Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Salvatore Baccaro
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Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Dracula

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Produktionsland: USA 1931

Regie: Tod Browning

Darsteller: Bela Lugosi, Helen Chandler, David Manners, Dwight Frye, Edward Van Sloan, Herbert Bunston,
Frances Dade, Joan Standing, Charles K. Gerrard, Anna Bakacs, Nicholas Bela, Daisy Belmore...
Über manchen Film wurde bereits so viel geschrieben, dass man sich fragt, wozu man da nun noch unbedingt seinen eigenen Senf hinzugeben muss? Am schwierigsten werden die ersten Sätze sein, von denen man nicht will, dass sie etwas wiederholen, was schon irgendwer vor einem gesagt hat, obwohl sie genau das natürlich tun werden. Vielleicht sollte man einfach beginnen, irgendwo, bei irgendeinem Gedanken, der einem wichtig genug ist, dass man ihn mitteilen möchte, wem auch immer, und von dem aus entwickelt man dann die andern, wie Perlen an einer Schnur, und wenn sie irgendwann reißen sollte, kann man immer noch aufhören.

Erster Teil:
Obwohl Universals DRACULA vorgibt, auf im Wesentlichen zwei Vorlagen zu beruhen – nämlich zum einen auf Bram Stokers Roman von 1898 und zum anderen auf der seinerzeit recht erfolgreichen Bühnenfassung von Hamilton Deane, die ab 1924 in England zu sehen war und 1927 in die USA überschiffte, wo sie grundlegend von John L. Balderton bearbeitet worden ist -, fällt jemandem wie mir, der NOSFERATU zu seinen liebsten Filmen überhaupt zählt, natürlich sofort auf, dass Murnaus Grundsteinlegung des Vampirfilmgenres gerade in den ersten zwanzig Minuten von DRACULA viel stärker Pate gestanden hat als die beiden im Vorspann genannten Quellen vermuten lassen. Obwohl die Produzenten von NOSFERATU seinerzeit, was eine der wohl am häufigsten kolportierten Geschichten der Vampirfilmgeschichte ist, darauf verzichteten, sich die Rechte an DRACULA von Stokers Witwe Florence zu verschaffen, und obwohl sie im daraufhin stattfindenden Prozess haushoch verloren, und eigentlich sämtliche Kopien des Films hätten vernichtet werden sollen, hat der es scheinbar doch irgendwie in die Archive der Universal Studios geschafft, denn anders zu erklären sind die teilweise frappierenden Übereinstimmungen zwischen NOSFERATU und DRACULA im Transsilvanien-Teil wohl kaum.

Da ich mich zurzeit intensiv mit Lese- und Schreibszenen im frühen Kino beschäftige, sticht mir gleich die zweite Szene von DRACULA wie eine Nadel ins Auge. Nachdem wir gesehen haben wie eine Kutsche durch eine matte-painting-Karpatenlandschaft fährt, befinden wir uns schon in ihrem Innern, wo eine Dame, bei der es sich um niemand Geringeres handelt als die Nichte des Produzenten Carl Laemmle, die sinnigerweise Carla heißt, den Mitreisenden – zwei weiteren, sich gegenübersitzenden stummen Frauen, einem Herrn mit eindrucksvollem Schnauzer und starrem Blick sowie unserem Helden für den ersten Akt, der vornamenlose Häusermakler Renfield – aus einem Reiseführer vorliest: „Among the rugged peaks that frown down upon the Borgo Pass are found crumbling castles of a bygone age.“ Als die Kutsche, wie scheinbar schon mehrmals zuvor, aufgrund der hohen Fahrtgeschwindigkeit und der wenig ausgebauten Straße in eine Schräglage gerät, purzeln die Reisenden für einen Moment durcheinander, und die Gesprächsführung übernimmt der Einheimische mit dem exponierten Oberlippenbart. Er erklärt, die Kutsche müsse so schnell fahren und es sei lebenswichtig, das angepeilte Gasthaus noch vor Sonnenuntergang zu erreichen, denn: „It is Walpurgis Night, the night of evil“, und dann spricht er das Wort aus, das Murnaus Film in der westlichen Welt so populär gemacht hat, obwohl es der rumänische Sprachschatz selbst nicht mal kennt - da es sich vermutlich um eine aus einem Verhörer bzw. mangelnden Sprachkenntnissen resultierenden Wortneuschöpfung der schottischen Reiseschriftstellerin Emily Gerard aus dem späten neunzehnten Jahrhundert handelt: - „Nosferatu.“ An dieser Szene ist einiges interessant: Natürlich, zunächst, kann man sie als ziemlich stichhaltiges Indiz dafür sehen, dass die Verantwortlichen von DRACULA den knapp zehn Jahre zuvor entstanden Murnau-Film gekannt haben müssen, denn der Ausdruck Nosferatu ist, wie gesagt, nun wirklich ein so spezieller, dass er, außerhalb von Frau Gerards Reiseschriften und Murnaus Film, bis dahin kaum irgendwo auftaucht.

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Abb.1 & 2: Eine Kutschfahrt durch gebirge Schluchten, fast wie in einem Western. Es sind feine Details, die schon hier auf den metaphysischen Kontext vorliegenden Films verweisen, am prominentesten wohl das Kreuz im zweiten Bild, das wie Warnung und Segen zugleich über der Szenerie thront.

Ebenfalls interessant: NOSFERATU ist, meine ich, ein Film, der, wie kaum ein zweiter, regelrecht davon lebt, dass seine Handlung permanent von schriftlichen Dokumenten begleitet, kommentiert, authentifiziert wird. Sicher, das war schon in Stokers Roman nicht anders, der sich ja ebenfalls aus Tonbandaufnahmen, Tagebuchaufzeichnungen, Briefen etc. zusammensetzt. Murnau und Drehbuchautor Albin Grau haben dieses Konzept jedoch in seinem Kern relativ unverändert vom literarischen Feld ins kinematographische übersetzt, und dort dann sogar noch erweitert, modifiziert, den Anforderungen des neuen Mediums angepasst. Daher beginnt NOSFERATU nicht nur mit einer (fiktiven) Chronik über den Ausbruch der Pest in Wismar aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert, und etabliert damit einen Erzähler, den wir den gesamten Film über nicht zu Gesicht bekommen, der sich aber immer wieder, wenn auch nur quasi aus dem Off, ins Geschehen einmischt, sondern präsentiert von Anfang bis Ende außerdem eine wahre Dokumentensammlung aus Briefen Hutters an seine zu Hause gebliebene Frau Ellen in Sütterlin, Logbüchern des Schiffes Empusa, mit dem Graf Orlok nach Norddeutschland reist, Auszüge aus einem Lehrbuch über Vampire, das Hutter im karpatischen Gasthof, statt der obligatorischen Bibel, auf dem Nachttisch findet usw., sodass nahezu jeder Zwischentitel in Gestalt irgendeines Schriftstücks auftritt, das so oder so ähnlich tatsächlich verfasst hätte worden sein können. Als ob Tod Brownings DRACULA sich ironisch von dieser Methode distanzieren wolle – immerhin befinden wir uns inzwischen in der Ära des Tonfilms, in der der Zuschauer vorrangig hören, und nicht mehr lesen muss, um der Handlung folgen zu können -, spielt er in der oben skizzierten Kutschenszene nun gerade das geschriebene gegen das gesprochene Wort aus. Im Reiseführer, aus dem die Dame rezitiert, stehen, soweit man das bei dem einen Satz feststellen kann, mutmaßlich nur malerische Floskeln, die einen nicht über die wahren Gefahren der Gegend um den Borgo-Pass herum aufklären. Das übernimmt deshalb ein mitreisender Einheimischer, der ganz genau davon unterrichtet ist, was da oben, im Schloss des Grafen Dracula, nach Einbruch der Nacht vor sich geht. Renfield ist zwar genauso ungläubig wie Hutter, sein Pendant in NOSFERATU, dennoch ist es, meine ich, auffällig, dass Hutter gleich zwei Warnungen in den Wind schlägt – die des Textes und die der verbali-sierten Sprache -, während Renfiel nur bei einem von beiden ungläubig lachen muss: bei den mündlichen Berichten der rumänischen Dörfler, die er sofort als abergläubisches Gewäsch abtun kann.

