seine Furcht überwand und auf das Spiegelbild des Kopfes im Schild blickte. Und war es nicht diese Tat, die ihn befähigte, das Ungeheuer zu enthaupten?“

Anders als das Spiegelbild des Mythos, das, argumentiert Kracauer, im Dienste eines bestimmten Zwecks steht, zu dem es, wie in der Geschichte von Perseus, die Mittel liefert, stehen die Schreckensbilder, denen wir in Filmen über Schlachthöfe oder Gefangenenlager begegnen, erstmal rein für sich. Wenn sie sich unserem kollektiven Gedächtnis einprägen und uns dazu befähigen, Dinge zu betrachten, die außerhalb der medialen Vermittlung unsere psychischen und physischen Grenzen übersteigern würden, dann tun sie das zunächst ohne eine ihnen immanente Handlungsanweisung. Für Kracauer besteht die Macht des gleichgültigen Kamera-Auges nicht zuletzt darin, Aspekte der physischen Realität aufzuzeichnen, die uns unser subjektiver Blick wegen der zwangsläufig von ihm vorgenommenen Überformung des Gesehenen schlicht nicht liefern kann. Anders (und etwas überspitzt) gesagt: Wenn ich mir shockumentaries wie FACES OF GORE oder virtuelle shock-sites wie bestgore.com anschaue, dann können deren grenzüberschreitende Artefakte Vehikel für mich werden, eine in ihren transgressiven Bildern verankerte ontologische Wirklichkeit besser analysieren beziehungsweise überhaupt erst zu Kenntnis nehmen – und dadurch „zähmen“ zu können.

Je mehr ich mich in diese Materie hineinfuchse desto deutlicher wird mir allerdings: Die Medusa zu betrachten, das heißt mitunter auch, sie als Kirchenpopanz zu entlarven, als klappriges Geisterbahnschreckgespenst, als bloße Chimäre, die, wenn man ihr erst mal ihr grelles Make-Up vom Gesicht gewischt hat, nur noch halb so sehr verängstigt, oder auch überhaupt nicht mehr. Die Medusa zu betrachten, das heißt mitunter auch, beim eigenen intensiven Starren zu ermüden. Manchmal starrt sie aber auch zurück, und dann fragt sie mich: Wieso schaust Du Dir mich eigentlich immerzu an?!

Ich schaue der Medusa ins Auge, geschützt vom verspiegelten Schild meines Laptop-Schirms, und auf einmal decodieren sich solche Gräuel-Filme wie von selbst, zeigen mir, wie sie montiert sind, welche didaktischen Zwecke sie strukturieren, an welchem Punkt man es mit dem nachträglichen Sound-Design deutlich übertrieben hat, wo ein möglicher Spezialeffekt verborgen sein könnte, und wo auf jeden Fall einer vorliegt. Der Freilegungsprozess, den Kracauer im Sinn hat, bezieht sich also nicht nur auf die Realität, die vor den Bildern liegt, sondern auch auf die Fabrikationen, die erst folgen können, wenn die Bilder längst im Kasten sind. Nach einer Weile verliert sich ihre beabsichtigte Wirkung in einem Gefühl der Übersättigung. Die Realität wird zu real, um berühren zu können. Es ist die Fiktion, die mehr wehtut. Du findest es doch selbst furchtbar, sagt die Medusa. Du bist doch immun gegen radikale Ideologien, oder? Wieso schaust Du Dir mich eigentlich die ganze Zeit an? Jetzt mal ehrlich, und lass endlich die intellektuelle Scheiße beiseite!

All meine oben skizzierten Erfahrungen der letzten Jahre kondensieren vielleicht nicht wunderschön, aber frappierend in einem Machwerk mit dem tollen Titel INHUMANITIES, das 1989 auf die Gore-Hunde der death-film-Subkultur losgelassen worden ist. Regie führt ein gewisser Harvey Keith – und das Wort „Regie“ muss eigentlich, wie wir gleich sehen werden, in dicke Anführungszeichen gestopft werden –, der zuvor lediglich für einen Musikclip des mir bislang unbekannten Rap-Trios THE FAT BOYS verantwortlich zeichnete, in dem dieses es mit Freddy Krueger zu tun bekommen (der Song heißt ARE YOU READY FOR FREDDY?, und wirkt wie die kindischste Abbott-und-Costello-Folge, die niemals gedreht worden ist, und, ach ja, Robert Englund höchstpersönlich zieht sich dort seinen geliebten rot-schwarzen Pulli über), als auch durch einen interessant anmutenden Film namens MONDO NEW YORK (offenbar ein mondoesker Panoramaschwenk über die New Yorker Kunst- und Avantgarde-Szene der späten 80er – wo bekomme ich den nun wieder her?). Für INHUMANITIES hat sich der gute Mann gar nicht erst die Mühe gemacht, seine Wohnung zu verlassen, sondern ausschließlich munter Material aus anderen, ihm mutmaßlich als VHS-Kopien vorliegenden Filmen zusammengestöpselt. Herausgekommen ist allerdings weniger eine analoge Antizipation digitaler Kuriositätenkabinette, sondern ein unfreiwillig komischer, selbstentlarvender, himmelschreiender Ausflug in die verqueren Hirnwindungen von Menschen, die der Wunsch nach ökonomischem Erfolg offenkundig in den Wahnsinn getrieben haben muss – denn anders kann ich mir nicht erklären, dass Harvey Keith tatsächlich davon ausgegangen ist, in vorliegender Form sei sein Produkt auch nur ansatzweise dazu geeignet, die Bedürfnisse seines bluthungrigen Klientel zu befrieden. Anbei mein Sichtungsprotokoll, mit zunehmend zittriger Handschrift auf die Rückseite einer Kopie von Géricaults RADEAU DE LA MÉDUSE gekritzelt:

1:00: Wenn mir die Sprecherstimme eines gewissen Marc Andrews und die vermaledeite New-Age-Fahrstuhlmusik nicht schon den Rest gegeben hätten, hätte das die genre-typische Eröffnungsrede aus dem Off erledigt. „Time has always been a man-made concept. There are primitive places on this earth that time still does not exist. In the civilized world man dies and lives by the clock. No such rule exists here. Many of the people, places and things you’re about to see are part of a violent existence filled with rituals, secrets and customs that are often frightening. Much of which you are about to see are considered INHUMANITIES.” Dazu sehen wir Luftaufnahmen des, vermute ich mal, Amazonasbeckens – wie ein graziles Reptil schlängelt sich der Fluss durch den Dschungel –, sowie Aufnahmen von Angehörigen eines indigenen Volkes in voller Kriegsmontur, wie sie in Kanus den Strom hinabpaddeln.

5:00: Ich sollte wirklich einen Lehrstuhl für Mondologie bekommen, habe ich doch bereits jetzt erkannt, welchem ursprünglichen Kontext die Szenen ekstatisch tanzender und sich berauschender Menschen – vom Off-Sprecher der Einfachheit halber als „niggers“ tituliert – entstammen. Es handelt sich um die semi-fiktionale Doku KWAHERI: VANISHING AFRICA, eine US-Produktion von 1964, die sozusagen als Bindeglied zwischen den frühen Jungle-Exploitation-Filmen mit Männern im Affenkostüm und den späteren Afrika-Mondos à la Castiglioni fungiert, und in der ein Forscherteam die Wildnis auf der Suche nach dem sagenumwobenen Medizinmann Kwaheri durchstreift, der angeblich mit bloßen Händen komplizierte Hirn-Operationen durchzuführen vermag. Dabei treffen unsere Helden auf allerlei Getier und seltsame Gebräuche – zum Beispiel den, den INHUMANITIES nun recycelt: Eine nackte Jungfrau wird in Palmblätter eingewickelt, und lebendig verbrannt. So durchschaubar ist der Fake schon im Originalfilm, dass es mich wundert, wie ernst und erschüttert Herr Andrews dieses Feuer-Opfer, von dem wir freilich nur ein paar Flämmchen und viel Rauch um Nichts zu sehen kriegen, beschreibt. Weiterführende Informationen gibt es in INHUMANITIES übrigens nicht. Weder, wo wir uns gerade geographisch befinden, noch welchem Zweck der Opferritus eigentlich dienen soll. All das bleibt konsequent der Phantasie des Betrachters überlassen.

9:00: Ach ja, die afrikanische Flora und Fauna. Einen ganzen Stapel an harmlosen Tierdokumentationen scheint Keith in den folgenden Minuten durchstöbert zu haben. Nashörner plantschen am Flussufer. Kunterbunte Piepmätze flattern im Baumgeäst. Büffel tapsen durch die Savanne. Ein Elefant grüßt die Kamera mit erhobenem Rüssel. Dazwischen frisst zwar auch eine Riesenschlange etwas, das für mich wie ein übergroßes Meerschweinchen aussieht, und eine Junggiraffe wird von Hyänen überwältigt, aber mal ehrlich: Was hat das alles nun mit den versprochenen „Unmenschlichkeiten“ zu tun? Auch die anschließenden Jagdaufnahmen mit Pfeil und Speer würde ich nun nicht wirklich dazuzählen – zumal der Film ja selbst betont, die indigenen Stämme würden nur aus pragmatischen Gründen töten, nämlich um ihre Mägen zu füllen. (In den Worten Andrews‘ heißt das freilich: „Kill Kill Kill To Survive!“) Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, aber auch die meisten dieser Szenen kommen mir bekannt vor, und könnten aus KWAHERI stammen. Diesen Film muss Keith wirklich geliebt haben.

20:00: Noch mehr KWAHERI-Footage: Wen es interessiert, wie genau aus Schlangen Gift extrahiert wird, um dieses als medizinisches Wundermittel weiterzuverarbeiten, der sollte INHUMANITIES nicht verpassen. Immerhin erinnert sich Keith kurz darauf an das obligatorische Montage-Kontrastprogramm des Mondo-Kinos, und parallelisiert die primitiveren Jagdmethoden der „Wilden“ mit den effizienteren von modernen Großwildjägern, die aus reinem Spaß an der Freude auf wehrlose Elefanten und Löwen schießen. Dass der unermüdlich faselnde Andrews „normale“ indigene Männer, die beispielweise schlafend auf ihren Matratzen liegen, oder Frauen, die dabei sind, die Wäsche zu waschen – (nicht ohne Zoom auf die blanken Busen wohlgemerkt!) – als „cannibals“ und „headhunters“ verschreit, ordnet INHUMANITIES wiederum in diese ellenlange kolonialistisch-rassistische Tradition des Expeditionsfilms ein: Schon das weltenbummelnde und schwerreiche Ehepaar Martin und Osa Johnson ließen es sich nicht nehmen, ihre eigentlich ganz informative Dokumentation über Völker der Südsee von 1912 als CANNIBALS OF THE SOUTH SEAS zu betiteln – obwohl dort natürlich von kannibalistischen Exzessen jede Spur fehlt.

35:00: Noch mehr KWHAERI: Nun endlich ist Keith über die berühmt-berüchtigten Kopf-OP-Szenen gestolpert, in denen der titelgebende Schamane scheinbar ohne medizinische Hilfsmittel außerhalb eines rostigen Skalpells seinen Patienten die Schädeldecken aufsäbelt, und mit bloßen Händen in ihren offenliegenden Gehirnen herumfuhrwerkt. Falls die Aufnahmen nicht gestellt sein sollten, - und irgendwie tendiere ich dazu, sie, im Gegensatz zu ähnlichem Material in MAGIA NUDA der Castiglioni-Gebrüder, für bare Münze zu nehmen –, sind das durchaus spannende Einblicke in die Ethnomedizin. Anmerken muss ich an dieser Stelle, dass INHUMANITIES in der mir vorliegenden Fassung offenbar über Generationen hinweg von einer VHS auf die nächste überspielt worden ist. Trotzdem aber erkennt man deutliche Qualitätsunterschiede zwischen den einzelnen Segmenten. Ob Keith sich nun bei KWAHERI oder einem anderen Film bedient hat, zeigt mir allein deutlich, dass die Bildqualität zwischen den unterschiedlichen Quellen extremen Schwankungen unterworfen ist. Nur für*s Protokoll, wie sehr sich der Film für jeden Laien allein über seine visuelle Gestaltung als der Flickenteppich enttarnt, der er nun einmal ist.

40:00: Kontrastprogramm. Nachdem wir die „primitive“ Art des Kopföffnens gesehen haben, nun die moderne Variante in Gestalt von OP-Footage, das Keith möglicherweise aus irgendeinem Lehrfilm für angehende Mediziner stibitzt hat. Noch eine halbe Stunde, dann bin ich erlöst.

44:00: Ein Ferkel saugt putzig am Busen einer Frau (Referenz an MONDO CANE – oder ist das am Ende gar dieselbe Szene?) Ein Jaguar stürzt in einen Fluss voller Krokodile, und wird von diesen bei lebendigem Leibe verputzt. („Stürzt“ ist purer Euphemismus = die Montage zeigt deutlich durch das, was sie eben nicht zeigt, dass der Jaguar offenbar von den Filmemachern selbst zunächst verwundet, und dann gezielt den Krokodilen zum Fraß vorgeworfen worden ist. Keine Ahnung, woher diese Szene nun wieder stammt, aber Lust bereitet sie mir nicht auf ihren Ursprungsfilm). Schließlich folgt der wahre Oberhammer: Während Andrews so tut, als würden wir nun endlich authentische Aufnahmen eines kannibalistischen Festschmauses zu sehen bekommen, switcht INHUMANITIES die Kanäle zu einer Fressszenenparade italienischer Kannibalenfilme. Mindestens Szenen aus Deodato’s ULTIMO MONDO CANNIBALE und D’Amatos EMANUELLE E GLI ULTIMI CANNIBALI reiht INHUMANITIES total konfus geschnitten aneinander, zeigt sie schließlich gar in Zeitlupe, während die Tonspur-Synthies pseudo-klaustrophobisch fiepen, und ein spontaner Lachanfall mich vom Sessel holt.

47:00: Es beruhigt meinen hüpfenden Bauch nicht, dass daraufhin die legendäre, weil einfach nur bescheuerte Alligator-Attacke aus Arthur Davis‘ bescheuertem BRUTES AND SAVAGES folgt. Mann, warum tue ich mir das an?

48:00: Ich tue mir das an, um bei der Betrachtung neuerlicher Szenen tanzender und singender Stammesangehöriger darüber belehrt zu werden, dass Afrika die Wiege der modernen Populärmusik ist. Ohne archaische Trommeln kein Rhythm-n-Blues, kein Rock-n-Roll, kein Dance Pop. Bildungsauftrag erfüllt.

59:00: Ihr habt nicht ernsthaft Szenen aus AFRICA ADDIO übernommen, und sie mit banalstem Kaufhaus-Muzak aus der Synthie-Konserve und teilweise neu eingesprochenen Dialogen unterlegt, oder? Sei es nun die Jagd auf Elefanten, seien es die (höchstwahrscheinlich inszenierten) Rebellenerschießungen, die Jacopetti seinerzeit vor Gericht brachten – auf einmal weiß man wirklich, was man an der versierten Schock-Montage der Mondo-Pioniere und dem gottbegnadeten Score Riz Ortolanis hat. Es macht INHUMANITIES übrigens nicht besser, wenn man ein und dieselbe Szene gleich zweimal zeigt.

1:02:00: „At the same time, on another picturesque continent, romance is in the air.” Ein junger Mann möchte eine junge Dame ehelichen. Ihr Vater ist dem nicht abgeneigt. Zur Hochzeit aber muss eine Schildkröte geopfert werden. Klar ist, dass die voyeuristische Kamera von wem auch immer sich das nicht entgehen lässt, und in der Anatomie der bei lebendigem Leibe regelrecht seziert werdenden Kreatur regelrecht schwelgt. Dagegen ist die Schildkrötenszene von CANNIBAL HOLOCAUST ein Musterbeispiel für humanes Tierschlachten. Immerhin wird die Opferung mit der Hochzeitsnacht beschlossen. Softpornographisch wälzt sich unser Liebespaar im Ehebett.

1:10:00: …und noch mal fünf Minuten Tier- und Landschaftsbilder aus dem Archiv, bevor dieser Alptraum von einem Film endlich zu seinem verdienten Ende kommt. Da schleicht das Nilpferd, da flattert der Pelikan, da guckt der Löwe aus dem hohen Steppengras. Teilweise stammen auch diese Aufnahmen aus AFRICA ADDIO, dort mit mickey-mousing untermalt, während bei Keith von hohen Flötentönen dominertes easy-listening klimpert. In keinem schwülstigen 80er Porno klänge das verkehrt. Puh, endlich vorbei.