Dies mag nun bloß ein zufälliges Detail sein, doch spätestens wenn Bela Lugosi sein ahnungsloses Opfer auf dem Gipfel des Passes erwartet, wo die Einheimischen ihn regelrecht aus ihrer Kutsche werfen, weil sie sich weiterzufahren sträuben, werden die Ähnlichkeiten zu NOSFERATU auch auf der rein bildlichen Ebene evident. Zunächst die Unterschiede: Bei NOSFERATU steht Hutter schon eine Weile wie bestellt und nicht abgeholt in der Karpatenwildnis, als Orloks Kutsche endlich heranrollt – was Murnau Gelegenheit für einen Spezialeffekt gibt, der für heutige Augen zwar leicht zu durchschauen ist – er hat die Fahrt der unheimlichen Kutsche einfach in vielen Einzelbildern aufgenommen, wodurch der Eindruck von Zeitraffung entsteht, und zusätzlich, zumindest in einer Szene, Negativbilder verwendet, sodass das, was eigentlich schwarz ist, z.B. die Bäume des Waldes, auf einmal in gespenstischem Weiß schillert -, für mich aber immer noch ziemlich eindrucksvoll wirkt. Bei DRACULA steht die Kutsche bereits an der vereinbarten Stelle und Renfield braucht bloß noch einzusteigen. Was indes gleich ist: Der Kutscher auf dem Bock ist niemand anderes als Orlok bzw. Dracula höchstpersönlich. Er stiert Hutter bzw. Renfield an, deutet dann, wahlweise mit Peitsche oder dem bloßen Arm, wortlos zur Tür des Gefährts, lässt den Gast einsteigen und saust danach in einer Geschwindigkeit, die noch die der Kutsche vom Anfang übersteigen dürfte, mitten hinein ins Reich der Gespenster. Dass ich Murnaus Version dieses Teufelsritts der Brownings jederzeit vorziehen würde, hat jedoch nicht nur mit den vorzüglichen visuellen Effekten zu tun, die auf mich schon eine beinahe surreale Faszination ausüben. Es sind noch zwei andere Umstände, die DRACULA für mein Befinden sowohl ein bisschen unlogischer als auch ein bisschen putziger, sprich: weniger gruslig, ausfallen lassen: 1. Während Max Schreck als Kutscher sein Gesicht weitgehend verhüllt hält, wie eine Fledermaus eingewickelt ist in seinen Mantel, und einen wundervollen Hut trägt, dessen Feder hoch ist, als wolle sie sich in den Nachthimmel bohren, hat Lugosi es für überhaupt nicht notwendig empfunden, sich irgendwie zu maskieren, d.h. Renfield guckt ihm direkt ins Gesicht – und erkennt ihn nur ein paar Szenen später, wenn er ihm in seinem Schloss gegenübersteht, trotzdem nicht wieder. 2. Während der rasanten Fahrt über Stock und Stein stecken sowohl Hutter als auch Renfield ihre Köpfe aus dem Kutschfenster. Renfield indes sieht etwas, das Hutter nicht beschert ist: Eine süße Gummifledermaus, in die Dracula sich inzwischen verwandelt hat, schwebt über den Pferdenacken und spornt sie mit schrillem Piepsen zu noch mehr Tempo an. DRACULA versprüht in dieser Szene Geisterbahnstimmung, während ich mir bei NOSFERATU vorkomme, als würde ich ein paar Jahrhunderte zuvor in einem komplett abgedunkelten Saal bei einer laterna-magica-Aufführung sitzen.

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Abb.3 & 4: Portrait des Vampirs als alter Kutscher. Während Max Schreck sorgsam darauf bedacht ist, seine Beißerchen zu verhüllen, sieht Bela Lugosi darin wohl vor allem deshalb keinen Grund, weil ihm sein Drehbuch keine zugestanden hat.

Angekommen im Schloss gibt es eine zweite Szene, die ausschaut, als habe Browning sie mehr oder minder direkt von NOSFERATU kopiert. Renfield schneidet sich in den Finger, und der Graf, sofort lüstern, als er das Blut sieht, pirscht sich an ihn heran, wird aber in letzter Sekunde von einem Kreuz, das der Makler um den Hals trägt und das just in dieser Sekunde unter seinem Kragen hervorrutscht, davon abgehalten, über ihn herzufallen. Anders in NOSFERATU, wo Orlok kein Kruzifix den Weg versperrt – und überhaupt christliche Symbole keine Rolle darin spielen, den Vampir irgendwie auf Abstand zu halten -, und er tatsächlich Hutters blutenden Finger in den Mund bekommt. Möglicherweise wäre eine solche, wenn man denn unbedingt möchte, homosexuell interpretierbare Szene für die US-Zensoren der frühen 30ern schon zu viel des Schlimmen gewesen, bezeichnend ist jedenfalls, dass ausgerechnet ein Kreuz es ist, das den unzüchtigen Kontakt zwischen den beiden Männern vereitelt. Auch zeigt sich NOSFERATU in dieser Szene, einmal mehr, im direkten Vergleich bei Weitem angsteinflößender: Hutter flieht nach dieser Attacke regelrecht vor dem Grafen in sein Schlafgemach, wo erst, wie es in den Zwischentiteln heißt, bei Sonnenaufgang die schlimmen Schatten von ihm weichen. Renfield demgegenüber bekommt von der Blutgeilheit seines Gastgebers nicht das Geringste nimmt: Als der sich vor dem Kruzifix zischend abwendet, denkt der Unbekümmerte, er sei erschreckt von seiner Wunde, und tröstet ihn mit: „Oh, it’s nothing serious. Just a small cut from that paper clip.“

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Abb.5 & 6: Die gleiche Szene, nur, wenn man will, aus anderer (Moral-)Perspektive. Bela Lugosi und Dwight Frye wird jeglicher homoerotische Subtext kreuzwedelnd verweigert, während sich zwischen dem zugleich, von seiner Form her, phallischen, und, andererseits, durch den vaginalen Schnitt gleichsam menstruierenden Daumen Gustav von Wangenheims und den Sauglippen Max Schrecks zumindest für Sekundenbruchteile eine innige Verbindung einstellt.