Appendix 1: Ich habe der Medusa, einmal mehr, ins Auge geblickt. Was hat sie mir gezeigt? Nicht viel, was ich nicht schon vorhergesehen hätte. Italienische Kannibalenfilme. US-amerikanische Afrika-Expeditionen auf Exploitation-Niveau. Tierdokus, wie sie in meiner Kindheit noch zur besten Sendezeit in den Öffentlich-Rechtlichen liefen. Filmhistorisch kann man freilich trotzdem (oder gerade deshalb) viel Kluges aus einem solchen Film herausfischen. In seinem zirkulären Kreisen um die eigene Achse, erklärt mir die Medusa, während sie langsam zu Stein erstarrt, hat sich das Mondo-Kino eigentlich schon Ende der 70er selbst aufgefressen. Filme wie INHUMANITIES sind daher nicht unbedingt ein Traditionsbruch, sondern führen fort, was die italienische Kannibalen-Welle der 70er mit ihren recycelten Tiertoden, Resterampen-Verwertungen wie Bitto Albertinis NUDO E CRUDELE oder Morras/Climatis DOLCE E SELVAGGIO, in denen Szenen früherer Werke wie selbstverständlich mit neuem Material verschmolzen werden, oder zwischen Fake und bitterer Realität oszillierende shockumentaries wie FACES OF DEATH bereits längst zur Norm erhoben hatten: Primär zählt nicht, was gezeigt wird, sondern die spezifische Aufbereitung des Materials, wobei die Quantität die Qualität zielsicher aussticht. INHUMANITIES zeigt dementsprechend zuallererst eben nicht die Unmenschlichkeiten, die Menschen an Menschen oder Menschen an Tieren oder Tiere untereinander vollbringen – (wobei ich einmal mehr fragen muss: Ist das wirklich „unmenschlich“, wenn eine Hyäne eine Giraffe verspeist?!) -, vielmehr eröffnet der Film einen erhellenden Blick auf den, wenn man so will, „inhumanen“, jedenfalls völlig unbekümmerten, ästhetisch-ethisch fragwürdigen Umgang der Verantwortlichen mit bereits existentem Material – ob nun aus fiktionalen oder aus dokumentarischen Kontexten, das spielt keine Rolle. Harvey Keith sitzt in seinem Wohnzimmer, und kopiert sich mit mehreren Video-Rekordern seinen persönlichen Afrika-Mondo zusammen.

Appendix 2
: Im gleichen Jahr, 1989, veröffentlicht die gleiche Produktionsfirma namens Platinum einen Film, dessen Titel schon viel darüber aussagt, wie ambitioniert seine Macher – diesmal auf dem mit seiner Wohnzimmercouch synonymen Regiestuhl: ein gewisser Wesley Emerson, dessen Filmographie größtenteils aus Hardcore-Pornos wie ANAL SINSATIONS, SEX LIVES OF CLOWNS oder IN SEARCH OF THE PERFECT BLOW JOB besteht – bei ihm zu Werke gegangen sind, heißt das Machwerk im Vorspann doch INHUMANITIES II: MODERN ATROCITIES, und im Nachspann plötzlich INHUMANITIES 2. Seinen Untertitel sollte man indes ernstnehmen: Wo INHUMANITIES nostalgisch über die Schulter in eine mediale Vergangenheit guckt, und dem vor allem italienischen Mondo-Kino seine zweifelhafte Referenz erweist, widmet sich sein Nachfolger ganz der kruden Kompilation von, wie es in der noch immer obligatorischen Eröffnungs-Ansprache heißt, „contemporary violence and catastrophes“, präsentiert in Form von „recent newsreel-footage taken from around the globe.“ Ob nun die Exhumierung der Opfer des mexikanischen Massenmörders Adolfo Constanzo, ein Lynchmob irgendwo in Afrika, der sich seiner Delinquent mittels des sogenannten „necklacings“ entledigt, explizite Einblicke in die Nachwirkungen des Burundi-Massakers, aber auch die Beerdigung Ayatollah Khomeinis, eine Supermarkt-Schießerei, aufgenommen von einer Überwachungskamera, die Flugzeugkatastrophe von Rammstein, oder historisches Bildmaterial zu Auschwitz und Hiroshima – INHUMANITIES II / 2 ist durch sein Prononcieren der Gegenwart und vor allem von amateurhaften, augenblickhaften, weitgehend nicht für die Öffentlichkeit (und schon gar nicht für einen Kontext wie vorliegenden) bestimmten Aufnahmen schon wesentlich näher an gängigen Internet-Schockseiten als sein Vorgänger, der sein Material vorwiegend aus vergleichsweise professionell hergestellten Filmen der 60er und 70er rekrutiert hat. Statt Synthie-Geplänkel erklingt stilecht die meiste Zeit klassische Musik – am liebsten Bachs TOCCATA UND FUGE IN D-MOLL -, ansonsten sind die beiden Werke aber doch nahezu identisch in ihrer Machart. Das Korsett bleibt bestehen, nur das, was es umschließt, hat sich geändert. In einer Geschichte des medialen Todes im zwanzigsten Jahrhundert müsste das Jahr 1989 als Epochengrenze vorgeschlagen werden. Da bäumt sich das versunkene Mondo-Kino noch einmal verzweifelt auf, um im gleichen Atemzug endgültig untergepflügt zu werden. Zu INHUMANITIES III, der in der mir vorliegenden Fassung des Zweitlings großspurig angekündigt wird, scheint es dann übrigens nie gekommen zu sein. Ich bin gerade froh darum, dass meine Chronistenpflicht mich nicht auch noch dazu zwingt.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Junk Films

Produktionsland: Japan 2012

Regie: Kiyota Tsurisakis

Darsteller: Leichname aus aller Welt
Wie ich in meiner Kurzbesprechung zu Thierry Zénos thanatologischer Film-Studie DES MORTS, die zwischen 1977 und 1979 auf drei Kontinenten entstand, geschrieben habe, wäre dieses Werk ohne die Anfang der 60er einsetzende Mondo-Welle und an sie anknüpfende Derivate wie FACES OF DEATH nicht denkbar gewesen – auch wenn, oder eher: gerade weil Zéno und sein Team deren ästhetisch-technischen Parameter weitgehend unterminieren, um ein rechtschaffenes Gegenstück zu ihnen zu entwerfen. Bei den JUNK FILMS Kiyota Tsurisakis, die 2012 von ihrem Regisseur zu einer neunzigminütigen Kompilation zusammengefasst werden, könnte man, obwohl er freilich ebenfalls eindeutig auf den in Japan seinerzeit unter dem beredten Titel JUNK herausgekommenen FACES OF DEATH verweist, wiederum argumentieren: Hätte es DES MORTS, von dem ich mir hundertprozentig sicher bin, dass der japanische Photograph und Filmemacher ihn gesehen haben muss, nie gegeben, würde vorliegender Film nicht so aussehen wie er aussieht.

Tsurisakis ist hauptberuflicher Totenphotograph. Seit den 90ern bereist der ehemalige Hardcore-Porno-Regisseur die Welt, um ihre Antlitze des Ablebens zu knipsen. Schnell wird die internationale Kunstszene auf ihn aufmerksam. Es erscheinen Hochglanzbände mit seinen Bildern. Er bestreitet Ausstellungen in renommierten Galerien. ARTE dreht ein Feature über ihn. Bekannt ist er vor allem für einen Dokumentarfilm, den er 2001 veröffentlicht. In OROZCO THE EMBALMER begleitet er über Jahre hinweg den titelgebenden Leichenpräparator in einem kolumbianischen Städtchen, wo das Faustrecht der Gewalt gilt. Tagtäglich liegen Opfer von Raubüberfallen oder Messerstechereien auf dem Tisch des nicht unsympathischen Einbalsamierers, der gesprächsfreudig seinem Handwerk nachgeht, mit seinem Assistenten ausgiebig beratschlagt, wo sie später essen gehen sollen, und beiläufig erwähnt, dass er während der Militärdiktatur berühmt für seine Verhörmethoden gewesen ist, die wirklich jeden haben singen lassen. Schon in OROZCO verlässt Tsurisakis immer mal wieder die armselige Präparationsstätte, und erkundet die Straßen des umliegenden, nicht weniger ärmlichen Viertels. Oft hält er beim Spazieren inne, um seine Kamera am Straßenrand herumliegende tote Körper fokussieren zu lassen. Eines extradiegetischen Kommentars enthalten sich Film und Regisseur bei alldem völlig. Wie DES MORTS ist OROZCO ein Film, der deshalb zum Nachdenken anregt, weil er es nicht nötig hat, seine visuellen Tabubrüche und grenzgängerischen Einblicke in Vergänglichkeitsprozesse mit grellen Effekten, einer unfreiwillig komischen Narration oder offensichtlichen Fakes zuzukleistern und damit abzufedern wie es beispielweise John Allan Schwartz in FACES OF DEATH oder auch so mancher Mondo-Nachzügler der späten 70er, frühen 80ern tut.

Tsurisakis JUNK FILMS sind, laut Untertitel, seine „collected shockumentaries“. Ersteres hat damit zu tun, dass er offenbar disparatestes Material aus seinem Privatarchiv aneinanderheftet. Wir sehen, durchaus konform mit dem Genre, zu dem sich der Film freimütig bekennt, eine bunte Tüte „gruesome stuff“, deren einzelne Bonbons ausnahmslos, wie OROZCO, von einer wackligen Handkamera eingefangen werden. Ihr Authentizitätspegel könnte kaum höher sein: Ein „Vegetarian Festival“ in Phuket, wo Menschen sich freiwillig Selbstverletzungen zufügen, indem sie sich die Gesichter und Münder mit spitzen Gegenständen durchbohren, und dessen Szenen problemlos auch in einem beliebigen italienischen MONDO-CANE-Epigonen hätten stattfinden können. Ein endlos lange und schnittlose direct-cinema-Sequenz, in der der wir beiwohnen, wie eine Gruppe japanischer Bestatter die Überreste eines frisch kremierten Leichnams zusammenlesen, und einer Urne überantworten, während sie respektlose Scherze reißen. Aufnahmen, die sich schon allein geographisch mit welchen decken, die Zéno, Garny und Februs in DES MORTS untergebracht haben, und zeigen, wie hinduistische Gläubige ihre Toten achtlos in den Ganges werfen oder an seinen Ufern verbrennen, während erstaunte Touristen auf ihren Booten an den kohlenden Haufen oder verwesenden Leichnamen vorbeifahren. Ebenso begegnen wir aber auch einem gewissen Abd al-Majid, seines Zeichens Führer der „al-Aqsa Märtyrerbrigade“, den Tsurisaki, wie auch immer, zu einem Interview vor Ort in Palästina hat einladen können, und einem Segment, das anmutet wie ein in sich geschlossener experimenteller Kurzfilm: Ein kleiner Junge scheint den Leichnam seiner toten Mutter zu beäugen, wobei die sowieso schon limitierte Bildauflösung diesmal derart grobkörnig ausfällt, dass ich das wiederum auch nur mutmaßen kann. Untertitelt wird das Nötigste, die Bestimmung von Raum und Zeit nehmen, ebenfalls wie bei DES MORTS, genaue Orts-, manchmal sogar Straßennamen sowie Uhrzeiten nennende Texttafeln vor, und extradiegetische Musik ist, bis auf die Aufnahme des erwähnten мать-Segments, völlig aus dem Film verbannt. Ist JUNK FILMS demnach ein veritabler Nachfolger von DES MORTS, seine Fortschreibung und Übersetzung, dreißig Jahre später, von einem analogen Jahrhundert ins digitale?

Dass meine Antwort eher negativ ausfällt, hat mit dem zweiten Bestandteil des Film-Untertitels zu tun, sollte man Tsurisakis Selbsteinschätzung als „shockumentarist“ doch durchaus ernstnehmen. Den Großteil seines Materials stellen Szenen von der Art dar, die in OROZCO als Lötmaterial zwischen den Präparationen und Dialogen eingesetzt werden: Tsurisaki folgt seinen Polizeiinformanten zu irgendeinem Tatort, wo man gerade wieder eine brutal zugerichtete Leiche gefunden hat, sei es nun in Santafe de Bogota, oder in Bangkok, oder auf Sumatra. Während sich Zéno für so ziemlich alle Aspekte des Todes und unseres Umgangs mit ihm interessiert – Tierfriedhöfe, Autopsien, die Mumien von Guanajuato, utopische Methoden der Kyronik –, dominiert bei Tsurisaki vor allem einer, der sich recht gut in Bildern zusammenfassen lässt wie das eines Mannes, dessen Kopf nach einem Unfall eine einzige klaffende Wunde ist, oder das einer mit Messerstichen übersäten Frauenleichen, oder die Aufnahme gleich zu Beginn, als auf offener Straße ein menschliches Herz liegt, und ein paar Schritte daneben das zugehörige Mordopfer. Dass Tsurisakis erste Reaktion es ist, auf den zerfetzten Brustkorb zu zoomen, unterwandert früh einen ernstzunehmenden ethnographischen oder soziologischen Ansatz, wie ihn das belgische Team pflegt. Auch stellt sich nach dem zehnten in allen graphischen Einzelheiten vorgeführten Resultat einer Gewalttat eine gewisse Ermüdung bei mir ein: Ich weiß, die Welt ist ein grauenhafter, gewalttätiger, grausamer Ort. Aber will mir der Regisseur wirklich nicht mehr damit sagen, wenn er unermüdlich mit seinen Kontaktleuten durch nächtliche asiatische oder lateinamerikanische Stadtviertel gondelt, immer auf der Suche nach dem nächsten möglichst entstellten Leichnam, den er seiner Kamera anvertrauen kann? Und was sagt diese Beschäftigung über ihn aus? Und was über mich, der ich mir all das eineinhalb Stunden lang anschaue?

Bei derartigen Filmen ist es schwierig, eine genaue Grenzlinie zu ziehen, wo die Exploitation anfängt, und wo der didaktische Gestus endet, wo eine Intention in die Richtung zielt, eine Gier nach grenzüberschreitenden Bildern zu befriedigen, und wo sie einem wirklichen aufklärerischen Anliegen dient, wo ein Thema ausgebeutet, und wo es mit der gebührenden Distanz und Sorgfalt angefasst wird. OROZCO hat mich nicht zuletzt dadurch begeistert, dass dort, wie in DES MORTS, einfach nur beobachtet, und nicht kommentiert, nicht gedeutet, nicht einmal wirklich kontextualisiert wird. Orozco schminkt seine Toten, entnimmt ihnen Organe, stopft ihnen Papierknäuel unter die Wangen, um deren Eingefallen-Sein zu kaschieren. So ist das eben. Wir können die Augen davor verschließen, oder hingucken. Tsurisaki guckt eben hin. Bei JUNK FILMS ist es im Grunde eigentlich nicht anders. Tsurisaki schaut einfach nur zu. Seine Beteiligung ruft allein die beständige Handkamera ins Gedächtnis, die kongruent ist mit seinem subjektiven Blick aufs Geschehen. Der Unterschied zu seinem eigenen früheren Film liegt hauptsächlich darin, dass eine Figur fehlt, die all diese Schlüssellochblicke in befremdliche und beklemmende Welten knapp unterhalb der Fassade des schönen Scheins tragen kann – so wie der irgendwie liebenswerte, irgendwie unnahbare Präparator mit seiner dunklen Vergangenheit. Der Unterschied zu DES MORTS liegt hauptsächlich darin, dass Tsurisakis‘ Aufnahmen reinen home-video-Charakter besitzen, ohne dass sie einer übergeordneten Idee geschuldet wären – so wie Zéno und sein Team nichts weniger wollen, als ein synchron ablaufendes Panorama von Toten und Toden unterschiedlichster geographischer und kultureller Couleur vor uns auszubreiten. Für den Hausmüll, wie ihr Titel suggeriert, sind diese JUNK FILMS dann doch zu schade, dafür ist das Material, trotz einiger angedeuteter voyeuristischer Entgleisungen, letztlich gerade in den Szenen ritueller Feste, bürokratisch ablaufender Beisetzungen oder Exhumierungen zu interessant. Mehr als dass da jemand seiner morbiden Neigung nachgeht, die Kamera dabei laufenlässt, und die Ergebnisse eher stumpf zusammenmontiert, kann ich hier beim besten Willen aber trotzdem nicht erkennen.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Black Metal Veins

Produktionsland: Kanada 2012

Regie: Lucifer Valentine
Lucifer Valentine ist wohl eher berüchtigt als berühmt für seine sogenannte Vomit-Gore-Trilogie, bestehend aus SLAUGHTERED VOMIT DOLLS (2006), REGOREGITATED SACRIFICE (2008) und SLOW TORTURE PUKE CHAMBER (2010), die ausgiebig sowohl seiner Emetophilie bzw. Vomerophilie, sprich, der sexuellen Erregung beim Anblick von erbrechenden Menschen, Rechnung tragen als auch seiner Vorliebe dafür, mittels konfuser Schnitte, einem (ver-)störenden Sound-Design, und fragmentierter Handlungsversatzstücke den Eindruck zu erwecken, es handle sich bei ihm um einen ernstzunehmenden Avantgarde-Filmemacher. Im Jahre 2012 veröffentlicht er mit BLACK METAL VEINS seinen ersten Dokumentarfilm. Über mehrere Monate hinweg hat der Kanadier die Mitglieder einer Black-Metal-Wohngemeinschaft, wenn nicht sogar -Kommune mit der Kamera begleitet. Innerhalb des titelgebenden Subgenres harscher Klänge werden die jungen Leute allerdings hauptsächlich dadurch verortet, dass einer von ihnen, Brad, als Gitarrist in einer schwarzmetallenen Kapelle (ge)wirkt (hat?), woran uns der Film regelmäßig mit Schwarzweißaufnahmen und drittklassigen Burzum-Riffs erinnert. Ansonsten bleibt das, was uns Brad und seine Mitbewohner über die Faszination, die von dieser Musik ausgeht, ihre Ästhetik, ihre sonischen Spezifika zu erzählen wissen, in enggesteckten Grenzen. Einmal hält Brad einen Mini-Vortrag über die Entwicklung der genre-begründenden schwedischen Bathory von dem rauen Sound ihrer Anfangstage hin zu den Wikinger-Thematiken, denen sie sich auf späteren Alben verschrieben haben, und was für einen Einfluss gerade diese Band auf ihn persönlich ausgeübt hat. Damit erschöpft sich allerdings auch schon der Black-Metal-Aspekt. Deutlichere Affinitäten besitzt Valentine zu den titelgebenden Venen, denn: Sämtliche Kommunarden sind hochgradig drogenabhängig, rauchen Crack, spritzen Heroin, und verkaufen Valentine und uns das pseudo-stoizistisch als Lebensphilosophie. Vollkommen freiwillig hätten sie alle ihre destruktiven Lebenswege eingeschlagen, aus Misanthropie, aus Verachtung für die eigene Existenz, die sie totschlagen wollen wie eine lästige Fliege, aus dem klaren Bewusstsein heraus, nicht in Monotonie alt werden zu wollen, sondern lieber in einem permanenten Rausch sich eigenhändig und möglichst jung das eigene Grab zu schaufeln. Tja, und Lucifer Valentine ist live mit seiner unruhigen Handkamera vor Ort, um genau dies zu bebildern: Wie sich junge Leute mittels ganzer Asservatenkammern schädlicher Substanzen noch zu Lebzeiten in lebende Leichname verwandeln.