Eine letzte Gemeinsamkeit – und damit enden sie auch schon bei diesem strikt zweigeteilten Film nach gerade mal etwas mehr als zwanzig Minuten: Wie in NOSFERATU – und natürlich Stokers Roman – ist es ein schöner Schoner, der den Grafen aus seiner alten Heimat in seine neue befördert, und wie in NOSFERATU – und natürlich Stokers Roman – ergeht es der Besatzung des Schiffes, das indes bei Stoker Demeter heißt, bei Murnau Empusa und bei Browning wiederum Vesta, recht schlecht, wird sie doch einer nach dem andern vom hungrigsten, wenn auch blinden, Passagier dezimiert. In NOSFERATU sind das wohl mit die beklemmendsten Szenen: Max Schreck stakst an Bord umher, auf der Suche nach verbliebenen Opfern, und der Kapitän, der sich pflichtbewusst ans Steuerrad gefesselt hat, muss hilflos zusehen wie das Untier ihm entgegenkommt. Browning wiederum muss, wohl erneut aus (Selbst-)Zensurgründen, auf solche Schreckensszenen verzichten: Alles, was wir in DRACULA hiervon zu sehen bekommen, sind Schatten, nämlich die der Männer, die das Geisterschiff nach seiner Landung in England inspizieren, und natürlich den des armen Kapitäns, der blutleer an seinem Steuerrad hängt. Es muss wohl nicht extra erwähnt werden, dass DRACULA nun schon zum dritten Mal eine Szene aus NOSFERATU, die im Original nur so birst vor Grauen, heruntergedimmt und in Wacke gepackt hat, um sie einem Publikum zumuten zu können, das nicht die halbe Nacht mit pochendem Herz wachliegen soll.

Zweiter Teil:
Eigentlich ist Tod Browning ein Regisseur, dessen Filme, auf formaler Ebene, recht statisch daherkommen. In DRACULA jedoch findet sich die eine oder andere Kamerafahrt, die man so nicht von seinen vorherigen Werken gewohnt ist. Sich einig scheint die Filmwissenschaft sich darüber zu sein, dass all die Szenen, in denen die Kamera aus ihrer Rolle der weitgehend regungslosen Voyeurin ausbricht, auf Konto von Kameramann Karl Freund gehen. Der hat ihr im Kino der Weimarer Republik zu einer Beweglichkeit verholfen, von der sie zuvor nicht mal zu träumen gewagt hat. Ob nun in Murnaus DER LETZTE MANN (1924) oder in Ewald André Duponts VARIETÉ (1925): Freunds sogenannte entfesselte Kamera scheint keine Grenzen zu kennen, pendelt von einem Zirkustrapez zur erregten Zuschauermenge und wieder zurück oder fährt, wohl eine der ersten Plansequenzen der Filmgeschichte, mit dem Aufzug von oben nach unten durch ein Hotel und dann quer durch die Lobby bis zur Eingangstür. In Hollywood sind Freunds Fähigkeiten dann mehr oder minder die Hände gebunden, und wirken auch in DRACULA wie mit letzter Not in den Film geworfene lebhafte Tupfer, die ihm ein bisschen seine Steifheit nehmen wollen, und es doch nicht so recht hinkriegen. Berühmt ist die Kamerafahrt beim allerersten Auftritt des Grafen und seiner Bräute. Noch während Renfield sich auf der Reise befindet – gerade eben hat er sich von den furchtsamen Gasthofbewohnern die Ohren vollheulen lassen müssen -, schneidet der Film ins Schloss des Saugers und dort in die Gruft, wo sich der Hausherr allmählich aus dem Tagesschlaf erhebt. Die Kamera wird von seinem Sarg beinahe schon hypnotisch angezogen – ähnlich wie seine späteren (weiblichen) Opfer – bis sie endlich auf einer Hand landet, die sich unter dem Deckel hervorzuschieben und umherzutasten beginnt. Ähnliche Effekte wiederholen sich im Laufe des Films: da ist eine Fahrt, in der Eingangshalle des Schlosses, auf Draculas ans Hypnotisieren gewöhnte Augen, die Renfield anstarren wie nichts Gutes, und, viel später, auf das Gesicht Minas, als sie auf dem Balkon ihres Elternhauses ihren Verlobten Harker zu beißen beabsichtigt. Letztere Kamerafahrt zeigt dann auch, dass noch so innovative Einsprengsel nichts an solchen grundlegenden Problematiken wie einem spießigen Drehbuch und unqualifizerten Darstellern zu ändern vermögen. Helen Chandler, die Mina Seward ihren Körper leiht, hätte mit ihrem putzigen Püppchenantlitz wohl nicht mal dann etwas Bedrohliches, wenn man es gewagt hätte, ihren Mund mit dem einen oder anderen Vampirbeißerchen zu bestücken.

Die mit Abstand aufwändigste Kamerafahrt in DRACULA – sogar unter Verwendung eines Krans! – tut bezeichnenderweise übrigens überhaupt nichts zur eigentlichen Handlung bei. Sie findet quasi als Einführung in Dr. Sewards Sanatorium statt. Unter dem Namenszug der Klinik hindurchgleitend, finden wir uns in einem kleinen Park wieder, wo Krankenschwestern mit ihren Patienten die Sonne genießen, sie in ihren Rollstühlen ausführen, oder mit ihnen auf Bänken sitzen, wo sich die Patienten, wie es sich für ein Sanatorium gehört, wie Irre aufführen, und enden, nach einer ausschweifenden Fahrt die begrünte Fassade hinauf, an der mit Gitterstäben versehenen Zelle Renfields, der gerade von seinem Wärter die Insektenjagd verwehrt bekommt. Wie gesagt: diese vergleichsweise lange, vergleichsweise ausschweifende Kamerafahrt hilft der zu diesem Zeitpunkt schon kurz vor der Stagnation stehenden Geschichte narrativ kein bisschen auf die Sprünge, doch ist sie in einem Film, der zu diesem Zeitpunkt schon kurz davor steht zu einem reinen abgefilmten Bühnenstück zu verkommen, eine letzte Oase, an der das Auge sich laben kann.

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Abb.7&8: In diesem Film wimmelt es, da Ratten keinen Zutritt haben, vor Gummifledermäusen mehr als auf jedem Rummel. Dies führt entweder zu schmucken Bildkompositionen, in der die Bräute Draculas als fiepende Flatterer von mittelalterlichen Fensterbögen gerahmt werden, oder aber zu seltsamen Einfällen wie dem, in der Bettszene zwischen Mina und Lucy hinter ihnen an der Wand das Batman-Logo zu antizipieren.