Was macht BLACK METAL VEINS zu einem gelungenen Dokumentarfilm? Valentine tritt in die Fußstapfen des cinéma vérité, wenn er – zumindest auf den ersten Blick – so wenig wie möglich in das Geschehen eingreift, als Filmender hinter seinem Sujet zurücktritt, und den Eindruck erweckt, er sei ein stilles Mäuschen, das dem munter wechselnden Kreis an Junkies aus seinem Löchlein heraus einfach nur bei der Selbstzerstörung zuschaut. Selbst wenn Brad, seine Freundin Autumn Misery, oder Raven und ihr Freund Chris der Kamera frontal ihre Weisheiten anvertrauen, ist Valentines Einzelheiten aus ihnen hervorkitzelnde Stimme nie zu vernehmen. Es wirkt größtenteils, als würden seine Interviewpartner tatsächlich frei von der ramponierten Leber plaudern. Manchmal gelingen BLACK METAL VEINS damit sehr hellsichtige, schmerzhafte Momente. Einer, der mich besonders betroffen gemacht hat, zeigt Raven, die sich im Laufe der eineinhalb Stunden, neben Brad, zu so etwas wie der „Heldin“ des Films mausern wird, und einen Dealer, der ab und zu bei der WG vorbeischneit, wie sie, unabhängig voneinander, aber in Parallelmontage, zunächst nachdrücklich bekräftigen, dass kein externes Unglück, kein Schicksalsschlag sie in ihre derzeitige Situation manövriert habe. Nein, sagen beide unisono, das sei allein ihre eigene Entscheidung gewesen, sie hätten beide eine glückliche Kindheit verlebt, liebende Eltern gehabt, einen normalen Alltag als Jugendliche etc. Dann aber, je länger die Szene andauert und je mehr Crack-Rauch den beiden in die Lungen weht, kommen hinter ihren Beteuerungen wahre Abgründe zutage. Der Dealer berichtet schließlich davon, dass sein Vater sich, schwer krebskrank, das Leben genommen habe, indem er sich in den Kopf schoss, um einen langen, qualvollen Tod zu entgehen, und dass er damals noch ein Kind gewesen sei. Raven wiederum berichtet von ihrem aufdringlichen Stiefvater, der sie als Kind gerne gebadet habe, und davon, dass sie selbst bereits zwei Kinder habe, die sie aber, aufgrund ihrer Drogensucht, nicht sehen dürfe, sie seien bei Pflegefamilien, aber irgendwann, verspricht sie sich, werde sie sie zu sich zurückholen. Auch am Ende des Films gewinnt BLACK METAL VEINS eine gerade wegen seines schonungslosen Realismus durchaus nahegehende tragische Qualität, wenn ausgewählte Eltern der Personen, die wir bis dahin weit über ein halbes Jahr beim körperlichen Zerfall begleitet haben – gerade Raven löst sich innerhalb von sechs Monaten regelrecht vor unseren Augen auf, ist irgendwann übersät von Abszessen, von denen sie erklärt, das sei die Droge, die in ihrem Körper eingesperrt sei, und nach Wegen suche, aus diesem hervorzubrechen - ihre Hilflosigkeit zum Ausdruck bringen, von den Leben erzählen, die sie sich für ihre Kinder eigentlich gewünscht hätten, und vor laufender Kamera in Tränen ausbrechen.

Genau diese Tränen und Abszesse fallen aber schon unter die Antwort auf die Frage, weshalb BLACK METAL VEINS ein ethisch-moralisch äußerst fragwürdiger Dokumentarfilm ist. Denn: Natürlich ist Lucifer Valentine jede Sekunde anwesend, und er reibt uns das auch unter die Nase allein dadurch, wie er sein Material nachträglich bearbeitet hat. Noch immer sind seine stakkatoartige Schnitte oftmals dazu geeignet, mich seekrank werden zu lassen. Gefühlt alle paar Sekunden erfolgt ein Sprung, was gerade die Dialoge und Monologe fortwährend in zusammengestutzte, teilweise sinnentfremdende Collagen verkehrt. Auch die aus seiner VOMIT-GORE-Trilogie bekannten Soundeffekte finden sich in BLACK METAL VEINS en masse. Aus dem Off ertönen atonale Industrial-Klanglandschaften oder Stimmen, die elektronisch verzerrrt und in Zeitlupe rückwärts abgespielt werden, beides manipulative Eingriffe, die die Bilder oft genug nicht bloß überlagern, sondern regelrecht unter sich begraben. Genau solche Geisterbahn-Gimmicks sind allerdings, wie ich finde, wenig dazu geeignet, den menschlichen Dramen vor unseren Augen gerecht zu werden. Vielmehr stempeln sie die Schicksale von Raven, Brad und ihren Freunden zur bizarren Freakshow. Oft genug merkt man Valentine außerdem an, mit welcher Leidenschaft er bei der Sache ist, wenn es darum geht, sich in die Gesichter seiner völlig abgeschossenen Protagonisten, bei denen bloß noch die Augenlider flattern, mit der Kamera förmlich einzugraben, in Großaufnahme die verwachsenen, klauenartigen Zehennägel Brads vorzuführen, mittels Zoom in die Abszesse an Ravens Hintern einzutauchen, oder generell seine „Helden“ selbst in Zuständen, wo diese mit Sicherheit nicht mehr zurechnungsfähig sind, skrupellos weiter zu filmen – sei es nun, wenn sie, wie Raven, einen Striptease hinlegen, oder, wie Autumn Misery, einen Monolog über der Kloschüssel halten, in die sie (wenig verwunderlich) dabei andauernd on-screen speien, oder, wie Brad, ihre Freunde auffordern, ihm Whiskey per versiffter Spritze in die Halsschlagader zu jagen. Gerade letztere Szene lässt mich dann doch fragen, inwieweit denn die Anwesenheit Valentines die Protagonisten am Ende nicht gar noch dazu angestachelt hat, sich vor seiner Kamera weitaus heftiger gehenzulassen als sie es ohne eine beobachtende Instanz getan hätten. Wenn beispielweise Brad beinahe stolz seine verfaulten Zahnstümpfe bleckt, um Valentine „the perils of drug use“ anschaulich zu machen, oder wenn Ravens unscheinbarer Freund, der selbst keine Drogen anrührt, und bei dem ich mich stetig wunderte, weshalb der eigentlich mit diesen menschlichen Wracks herumhängt, auf einmal die Lust übermannt, und Brad ihm noch hilft, die komplett weggetretene nackte Raven auf dem Bett in die richtige Stellung zu bringen, damit er sich an ihr vergehen kann, dann hat das für mich mehr als nur einen bitteren Beigeschmack. Die Geschmacksknospen vollkommen weggeätzt bekomme ich, wenn Valentine uns das Ergebnis dieser Vergewaltigung – (die wir zum Glück nicht zu sehen bekommen) – zeigt: Raven liegt auf ihrer Matratze, vor ihrem Mund hat sich eine Blutlache gebildet, dazu jaulen absonderliche Dämonenstimme, und selbst die Kameralinse – nur: wie soll das denn passierten sein, oder hat Valentine die selbst dorthin getupft? - hat ein paar Blutflecken abbekommen.