Das ist nämlich wohl das Hauptproblem von DRACULA, nachdem die Handlung von Rumänien nach England gewechselt hat: Von mir aus kann ein Film noch so spießig, noch so verklemmt, noch so hausbacken sein, doch die größte Todsünde ist es, wenn ein Film darauf verzichtet, sich genuin kinematographischer Mittel wie Bildkompositionen, Kameraarbeit, Montage etc. zu bedienen, und einfach nur noch darauf beschränkt, seine Figuren in Räumen wie Theaterkulissen endlos schwatzen und dabei hin und her gehen zu lassen – und zwar exakt auf einer imaginären diagonalen Linie, um ja nicht das Gefühl von Raumtiefe beim Zuschauer zu erzeugen! Genau das geschieht nun aber in DRACULA, der offenbar gar nicht mehr verhehlen möchte, scheint es, dass er auf einem Text beruht, der für die Bretter gedacht ist, die vielleicht nicht die Welt, aber einen unterhaltsamen Abend bedeuten. Bestes Beispiel für das, was ich meine, ist wohl die Szene, die etwa bei Minute 38 beginnt und sich wie ein Kaugummi hinzieht bis Minute 48. Knapp zehn Minuten lang befinden wir uns in ein und demselben Raum, dem, könnte man es nennen, Wohnzimmer der Sewards, das, wie eben eine echte Bühnenkulisse, die Folie für die Auftritte verschiedener Figuren liefert. Bis auf eine kurze Einstellung, die Dracula dabei zeigt wie er Mina aus ihrem Schlafzimmer lockt, beschränkt sich Brownings Regie in diesen zehn Minuten darauf zunächst Harker, Seward und Van Helsing in Sorge um Mina zu zeigen, dann letzteren wie er ihren Hals observiert, dann Dracula wie er unter den Anwesenden erscheint, worauf die ihm verfallene Mina sofort ihre Genesung erklärt, dann wie Van Helsing und Harker mittels eines in einem Zigarettenetui eingelassenen Glases herausfinden, dass der Graf gar kein Spiegelbild besitzt, dann wie Mina ins Bett geschickt wird, dann wie Van Helsing den Grafen mit seinem fehlenden Spiegelbild konfrontiert und der ausrastet, sprich: ihm das Etui aus der Hand haut, dann wie Dracula sich wortreich verabschiedet, dann wie Harker glaubt, einen davoneilenden Wolf im Garten zu sehen, dann wie Van Helsing ihm und Seward beizubringen versucht, dass dieser Wolf niemand anderes als Dracula selbst ist, dazwischen wie Dracula Mina becirct und in den Garten schlafwandeln lässt, dann wie Renfield, der sich scheinbar frei im Privathaus Sewards bewegen kann, verrückt lachend Van Helsings Ausführungen über Draculas Untotenexistenz bestätigt, dann wie ein Hausmädchen erscheint, dass Minas Verschwinden bekanntgibt, worauf Harker, Seward und Van Helsing in den Garten stürmen, dann wie das Hausmädchen, warum auch immer, ohnmächtig zusammenbricht und Renfield auf allen Vieren an sie heranrobbt. Genauso einfallslos wie mein vorheriger Satz ist die gesamte Inszenierung dieser Szene ausgefallen. Es passiert zwar viel, es gehen ständig Figuren auf und ab, immerhin begegnen Van Helsing und Dracula sich zum ersten Mal in der Filmgeschichte, aber was nutzt das alles, wenn sich die filmische Ausgestaltung lediglich darauf beschränkt, die Protagonisten in einer schnöden Stube langweilige Dialoge von langweiligen Bewegungsabläufen unterstreichen zu lassen. Da helfen weder Lugosis theatralisches Gestelze noch die Ungläubigkeit Harkers, der Van Helsing immer noch nicht trauen mag, obwohl er mit eigenen Augen gesehen hat, dass Dracula etwas Substantielles, nämlich eine Reflektion in Glas, fehlt, und schon gar nicht das Overacting Dwight Fryes, der bei seiner Renfield-Darstellung spätestens jetzt keine Zügel mehr kennt. Wenn ich jemandem, der den Film noch nicht gesehen hat, sagen würde – was durchaus den Tatsachen entspricht -, dass sozusagen die gesamte zweite Hälfte DRACULAs aus solchen sterbensuninteressanten Bühnenversatzstücken besteht, bei denen uns das visuell Anregendste – beispielsweise die Metamorphosen des Grafen - verwehrt, dafür aber das visuell Spannungsloseste – eben das endlose Gerede, und nochmal Gerede, und nochmal Gerede - penetrant unter die Nase gerieben wird, könnte ich mir vorstellen, dass dieser hypothetische Jemand dankend darauf verzichtet, diese Lücke Filmgeschichte in nächster Zeit schließen zu wollen.

Wenn es indes nur solche inszenatorischen Schwächen wären, könnte man das Ganze ja noch verbuchen unter: der Tonfilm begann sich gerade durchzusetzen, man wusste nicht recht, wie mit dem gesprochenen Wort umzugehen, weswegen viele Filme dieser Zeit eben derart geschwätzig, dialoglastig, steif wirken. DRACULA jedoch weist, zusätzlich zu meinen obigen Kritikpunkten, auch noch eine prinzipielle Schlampigkeit auf, bei der es mir einerseits schwerfällt, noch ein Auge zuzudrü-cken – vor allem, weil ich nur zwei davon besitze -, und meine Mundwinkel andererseits vor unfreiwilliger Komik oftmals mit dem Zucken gar nicht mehr aufhören können. Die zahlreichen, quer über den Film verteilten Anschlussfehler, d.h. Szenen, denen man sofort ansieht, dass sie nicht aus einem Guss entstanden sind, sondern aus zeitlich weit auseinanderliegenden Einstellung behelfsmäßig zusammenmontiert wurden, und das gar nicht erst zu verschleiern versuchen, sind vielleicht nichts, was man nicht auch in anderen Filmen finden kann, wenn man aufmerksam danach sucht, und Gleiches möchte ich für die ebenso zahlreichen Plot-Höhlungen gelten lassen: DRACULA ist auf Grundlage eines Romans, eines Theaterstücks und, wie ich oben hoffentlich überzeugend dargelegt habe, eines früheren Films entstanden, und dabei bleibt eben mal die eine oder andere Logik auf der Strecke. Außerdem sollte man bedenken, dass der Film einige drastische Kürzungen über sich hat ergehen lassen müssen, was wohl mit ein Grund dafür ist, dass z.B. die Nebenhandlung um Minas Freundin Lucy, das erste Opfer Draculas, die nach ihrem Ableben untot über Friedhöfe schleicht, um geraubte Säuglinge auszusaugen, über eine sinnlose Skizze nicht hinauskommt, und viele Fragen offenblei-ben wie die, weshalb der Graf eigentlich überhaupt nach England übersiedeln möchte, oder wieso Renfield ihm mal als hündischer Sklave folgt, dann wieder Seward und Van Helsing nützliche Tipps zur Vampirbeseitigung gibt, mal agiert wie der personifizierte Wahnsinn, dann wieder einigermaßen klare Momente hat, in denen er selbstvorwurfsvoll mit sich ins Gericht geht. Zu guter Letzt kann man auch den für Ohren, die sich mit klassischer Musik auskennen, mindestens bizarren Soundtrack auf historische Ursachen zurückführen: Wenn in dem Moment, als Dracula die Konzerthalle betritt, gut hörbar eine Passage aus Franz Schuberts Unvollendeter Symphonie erklingt, einen Schnitt später jedoch, keine Minute dürfte zwischen den Szenen vergangen sein, plötzlich das Finale von Richard Wagners Meistersinger-Präludium zu hören ist, dann schauen sich entweder Dr. Seward und seine Freunde ein Potpourri aus den schönsten Stücken der Deutschen Romantik an oder aber die Verantwortlichen haben ihren Score eher nach ästhetischen und nicht nach logischen Gesichtspunkten zusammengesucht. Aber – und dieses Aber bitte in den größtmöglichen Lettern lesen -, das alles kommt in seinem Dilettantismus zum einen ziemlich geballt, zum andern gibt es in DRACULA einige Filmfehler zu bestaunen, die wohl nur darauf zurückführen sein können, dass die Verantwortlichen inkompetent oder am Endergebnis schlicht nicht sonderlich interessiert gewesen sind.

Ja, anekdotenreich sind sie überliefert, die Spannungen am Set: dass Produzent Laemmle Regisseur Browning nicht mochte, und Regisseur Browning Kameramann Freund nicht mochte, und das Budget zusammengestaucht, und die Schauspielerriege recht improvisiert zusammengewürfelt wurde usw. Trotzdem! Ich meine, man komme nur noch einmal mit an Bord der Vesta: Prinzipiell besteht die Szene der Schiffsüberfahrt aus zwei disparaten Materialien. Auf der einen Seite haben wir Dracula und Renfield unter Deck, wo sie eins ihrer im negativen Wortsinne bühnenreifen Gespräche führen. Alles wirkt ruhig, gemessen. Man plauscht ohne große Aufregung. Die Szenen, die jedoch an Bord spielen, zeichnen ein komplett anderes Bild. Ein Sturm tobt draußen, nur mit Mühe hält das Schiff sich über Wasser, die Matrosen haben alle Hände voll zu tun, nicht unterzugehen oder den Mast auf die Köpfe zu bekommen. Kein Wunder, denn sämtliche Außenaufnahmen des den Gezeiten trotzenden Schiffes wurden nicht etwa von Tod Browning inszeniert, sondern sind zum Zeitpunkt der Dreharbeiten zu DRACULA bereits satte fünf Jahre alt. Sie stammen aus dem heute vollkommen vergessenen Universal-Streifen THE STORM BREAKER, Regie: Edward Sloman, von 1925, und sind, was man natürlich mit bloßem Auge erkennen kann und was in zusätzlichem Widerspruch zu der kleinen Unter-Deck-Bühne, auf der Dracula und Renfield plaudern, steht, etwa zwanzig Prozent schneller abgespielt worden als im Original, da die Zahl ihrer Einzelbilder unter den 24 lagen, die mit der Einführung der talkies aus Synchronitätsgründen zwischen Bild- und Tonebene zum Standard werden sollten. Ob das Team von DRACULA das nun beabsichtigt hat oder nicht: diese Seereise mit ihrer katastrophalen Montage und ihrem dadurch resultierenden permanenten Wechsel zwischen Kampf ums nackte Leben und gediegenem Blutsaugerkaffeekränzchen bricht die filmische Illusion des Films dermaßen heftig, dass man, wenn man es nicht besser wüsste, schon fast von einem bewusst inszenierten Verfremdungseffekt sprechen könnte.

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Abb.9-11: Auf einer Reise nach Rumänien kaufte ich mir eine pipe, mais c'est n'est pas une pipe. Dafür beweist besagte Pfeife in einer von vielen Szenen, in der der Anschlussfehlerteufel seinen Schabernack treibt, einen recht lebhaften Charakter: Anbei sieht man Renfield - der bei Stoker freilich Harker heißt, und bei Murnau Hutter: puh, all diese Namen! - im Gespräch mit einem rumänischen Gastwirt, der ihm rät, er könne alles tun, nur eins nicht, nämlich nach Sonnenuntergang zur Burg des Grafen Dracula zu reisen. Diese drei Einstellungen folgen unmittelbar aufeinander, und, mal abgesehen davon, dass der Gesichtsausdruck des Schnauzbärtigen sich zwischen einem Schnitt und dem nächsten frappierend ändert, und dass der Winkel, aus dem er bei Einstellung 2 gefilmt ist, auch nicht recht zu Einstellung 1 und 3 passen mag, ist es vor allem seine munter von der linken in die rechten Hand wechselnde Pfeife - was für ein cooles Ding aber! -, die meine Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Noch viel amateurhafter – und für ein postpostmodernes Publikum noch entzückender – wird es, wenn man etwas im Bild vergisst, das dort überhaupt nicht hingehört. Ein Beispiel gefällig? Betreten wir doch einmal Minas Schlafzimmer, als unsere Heldin dort den Schlaf der Schönen und Reichen schläft, und deshalb nicht mitbekommt, dass Lugosi die Tür zu ihrer Kammer aufstößt und raubtierhaft zu ihrem Bett schleicht. Im Bildvordergrund sehen wir Minas Nachttischlampe, eingeschaltet, als fürchte sie die Nacht. Aber was ist das? Da hängt doch ein Stück Pappe vor der Lampe, oder nicht? Wieso hat ein junges Mädchen aus gutsituiertem Elternhause eine Pappe vor ihrer Nachttischlampe kleben?! Nun, zu 99,9% dient diese Pappe, meine ich, wohl dem rein pragmatischen Grund, dass das Licht der Lampe, wenn sie, wie jetzt, brennt, nicht bei close-ups, z.B. von Gesichtern, auf diese fallen soll, sprich: der Beleuchter oder Kameramann wird sie angebracht haben, sie ist ein extradiegetisches Element par excellence. Gerne können die Hollywood-Horrorspezialisten mit ihren Requisiten anstellen, was sie wollen, und diese Pappe scheint ja gut und nützlich gewesen zu sein bei Portraitaufnahmen, aber was ich beim besten Willen nicht verstehe: wie hat es dieses Stück Pappe denn bitteschön in den Endschnitt geschafft?, wie viele Instanzen musste sie wohl durchlaufen, um dort zu landen?, und: das dann auch noch gleich in drei Szenen? – denn: bei einem späteren Besuch Draculas hält sie noch genauso ihre Stellung wie als Minas Vater und Van Helsing noch später ratlos in ihrem Zimmerchen herumstehen und sich fragen: Wo steckt die Gute bloß?! In einem italienischen Trash-Film aus den 70ern und 80ern wundere ich mich über nichts mehr, aber das ist doch... fuckin' Hollywood, nicht?

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Abb.12-14: Graf Dracula hat *fast* statt süßem Jungfernblut den Geschmack von Pappe im Mund. Sobald man die Lampe mit ihrer angeklebten Pappe jedenfalls erst einmal entdeckt hat, wird man sie den ganzen Film über nicht mehr los.

Dritter Teil
Allerdings – und ich bin fast geneigt, mich von diesen Szenen so versöhnlich stimmen zu lassen, dass ich DRACULA alles verzeihe, was ich ihm in den obigen Zeilen an Kritik vor die Füße geworfen habe – steckt dieser Film in seiner vergleichsweise vorzüglichen ersten Viertelstunde auch voller Tierchen, die man nicht nur in den Karpaten eher selten antrifft, sondern auch in klassischen Spielfilmen viel zu selten zu Gesicht bekommt. Man leitet sich das Vorhandensein von Opossums und Gürteltieren im gräflichen Schloss üblicherweise wie folgt her: Im Hollywood war der sogenannte Production Code, d.h. die Vorschrift darüber, was in einem handelsüblichen Kinofilm gezeigt werden durfte und was nicht, zwar noch nicht im Gesetz verankert – das sollte erst wenige Jahre nach DRACULA geschehen -, dennoch hielten die Studios sich selbstzensorisch natürlich an gewisse ungeschriebene Vorgaben wie zum Beispiel, um gleich mal beim härtesten Tobak zu beginnen, das Vermeiden sexueller Darstellungen oder aber das Verunglimpfen von Autoritäten wie Staat und Kirche. Was jedoch ebenfalls nicht vor die Augen der US-amerikanischen Zuhörerschaft kommen durfte, das waren als eklig geltende Tiere wie vor allem Ratten - während sie, wir erinnern uns, bei NOSFERATU noch derart als Legion auftreten, dass sie quasi von der Leinwand purzeln. Was sollen aber die Verantwortlichen eines Schauerfilms wie vorliegendem tun, wenn sie das Schloss des Titelhelden nicht bloß mit den sowieso bereits omnipräsenten Gummifledermäusen ausstaffieren möchten? Nun, man nimmt eben einfach ein paar Vertreter aus der heimischen Fauna - das wird schon niemandem auffallen, denn der normale US-Kinobesucher 1931 hätte Rumänien sicher nicht auf einer Landkarte Europas auf Anhieb finden können, nehme ich an und haben wohl auch die Leute bei Universal angenommen, weshalb sich im Haus des Saugers, zwischen Spinnenweben und Särgen, eben solche muntere Gesellen tummeln wie Opossums, Gürteltiere und…, was ist denn das?, eine Biene?!