Aufrüttelnd investigative Anti-Drogen-Doku, die in jeder Schule als Rosskur auf den Lehrplan gehört, oder voyeuristisches Ausschlachten der physisch-psychischen Missstände von Menschen, die nicht mehr fähig oder nicht willens sind, den Voyeurismus zu registrieren, dem sie zum Aufgeilen dienen? Entscheidet selbst! Meine Meinung dürfte klargeworden sein.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Visages d'enfants

Produktionsland: Frankreich/Belgien 1925

Regie: Jacques Feyder

Darsteller: Jean Forest, Pierrette Houyez, Arlette Peyran, Victor Vina, Rachel Devirys
Es ist wie mit dem ersten Sex, wie mit dem ersten Vollrausch, wie mit dem ersten Mal weinend eine Kuh zu umarmen, wie mit dem ersten Mal ohne Strom auf einer Ostseeinsel festsitzen, wie mit dem ersten Mal in der Frankfurter Innenstadt zelten. Man hat viel darüber gelesen, und kann sich ungefähr vorstellen, wie es sich anfühlen und was es mit einem machen wird, doch dann, wenn es einem widerfährt, ist es doch ganz anders, und meistens viel schöner.

Auch über VISAGES D’ENFANTS hatte ich schon einiges gelesen, und ausnahmslos Gutes. Ursprünglich 1923 gedreht, kam die schweizerisch-französische Co-Produktion erst 1925 in die Kinos. Mitgearbeitet an ihr haben Meister ihres Fachs: Jacques Feyder führt Regie und besorgt den Schnitt, die Kamera kurbelt Léonce-Henri Burel, der vorher schon für Abel Gance tätig war, und später für Robert Bresson tätig sein wird. Beim zeitgenössischen Publikum fällt VISAGES D’ENFANTS, wie viele andere Edelsteine des Kinos, allerdings gnadenlos durch. Wie ebenfalls bei vielen anderen Edelsteinen des Kinos müssen Jahrzehnte ins Land gehen, bis Jean Mitry schreiben wird, dass, wenn er nur einen einzigen französischen Film der 20er vor der Vernichtung retten könne, es mit Sicherheit dieser hier wäre. Die Sekundärliteratur überschlägt sich seitdem in ihren Lobgesängen auf die Außenaufnahmen des Films, der an Originalschauplätzen im Oberwallis vor imposanter Bergkulisse gedreht worden ist, und vergleicht ihn mit bildgewaltigen Werken von Schweden wie Victor Sjöström oder Mauritz Stiller. Zu lesen ist ebenso oft, dass VISAGES D’ENFANTS einer der ersten Filme überhaupt sei, der konsequent die Sicht seiner minderjährigen Protagonisten einnehme, und seine Geschichte rein aus den titelgebenden Kindergesichtern bzw. -augen erzählen würde. Dabei strotze er nur so vor kreativen Regieeinfällen, sei zwar melodramatisch, aber niemals sentimental, und seine Kinderdarsteller würden absolut realistisch agieren, ohne weit ausholende Theatergesten und rollende Augen. Das alles kann man lesen, und glauben, aber wirklich glauben tut man es erst, wenn man es gesehen hat.

Der Ortsvorsteher einer kleinen Gemeinde irgendwo in den Schweizer Bergen sieht sich als Witwer vor die Aufgabe gestellt, seine beiden Kinder, den zehnjährigen Jean und die fünfjährige Pierette, alleine aufzuziehen. Da es aber im Dorf noch eine andere Witwe gibt, eine ebenfalls alleinerziehende Mutter einer halbwüchsigen Tochter, entschließt sich Pierre dazu, ein zweites Mal zu heiraten. Jean ist davon wenig begeistert, zu groß ist die Eifersucht auf die Stiefmutter, und auf die vielleicht zwölfjährige Halbschwester Jeanne, die er als direkte Konkurrentin um die Gunst der Eltern ansieht. Zwischen den Kindern, auf der einen Seite die verschworene Gemeinschaft von Jean und Pierette, auf der andern Jeanne, die mal forsch, mal flehentlich in diese vorzudringen versucht, wachsen sich die Animositäten zu wahrer Feindschaft aus, die Jean auf einen bösen Gedanken bringen: Als Jeanne im tiefsten Winter ihre Puppe im Schnee verloren hat, erklärt er ihr, er sei sicher, sie müsse bei der Brücke im Wald liegen, und dass sie sich nachts aus dem Haus schleichen solle, um sie zu holen, denn die Eltern würden bei dem Wetter wohl kaum mit ihr dorthin fahren, und sie auch nicht alleine gehenlassen. Natürlich ist das erstunken und erlogen, und Jeanne gerät, als sie sich verläuft und eine Lawine auf sie herabregnet, in Lebensgefahr…

Nichts kann ich hinzufügen, was nicht schon in den oben zitierten Quellen zu finden ist, nur meine eigenen Emotionen, zu deren Spielball mein Körper wird, als ich vor einigen Wochen wegen der Hitze nicht schlafen kann, und das Fenster aufreiße, um wenigstens die etwas kühle Seeluft hereinzulassen, und mir VISAGES D’ENFANTS anschaue, ohne viel zu erwarten, ohne viel zu hoffen. Der Titel ist Programm: Noch bevor irgendein Erwachsener eine Großaufnahme bekommt, haben wir die Gesichter Jeans und Pierettes in Großaufnahme liebgewonnen. Wie Jean bei der Beerdigung seiner Mutter zusammenbricht, wie er danach mit ihr über die Photographie kommuniziert, die gerahmt über seinem Bett hängt, wie sie ihm aus dieser zulächelt, für immer jung, und wie Pierette den Tod der Mutter erst gar nicht begreifen kann, und mit ihren Puppen spielt, während Männer aus dem Dorf den Sarg holen kommen, und wie sie sch freut, als ihr Bruder nach Wochen der Abwesenheit, die er mit dem Pfarrer in ein Nachbardorf gereist ist, plötzlich wieder vor ihr steht, und wie sie auf der Alm herumsitzen, und zahme Ziegen ihnen die Haare vom Kopf fressen, das alles ist herzzerreißend und herzallerliebst. Mir den Atem verschlagen die Landschaftsaufnahmen, bei denen die Berge, die Wälder, die Jahreszeiten beinahe zu eigenständigen Protagonisten des Dramas werden, jedoch ohne dass Feyder die Schönheiten des Wallis irgendwie plakativ und selbstzweckhaft ausstellen würde. Nicht mal das Finale wirkt, obwohl Potential dafür durchaus vorhanden gewesen wäre, allzu dickaufgetragen, trotz oder gerade weil alles letztlich ausgeht wie im Märchen. Wenn es dann noch einen point-of-view-Schuss aus einer rollenden Lawine heraus gibt, als würden wir mit deren Augen die Landschaft betrachten, die sie unter sich verschüttet, und wenn die Kinderdarsteller sich vor der Kamera benehmen wie echte Kinder, völlig unaffektiert und mit beiden Füßen auf dem Boden ihre psychologisch absolut glaubwürdigen Charaktere mit Leben füllen, und wenn der Film zeitweise regelrecht schwelgt in den Bildern von malerischen Bergfriedhöfen, Ziegenherden, Kätzchen, die nach Baumwollknäueln die Tatzen ausstrecken, Leichenprozessionen oder Berglern, die in tiefster Nacht – und diese Szene wurde tatsächlich in tiefster Nacht gedreht! – mit ihren Fackeln ausschwärmen, um die vermisste Jeanne zu suchen, dann gibt es für mich kein einziges Suppenhaar, das mir den Genuss dieses wunderschönen, zutiefst menschlichen, unaufgeregten und gerade dadurch so aufregenden Meisterwerks auch nur ein bisschen verleiden würde.

Wenn ich nur einen einzigen französischen Film der 20er vor der sicheren Vernichtung retten könnte, würde dieser hier mit Sicherheit in die allerengste Auswahl gelangen.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Zīr-e Derakhtān-e Zeytūn

Produktionsland: Iran 1994

Regie: Abbas Kiarostami

Darsteller: Hossein Rezai, Farhad Kheradmand, Mohamad Ali Keshavarz, Tahereh Ladanian, Zarifeh Shiva
Vor einer großen Gruppe bis auf ihre Gesichter in weite, schwarze Stoffe gehüllter jungen Frauen begrüßt uns ein älter, bärtiger Mann. Er sei der Schauspieler, der im nun folgenden Film den Regisseur spiele. Alle andere Darsteller seien direkt vor Ort gecastet worden, beziehungsweise sei man, d.h. er als der Schauspieler, der einen fiktiven Regisseur spiele, gerade dabei, weitere Darsteller direkt vor Ort zu casten, in diesem Fall: Eine Gruppe bis auf ihre Gesichter in weite, schwarze Stoffe gehüllter Mädchen vor ihrem Schulgebäude, aus der die weibliche Hauptrolle des Films ZIRE DARAKHATAN ZEYTON hervorgehen soll. Die Assistentin des Regisseurs, Frau Shiva, eilt herab. Die Schülerinnen seien hungrig. Ob man sich nicht beeilen könne. Man beginnt die Reihen durchzugehen. Der Regisseur fragt einige der Mädchen nach ihren Namen, nach ihrem Geburtsort. Die meisten kichern schüchtern, senken die Blicke, insgeheim hoffend, dass die Wahl auf sie fällt. Eine ist besonders vorlaut, und fragt den Regisseur, wieso er sie denn bereits filme, wo doch die Aufnahmen von ihnen bestimmt nicht im fertigen Film auftauchen würden. Er erwidert: Wieso ist das kein Grund, etwas zu filmen, nur wenn man es später nicht zeigen und niemand es zu sehen bekommen wird?

Aber ich greife voraus, denn im Grunde beginnt alles mit einem Hausaufgabenbuch. Ein dummes Missgeschick nämlich setzt den achtjährigen Achmed dem Zorn seines Klassenlehrers aus: Da er seine Hausaufgaben nicht, wie es der gestrenge Mann verlangt, in sein Büchlein eingetragen hat, sondern sie auf einem losen Blatt präsentiert, bekommt er eine Standpauke hoch zehn, die selbst dann nicht abreißt, als er klarzustellen versucht, dass ein Klassenkamerad versehentlich besagtes Buch eingesteckt hatte, und er es tags zuvor deshalb gar nicht hat benutzen können. Noch am gleichen Tag wiederholt sich die Geschichte: Zu Hause angelangt muss Ahmed feststellen, dass er zwei Hausaufgabenbücher in der Tasche hat, das seine und das eines gewissen Mohamed Reda Nematzadeh, dem der Lehrer ebenfalls am gleichen Morgen wegen seines andauernden Zuspätkommens die Leviten gelesen und ihm gedroht hat, ihn von der Schule werfen zu lassen, wenn sein Verhalten sich nicht bald bessere. Ahmed, der nicht nur weiß, wie es sich anfühlt, vor der versammelten Klasse verbal gedemütigt zu werden, sondern ahnt, dass der Lehrer seine Drohung in die Tat umsetzen wird, wenn Mohamed morgen kein Hausaufgabenbuch vorweisen kann, versucht seine Familie von der Dringlichkeit zu überzeugen, dem Klassenkamerad sein Buch so schnell wie möglich zurückzugeben. Deren Ohren aber sind taub für Ahmeds Insistieren, und ein weiteres Problem besteht darin, dass er nicht genau weiß, wo Mohamed Reda überhaupt wohnt, nur dass er aus einem benachbarten Dorf stammt, daran kann er sich erinnern. Alles Grübeln nutzt aber nichts, und Ahmed entscheidet sich zu handeln. Auf eigene Faust begibt er sich auf eine Odyssee quer durch die ländliche iranische Gesellschaft Ende der 1980er Jahre…

Das ist der Plot des Films KHANE-YE DOUST KODJAST?, der den iranischen Regisseur Abbas Kiarostami im Jahre 1987 international bekanntmacht – ein aus alltäglichen Szenen wie Marktplatzdiskussionen, häuslichen Verrichtungen und Streifzüge durch labyrinthische Dorfgassen zusammengesetztes Werk, das all diese im besten Wortsinn banalen Partikel dadurch transzendiert, dass es sie uns aus den Augen eines achtjährigen Kindes zeigt. In der Fachliteratur wird immer wieder – zu Recht, wie ich finde – auf die Einflüsse hingewiesen, die die drei Regisseure Roberto Rossellini, Robert Bresson und Yasujiro Ozu auf Kiarostamis Schaffen gehabt haben, und in KHANE-YE DOUST KODJAST? treffen diese unterschiedlichen Bezugsquellen in schöner Harmonie aufeinander. An Bresson kann man denken wegen des unglaublich langsamen Tempos, das Kiarostami einschlägt, um Ahmeds Abenteuer weniger zu erzählen als einfach nur zu illustrieren, sowie wegen des konsequenten Einsatzes von Laien, die ebenfalls weniger im Dienst einer Narration handeln, sondern sich größtenteils selbst verkörpern, mit all den Belanglosigkeiten, die normale Menschen in der physischen Realität jenseits der Leinwand nun einmal ausmacht. Mit Rossellini teilt Kiarostami einen dokumentarischen Ansatz, der bei ihm allerdings wesentlich stärker ausgeprägt ist als in den vergleichbaren noch sehr storyorientierten neorealistischen Meisterstücken wie SCIUSCIÀ (1946) oder GERMANIA ANNO ZERO (1948): Es fällt schwer, eine Linie zwischen den Aspekten von KHANE-YE DOUST KODJAST? zu ziehen, die Inszenierung sind, und denen, bei denen es wirklich um zufällig eingefangene Momentaufnahmen von Menschen, Tieren, Landschaften handelt. Den Stellenwert, den der Alltag in Kiarostamis idosynkratischer Filmsprache deshalb hat, teilt er mit den Filmen Ozus. Es kommt schon einmal vor, dass wir minutenlang einem alten Mann lediglich bei seinem Abendritual zuschauen: Er schließt seine Wohnung auf, zieht sich die Schuhe aus, öffnet die Fenster. Was in jedem Mainstream-Film ausgespart werden würde, da es dem Plot nichts zuträgt und schon gar nicht prädestiniert dafür ist, die Zuschaueraufmerksamkeit in irgendeiner Weise zu fesseln, wird unter der exzellenten Regie Kiarostamis zum Anlass, den eigenen Blick zu schärfen. Kiarostamis Kino ist in dieser Hinsicht vor allem eine Schule des Sehens, ein Lehrstück, wie schön es sein kann, den Blick einer Herde Ziegen hinterherschweifen zu lassen, deren Hufe über die Stufen einer Steintreppe klappern, Frauenhände zu fokussieren, die schmutzige Stoffstücke in einen Zuber voller Wasser tunken, oder zu betrachten wie die Abendsonne allmählich untergeht und sich die Schatten zwischen den engmaschigen Gassen eines kleinen Ortes ausbreiten, in dem irgendwo ein kleiner Junge wohnen muss, der sein Hausaufgabenheft vermisst.

KHANE-YE DOUST KODJAST? besitzt aber einen genauso großen didaktischen Ansatz. Das hat vor allem damit zu tun, dass der Film von Kanun-e Parvaresh produziert wurde, einer Jugendorganisation, die ab Mitte der 60er durch ihre Gründung nicht nur dafür sorgt, dass Iran sich zu einer vorbildlichen Filmkultur mit eigenen Clubs, Festivals, Archiven und einer hohen Dichte an Regisseuren und Schauspielern entwickelt. Kanun-e Parvaresh richtet den Fokus seiner Filme vor allem auf Kinder und Heranwachsende, die kinematographisch weniger unterhalten denn zu ihrer Bildung beitragen sollen. Während im Westen die wenigsten Schüler zu diesem Zeitpunkt überhaupt eine Kamera aus der Nähe gesehen haben dürften, organisiert Kanun-e Pavaresh eigene Workshops, in denen Kinder ihrer Kreativität freien Lauf lassen sollen und dürfen, um erdachte Geschichten in lebendige Bilder umzusetzen. Abbas Kiarostami, Jahrgang 1940, gehört von Anfang an zu jenen Regisseuren, die sich Perspektive, Themen, Lebensrealität der jungen Generation annehmen. KHANE-YE DOUST KODJAST? handelt deshalb genauso sehr vom Zauber der Kindheit wie von einer Gesellschaft, die viel daran setzt, diesem Zauber die Flügel zu stutzen. Ein bisschen wie Bressons MOUCHETTE findet Ahmed bei seiner Familie kein Gehör, sieht sich pausenlos einer Disziplinierungsroutine unterzogen, die vom Elternhaus über die Schule bis hin zu alten Männern reicht, die ihn aus fadenscheinigen pädagogischen Gründen Zigarettenholen schicken, obwohl sie noch genügend Glimmstängel bei sich haben: Das sei notwendig, erklärt einer dieser Männer einem andern, damit die Jungen nicht wild ins Kraut schießen. Alle paar Tage bräuchte so ein Bub eine Tracht Prügel, und wenn er nichts ausgefressen hat, gibt man sie ihm eben grundlos. Ahmeds aufopferungsvoller Versuch, den Schulfreund vor genau solchem Ärger zu bewahren, zeigt das Auflodern von echter Menschlichkeit und Nächstenliebe in einer patriarchalisch strukturierten Gemeinschaft, die dem Individuum kaum genügend Luft zum Atmen lässt.