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Abb.15-18: Murnaus "Wehrwolf". Ein Opposum. Zwei Gürteltiere. Ein Insekt namens Jerusalem Cricket (wissenschaftlicher Name: stenopelmatus). Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder ist sie ein riesengroßes Ungetüm, das schon vorverweisen soll auf die Rieseninsekten-Thriller der 50er wie FORMICULA oder TARANTULA - oder aber wir wohnen hier gerade einer der wenigen genuin surrealen Szenen des Hollywood-Kinos der 30er bei.

Tja, und damit kommen wir nun endlich zu dem einen Moment, für den ich DRACULA dann doch über alle Maße feiere, vielleicht gerade weil mir bislang niemand recht die Frage beantworten konnte, was man sich wohl dabei nur gedacht haben mag, einen Miniatursarg anzufertigen und aus diesem ein in Kalifornien nicht seltenes Tierchen – für das es im Deutschen scheinbar gar keine Bezeichnung gibt - namens Jerusalem Cricket krabbeln zu lassen? Falls Särge in Filmen ebenfalls verboten gewesen wären, könnte ich das ja verstehen - doch das sind sie offenkundig nicht, denn in den umliegenden Szenen erheben sich Dracula und seine Bräute aus ebensolchen. Ist das Surrealismus, ein Schalk im Nacken? Noch einmal: ein Gürteltier auftreiben, ein Opossum, und die in eine Gothic-Kulisse setzen, okay, klar, das ist keine große Sache, ziemlich schräg zwar, aber gut – und hat seinen Vorläufer sogar wiederum in NOSFERATU, wo uns in einer denkwürdigen Szene ja ebenfalls eine Hyäne als, wie er im Zwischentitel genannt wird, Wehrwolf verkauft. Aber einen - ich wiederhole: - Miniatursarg basteln, und in dem eine Biene beisetzen, die dann nach Mitternacht zu neuem Leben erwacht!? Großartiger Film, irgendwie, für ein paar Sekunden zumindest.

Über manchen Film wurde bereits so viel geschrieben, dass man sich fragt, wozu man da nun noch unbedingt seinen eigenen Senf hinzugeben muss? Aber wie viele Liebesbriefe mögen schon verfasst worden sein - selbst wenn sie dann nicht abgeschickt wurden und ungelesen im Ofenfeuer landeten? Sollte ich deshalb nur das lesen, was schon ist, mich ausruhen auf dem, was andere für mich getan haben, zu einem Straßenschild werden, das bloß das benennt, was sowieso schon da ist?
Zuletzt geändert von Salvatore Baccaro am Fr 6. Mai 2016, 08:11, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originialtitel: Drácula

Produktionsland: USA/Spanien 1931

Regie: George Melford

Darsteller: Carlos Villarías, Lupita Tovar, Barry Norton, Pablo Álvarez Rubio, Eduardo Arozamena
Es war einmal eine Zeit, in der die Bilder, die uns Geschichten erzählten, ihre Geschichten auf einmal mit wirklichen Worten erzählen durften, nicht nur über die Schrift. Es war die Zeit, in der das, was wir hören, auf einmal wichtiger wurde als das, was wir sehen, und die Zeit, in der die Grenze der Sprachen, die zuvor spielerisch überwunden werden konnten, auf einmal hart und fest zwischen uns standen. Es war die Zeit, in der man sich noch davor scheute, Bildern, die in einer bestimmten Sprache mit uns kommunizieren, einfach eine andere Sprache überzustülpen - die Sprache, die jenseits der Grenze gesprochen wurde, damit die, die jenseits der Grenze wohnen, die Bilder verstehen können, die diesseits der Grenze sprechen -, und damit begann, die Bilder einfach zweimal anzufertigen, einmal in dieser Sprache, einmal in jener. DRÁCULA, eine spanischsprachige Fassung von DRACULA, gedreht in den gleichen Kulissen, nach dem gleichen Skript, aber mit anderen Darstellern, ist, in gewisser Weise, die Geschichte dieser Grenze.

Produzent Paul Kohner und Regisseur George Melford sind dem Team um Tod Browning in einem klar im Vorteil gewesen: Die englischsprachige Fassung von DRACULA wurde zwar in den exakt gleichen Sets gedreht wie die der spanischsprachigen, jedoch stets zeitlich vor dieser, was nichts anderes bedeutet als dass Melford/Kohner die Möglichkeit hatten, sich erstmal anzuschauen, wie ihre Kollegen die jeweilige Szene umgesetzt hatten, und danach nach Wegen zu suchen wie man es (noch) besser machen könnte. Dadurch ist ihnen wohl auch nicht verborgen geblieben, dass DRACULA sich an vielen Stellen schlampiger und unprofessioneller als eine von lustlosen Schülern improvisierte Theater-AG-Aufführung gibt. Wirklich eklatante Anschlussfehler oder gar an Nachttischlampenschirme vergessene Pappen muss man in DRÁCULA daher mit der Lupe suchen, und wird sie trotzdem nicht finden. Im Grunde merzen die Verantwortlichen der spanischen Fassung all die Mängel aus, die die englische so sehr verunstalten, einfach dadurch, dass sie konzentriert das bereits vorhandene Material sichten, ausbessern – und dabei höchstwahrscheinlich ziemlich erschreckt darüber gewesen sind, was sie dort alles an Fauxpässen zu Gesicht bekommen haben. Letztlich wirft das die von mir in meiner Kurzkritik zu DRACULA gestellte Frage nur auf noch größere Häufen: Wie kann es denn sein – um noch einmal meine persönliche Nemesis aufzugreifen -, dass eine für die Beleuchtung nutzbringende, an einer Lampe klebende Pappe den finalen Schnitt erreicht, wenn nicht nur das Team des Films, das sie zu verantworten hat, sie eigentlich nicht hätten übersehen können, sondern auch noch das Team eines zweiten Films auf sie aufmerksam geworden sein muss? Oder soll ich mir das so vorstellen, dass Melford und Kohner ihre Kollegen schlicht nicht auf deren Nachlässigkeit hinwiesen, um ihren eigenen DRÁCULA zum mit Abstand gelungeneren werden zu lassen? Es gibt Antworten, die man wohl nie bekommt, und das Rätsel um dieses Stück Pappe werde ich womöglich mit ins Grab nehmen.