Kiarostamis Film ist jedoch keiner, der mich mit erhobenem Zeigefinger belehren möchte. Er erweckt vielmehr den Eindruck eines Märchens. Wenn Ahmed während seiner Suche nach Mohammed Reda zum Beispiel einem Greis begegnet, der derart unter Grasbüscheln, die er auf dem Rücken trägt, begraben ist, dass es aussieht, als würde Ahmed sich mit einem sprechenden Busch unterhalten, oder wenn ihm eine Frau versehentlich ein Bettlaken vor die Füße wirft, das ihr auf dem Balkon aus den Fingern geglitten ist, oder wenn er, bevor er eine Gasse betreten kann, erstmal warten muss bis eine seelenruhig heranstapfende Kuh ihm Platz gemacht hat, dann können all diese Zufallstreffen, diese kleinen Momente sozialer Interaktion, diese flüchtigen Schlüssellochblicke in fremde Leben, als Stationen einer inneren Reise Ahmeds gelesen werden, die gerade, weil sie so schlicht sind, ihr Aufladen mit symbolischer Bedeutung regelrecht fordern. Warum aber diese lange Einleitung zu einem Film, der heute gar nicht besprochen werden soll? Waren wir nicht mit eigentlich mit einem fiktiven Regisseur inmitten einer Gruppe iranischer Schulmädchen, und gemeinsam mit ihm auf der Suche nach der Hauptdarstellerin für seinen nächsten Film?

Die Auserwählte heißt Tahareh. In dem Film, um den es geht, soll sie eine junge Braut spielen. Problem ist nur: Der junge Mann, der ihren Bräutigam darstellt, hat im echten Leben ebenfalls um ihre Hand angehalten – allerdings mit wenig Erfolg. Taharehs Eltern haben Hossein, wie der Verliebte heißt, unmissverständlich klargemacht, dass ein armer Schlucker wie er nie und nimmer in ihre Familie einheiraten wird. In den Dreharbeiten sieht Hossein aber nun die unverhoffte Chance, zumindest Tahareh von seinen Qualitäten als Ehemann zu überzeugen, ihr permanent den Hof zu machen, sie, immer dann, wenn die Kamera nicht läuft, unerbittlich mit Argumenten, Liebesbeteuerungen, flehentlichen Bitten zu bestürmen, sie solle doch wenigstens einmal mit ihm sprechen. Das tut sie nämlich nicht – und weil Dialoge zwischen den Darstellern unumgänglich sind, sieht der Regisseur sich gezwungen, dem Liebesglück der Beiden ein bisschen auf die Sprünge zu helfen, nicht zuletzt, um den eigenen Film zu retten.

Dieser Film-im-Film hört übrigens auf den Titel ZENDEGI VA DIGAR HICH, und Kiarostami hat ihn wirklich gedreht, nämlich 1992, und zwar in der Region von Koker, wo bereits KHANE-YE DOUST KODJAST? gespielt hat – eine Region, die 1990 von einem schweren Erdbeben heimgesucht worden ist. Kiarostami schildert in ZENDEGI VA DIGAR HICH seine eigene Suche nach den beiden Kinderdarstellern aus dem Vorgängerfilm, von denen er nicht weiß, ob sie die Katastrophe überlebt haben oder ob sie, wie so viele anderen, dabei ums Leben gekommen sind. ZENDEGI VA DIGAR HICH – dieses metafilmische Road-Movie, das viel von Wim Wenders‘ ALICE IN DEN STÄDTEN hat, jedoch ohne dessen existenzialistischen Unterton, sondern viel schmuckloser, viel offener für die Lücken an Licht selbst im tiefsten Schacht – lässt uns seinem alter ego quer durch die in Mitleidenschaft gezogene Gegend folgen, und erneut fallen Dokumentation und Fiktion ineinander, wenn Kiarostami uns zusammengestürzte Häuser zeigt, uns tatsächliche Überlebende Zeugnis von ihren Traumata ablegen lässt, dann aber auch gecastete Schauspieler wie Hossein und Tahareh in die Rolle eines Liebespaars steckt, das sie in der Wirklichkeit gerne werden, es jedoch vorerst nur in der Fiktion sind. Am Ende hat Kiarostamis Regisseur die beiden Jungen zwar nicht gefunden, nicht einmal irgendeine Information über ihr Schicksal gewonnen, trotzdem war die Reise ans Epizentrum menschlicher Tragödien und ihres Überwindens – hat man als extradiegetischer Betrachter den Eindruck – nicht umsonst.

Schon allein deshalb, weil Kiarostami ZIRE DARAKHATAN ZEYTON um eine einzelne Szene aus ZENDEGI VA DIGAR HICH herumgruppiert, die wegen der amourösen Banden oder Nicht-Banden zwischen Hossein und Tahareh einfach nicht gelingen will. Sie schweigt ihn an. Er ertränkt sie in einem Schwall aus Worten. Neben dieser Geschichte aus dem Off, die an den blinden Flecken der Produktion stattfinden, den die meisten Filme naturgemäß aussparen (müssen), da ihr Hauptaugenmerk auf den Geschichten vor der Kamera liegt, begegnen wir in ZIRE DARAKHATAN ZEYTON, diesem wunderhübsche Bilder suchenden und findenden Meta-Diskurs über die Wahrheit der Inszenierung und die Lügen der Fiktion, über den alltäglichen Probleme des Filmemachens, wenn man ausschließlich mit Laien arbeitet, vor allem aber durch die Menschen, Tiere, Landschaften der Region Koker, von der Kiarostami regelrecht verführt gewesen zu sein scheint, einigen alten Bekannten: Der Lehrer aus KHANE-YE DOUST KODJAST? fährt ein Stück bei Frau Shiva im Auto mit. Er habe nichts für Kunst übrig, für Filme schon gar nicht, doch wäre es nett, da er gerade knapp bei Kasse ist, wenn sie ihm doch noch eine kleine Rolle verschaffen könne. Die Buben aus KHANE-YE DOUST KODJAST? – Ahmed und Mohammed Reda – sind als Zaungäste bei den Dreharbeiten dabei. Der Regisseur aus ZENDEGI VA DIGAR HICH führt mit dem Regisseur aus ZIRE DARAKHATAN ZEYTON philosophische Gespräche vor majestätischen Bergen. Die Art und Weise wie sich hier Pfade von Menschen, aber vor allem auch von Filmen kreuzen, wie sie sich durchdringen, und wie Kiarostami das alles in vollkommen freien Bildkompositionen und Erzählstrukturen übersetzt, die nicht von definierten Formen, sondern von einem vorsichtig tastenden, überhaupt nicht aggressiven Suchen handeln, fügt dem dritten Teil der Koker-Trilogie noch eine Komponente hinzu, die an Jean-Luc Godard denken lässt: In KHANE-YE DOUST KODJAST? haben wir die Suche eines Kindes zu Fuß erlebt. In ZENDEGI VA DIGAR HICH haben wir auf der Suche nach Kindern die meiste Zeit in einem Auto gesessen. ZIRE DARAKHATAN ZEYTON nun ist als dritte Zwiebelhaut die Suche eines Regisseurs, der niemand anderes als Kiarostami selber ist, nach einem Film, und das Vehikel ist die intradiegetische oder extradiegetische Kamera, die Fiktion und Wirklichkeit und ihr ständiges Ineinanderpurzeln quer durch den Olivenhain begleitet.

Man kann Filme wie ZIRE DARAKHATAN ZEYTON, denen es nicht um ein Spektakel geht, die nicht mal daran interessiert sind, bestimmte Inhalte zu transportieren, sondern die aus einem tiefen Humanismus heraus, das Kino primär dazu nutzen, uns vollkommen normale Menschen – wettergegerbte Bauern, analphabetische Schafshirten, junge Mädchen, die in ihrem Leben noch mit keinem männlichen Wesen ein Wort wechseln durften, kleine Kinder, die es faszinierend finden, an einem Filmset herumzustreifen - in ihrer Lebendigkeit kennenlernen zu lassen, die lange tot sind oder am andern Ende der Welt leben. Die utopische Hoffnung hat sich natürlich nicht bewahrheitet, die Béla Balázs in seinem filmästhetischen Klassiker DER SICHTBARE MENSCH von 1923 andeutet, wenn er davon spricht, der Film sei, mehr als jede andere, eine soziale Kunst, weil sie den Menschen in seiner Körperlichkeit in den Mittelpunkt stelle, und daher gerade dadurch, dass er dem Menschen über sein eiges Abbild zurückzuerstatte, was er im Zivilisationsprozess verloren habe, nämlich den physischen Ausdruck als Beweis seines eigenen Bestehens, seiner eigenen Verletzlichkeit, seiner eigenen Sterblichkeit, dazu führen könne, die moderne Gesellschaft zu einem humaneren Ort zu machen. Trotzdem, irgendwas sagt mir, dass Abbas Kiarostami mit seiner „Koker-Trilogie“ in ihrer ganzen Bescheidenheit und Besonnenheit, ihrem poetischen Überschwang, ihrem liebevollen Mustern ineinander verwobener Strukturen von Personen, von Schauplätzen, letztlich von Filmen, die Welt, oder wenigstens: meine Welt, erheblich aufgewärmt hat.
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