Was noch auffällt, wenn man DRACULA und DRÁCULA erstmal unter rein formalen Gesichtspunkten nebeneinanderhält, ist, dass die spanische Version der Geschichte beinahe eine halbe Stunde länger dauert als die US-amerikanische, sprich: DRÁCULA überschreitet mühelos die Neunzig-Minuten-Marke, während DRACULA sich recken und strecken muss, überhaupt auf mehr als siebzig zu kommen – und trotzdem scheint beiden dasselbe Drehbuch zugrunde gelegen zu haben. Bedeuten kann das letztlich nur, dass für DRACULA etliche Szenen einfach erst gar nicht gedreht worden sind, d.h. man das Skript bereits vor Drehbeginn etlichen Kürzungen unterworfen hat – vielleicht aus (Selbst-)Zensurgründen, vielleicht um die Handlung zu straffen -, oder aber, dass DRACULA in einer mittlerweile längst in irgendwelchen Archiven verschollenen Originalfassung, die nie das Auge der Öffentlichkeit erblickte, tatsächlich eine Laufzeit aufgewiesen haben mag, die der von DRÁCULA gleicht. Im Folgenden möchte ich die Szenen, die in der englischen Sprachfassung nicht stattfinden, die aber in der spanischen zu bewundern sind, erstmal in vier Großkategorien einteilen, und diese dann, allerdings mehr oder minder unsystematisch, kurz analysieren/vergleichen. Es sind, meiner Meinung nach: 1. Szenen, die für die Handlung kaum bis gar keine Relevanz besitzen, und hauptsächlich dazu dienen, Atmosphäre zu schaffen, 2. Szenen, die für die Handlung durchaus wichtig gewesen wären, um die Logik nicht allzu sehr wie einen durchlöcherten Lappen aussehen zu lassen, und die aus den verschiedensten Gründen dann doch der Schere zum Opfer gefallen sind, 3. Szenen, die Melford/Kohner anders gelöst haben als Browning/Laemmle, und die aufzeigen, dass den Verantwortlichen der spanischen Fassung durchaus daran gelegen war, eigene Mittel und Wege zur Umsetzung bestimmter Momente zu finden, und nicht bloß stumpf die US-Version eins zu eins zu kopieren, 4. Szenen, die kreative Eigenleistungen der spanischen Fassung darstellen dürften, und sich hauptsächlich in Details manifestieren, die bestimmte Figuren, Ereignisse mehr/anders akzentuieren, und für die es in DRACULA nichts Vergleichbares gibt. Am Ende werde ich dann, was hier schon verraten werden soll, zu dem Schluss kommen, dass DRÁCULA seinem Namensvetter ohne Strich überm ersten A in nahezu sämtlichen Belangen überlegen ist, und, sowohl narrativ wie auch formal, für mich den subjektiv wie objektiv „besseren“ Film darstellt. Kommen wir, wie in jedem ordentlichen Prozess, zur Beweisführung:

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Abb.1&2: Bereits die Titeltafeln enthüllen Essentielles: Während der Vorspann der US-Fassung vor einem statischen, immerhin aber das Batman-Logo antizipierenden, Hintergrund abläuft, findet die Verantwortlichenriege in der spanischsprachigen Fassung vor einer echten zuckenden, und im Verlauf des Vorspanns ausgeblasen werdenden, Kerze statt. Besser hätte man die Dichotomie zwischen vitaler, gleichsam genuin kinematographischer Herangehensweise und montonoer, versteifter Abfilmung eines Theaterstücks kaum illustrieren können. Bemerkenswert am Rande: wie tief muss Carl Laemmle geschlafen haben oder wie egal muss ihm dieser Film gewesen sein, dass ihm - und seinen Lakaien - der eklatante Rechtschreibfehler seine Person betreffend entgangen ist? (siehe Abb.1, rechts unten)

Schon gleich zu Beginn, bei Renfiels Kutschfahrt ins Herz der Karpaten, wird deutlich, dass DRÁCULA in der knappen halben Stunde, die er seinem englischsprachigen Beißbruder gegenüber im laufzeittechnischen Vorteil ist, eben nicht etwa nur aus Szenen besteht, in denen seine Protagonisten noch ausführlichere Dialoge als die führen, die einem schon in DRACULA freiwillig ins Bettchen schicken. Die allererste Szene scheint mir in beiden Filmen identisch: die Pferdekutsche rollt durch eine matte-painting-Landschaft davon wie sich irgendein US-amerikanischer Spezialeffektekünstler in den frühen 30ern das rumänische Hinterland vorgestellt hat. Der Schnitt nun aber ins Kutscheninnere zeigt, obwohl die Dialoge scheinbar lediglich vom Englischen ins Spanische übersetzt worden sind, dass die jeweiligen Figuren anders auf ihren Sitzplätzen verteilt worden sind. In Tod Brownings Version präsentiert sich das Ensemble wie folgt: Links vorne sitzt Renfield, neben ihm ein namenloses junges Mädchen, neben diesem wiederum der Einheimische mit dem exponierten Oberlippenbart, der gleich vor den Gefahren der Walpurgisnacht warnen wird, wenn man vorhat, sie ausgerechnet am Borgo-Pass zu feiern. Ihnen gegenüber sind zwei weitere weibliche Figuren platziert: eine korpulenter Dame mit strengem Gesicht sowie, hinten in der Ecke, die großmütterlich gekleidete Frau, bei der es sich um die Nichte von Produzent Carl Laemmle in ihrer größten Sprechrolle handelt, die den Mitreisenden angeregt aus ihrem Reiseführer voller Plattitüden vorliest. Wie wir wissen, wird die wenig ausgebaute Gebirgsstraße und das rasante Tempo, das der Kutscher aus den Pferden herausholt, in ein paar Sekunden dazu führen, dass unsere Vorleserin quer durch den Raum geschleudert wird und dem Schnauzbartträger in die Arme fällt, worauf Renfield den Kutscher ermahnt, dass er doch die Geschwindigkeit ein wenig drosseln solle, und daraufhin zu hören bekommt, weshalb alles ratsam sei, nur das nicht. In der Version, die unter der Regie von George Melford entstand, durchzieht das Kutscheninnere eine Geschlechtergrenze: Links sitzen, nach wie vor, Renfield und der diesmal schnauzbartlose Einheimische, rechts haben sich die drei Frauenfiguren versammelt, jedoch mit dem Unterschied, dass diejenige von ihnen, die an ihrem Reiseführer klebt, nach ganz rechts vorne gerückt wurde, d.h. Renfield direkt gegenüber. Nicht nur scheint es sich auch hier um Carla Laemmle zu handeln – oder man hat eine gefunden, die ihr zum Verwechseln ähnlich sieht, und sie ins das gleiche Kostüm gesteckt -, auch bekommen wir deut-licher ihre Broschüre zu sehen, aus der sie auf Spanisch wesentlich länger vorliest als auf Englisch. Aber nicht nur das: dass man die junge Frau vis-à-vis Renfield gruppierte, ist ein Einfall mit Hintergedanken. Gleich zweimal nämlich stürzt sie von ihrem Platz – und diesmal natürlich niemand anderem in die Arme als Renfield, dem das sichtlich nicht allzu unangenehm ist. Melford bringt damit ein, wenn auch hier noch unterschwelliges, Element der Erotik in seinen Film, das bei DRACULA einer Zugeknöpftheit hatte weichen müssen, die vor jedwedem in Stokers Romanvorlage nicht zu leugnendem sexuellem Subtext noch den obersten Knopf der Bluse schließt und zusätzlich einen weiten Mantel darüber streift. Dass Renfield und die namenlose Vorleserin zweimal in direkten körperlichen Kontakt treten, kurz bevor der Einheimische, ebenfalls ausführlicher als in DRACULA, erklärt, in der Walpurgnisnacht sei es üblich, dass die Toten aus ihren Gräbern steigen und sich am Blut der Lebenden ergötzen, mag vielleicht nur eine nette Idee gewesen sein, die Kutschfahrtszene mit etwas Komik zu würzen und unseren Helden für den ersten Akt, Renfield, nicht nur als stummen Zuschauer auftreten zu lassen, sondern gleich aktiv in die Handlung einzubinden, für mich jedoch schwingt da schon etwas von dem vergleichsweise offensiven Umgang mit den erotischen Implikationen der Beiß-und-Saug-Geschichte mit, der sich im weiteren Verlauf der Films noch weiter bestätigen wird.

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Abb.3&4: Eine Kutschfahrt mit leicht unterschiedlicher Personengruppierung. Carl Laemmles Nichte darf allerdings, scheint's, an beiden Reisen teilnehmen und ihre Gefährten mit Reisebroschürenplattitüden langweilen.

Vor allem die Frauenfiguren dienen in DRÁCULA dazu, meine These zu untermauern. Erinnern wir uns an die ausgesprochen atmosphärische Szene bei Tod Browning, in der Draculas drei Bräute sich über den armen Renfield hermachen wollen, dann aber in letzter Sekunde von Lugosi einen Riegel vorgeschoben bekommen, der seinen Gast für sich selbst fordert – was wir dann natürlich auch nicht zu sehen kriegen. Anders verläuft die Szene in DRÁCULA: Nachdem der Graf sich zur Tagesruhe verabschiedet und Renfield in dem ausladenden Schlafgemach alleingelassen hat, wittert der schon, dass es bei seinem Gastgeber nicht mit rechten Dingen zugeht, und begibt sich zum Fenster, wo er ihn dann auch dabei ertappt wie er, ähnlich Graf Orlok in Murnaus NOSFERATU, schon mal damit beschäftigt ist, die Särge mit der für ihn lebensnotwendigen Heimaterde in den Frachtraum der Kutsche zu laden. Als der Graf bemerkt, dass man ihn bespitzelt, fletscht er raubtierhaft die Zähne und jagt Renfield damit vom Fenster fort, jedoch geradewegs in die Arme seiner Bräute, die, ebenfalls schon mit gebleckten Gebissen, angriffslustig in seinem Rücken gewartet haben. Zwar bekommt man in DRÁCULA nicht in den Genuss der überaus stimmigen Bildkomposition, mit der DRACULA den Vampirbräuten ihren Auftritt versüßt hat, dafür ist die kurze Einstellung, die zeigt wie das blutgeile Trio sich über den inzwischen vom mit Komatropfen vermischten Wein ausgeknockten Häusermakler hermacht, um ihm – daran lässt vorliegender Film keinen Zweifel – bis auf den letzten Tropfen auszuschlürfen, ein derart subversives Moment, dass die US-amerikanischen Moralapostel darüber möglicherweise erblindet wären.

Genauso für blinde Augen hätte wohl auch Lupita Tovar, die Darstellerin der Mina – die in Melfords Fassung indes, warum auch immer, Eva heißt – gesorgt. Ein größerer Kontrast zu Helen Chandler, der weiblichen Hauptrolle bei Browning, lässt sich, meine ich, wohl kaum denken. Helen Chandler ist ein sauberes, US-amerikanisches Mädchen par excellence, zugeknöpft bis fast zur Nasenspitze, mit bravem Püppchengesicht und stets darauf bedacht, den Erweisungen der sie umgebenden und lenkenden Männern wie Dr. Seward oder ihrem Verlobten Jonathan Folge zu leisten, kurzum: ein solch zahmes, unschuldiges und sterbenslangweiliges Geschöpf, das sie nicht mal als Halb-Vampirin, wenn sie Harkers Gurgel anpeilt, um zum ersten Mal menschlichen Lebenssaft zwischen die Lippen zu bekommen, irgendetwas Bedrohliches versprüht. Ganz anders liegt der Fall bei Frau Tovar, einer heißblütigen Mexikanerin, die schon in ihrem ganzen Habitus deutlich macht wie groß die Mentalitätsunterschiede zwischen US-amerikanischer Prüderie und lateinamerikanischer Freizügigkeit seinerzeit offenbar gewesen sind. Während Mina Harker noch kurz vorm Zubettgehen angetan ist mit mindestens zwei Kleidungsstücken übereinander, die ihre körperlichen Reizen mehr ver- als enthüllen, trägt Eva Seward oft und gerne Stoffe, so durchscheinend, dass es einem genauen Beobachter nicht schwerfällt, ihre Brustwarzen darunter mehr zu erkennen als zu erahnen. Überhaupt ist Lupita Tovar, einmal ganz abgesehen von ihren physischen Merkmalen, eine wesentlich präsentere Schauspielerin, die, obwohl sie natürlich auch vorrangig eine Opferrolle bekleidet, ihre Figur durchaus so anzulegen versteht, dass sie weit über das nette, liebe Kindchenschema einer Helen Chandler hinauskommt. Bestes Beispiel hierfür ist wohl die bereits angerissene Szene, in der Eva ihren Verlobten, der in vorliegendem Film Juan heißt, auf dem heimischen Balkon becirct, um an sein Hälschen gelangen zu können. In der US-Fassung wird Minas Blutgier vorwiegend mittels eines Zooms ausgedrückt, der ihr Gesicht, während es sich dem Harkers zuwendet, stetig näher rückt. Das ändert natürlich nichts daran, dass dieses Gesicht noch immer eins ist, vor dem man weniger Angst hat als dass man ihm in die Wange kneifen möchte. In DRÁCULA fehlt diese Kamerafahrt, und das aus gutem Grund, denn Lupita Tovar versteht es, allein über ihr Schauspiel die Szene komplett zu beherrschen. Ihrer Eva Seward steht der Wahn-sinn regelrecht ins Gesicht geschrieben. Sie umhalst Juan mit den Armen, wirft ihm irre Blicke entgegen, bricht in ein hysteri-sches Gelächter aus. Dieses erregte Funkeln in ihren Augen, als sie die Stelle seines Halses fixiert, wo ihn ihre Zähnchen penetrieren sollen, steht wohl ziemlich singulär im frühen Horrorkino, und kann sich durchaus bereits mit ähnlichen blutgeilen Mienen in späteren Filmen von, zum Beispiel, Jean Rollin oder Jess Franco messen lassen. Dort, wo Tod Brow-nings Fassung alles daran setzt, irgendwelche sexuellen Konnotationen unter Tische zu kehren, über die danach noch lange Decken ihre Falten werfen dürfen, sind Kohner/Melford, scheint es, in Szenen wie der eben beschriebenen schon beinahe eher darum bemüht, unmissverständlich auf die Freud’schen Analogien hinzuweisen, die zwischen dem Kuss eines Vampirs und einem leidenschaftlichen Oralverkehr bestehen.

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Abb.5&6: Von wem würden Sie sich lieber verführen lassen? Kaum zu glauben, aber: in beiden Fällen setzt eine Vampirin zum leidenschaftlichen Biss an.

Aber noch in anderer Hinsicht liefert DRÁCULA ein Novum innerhalb der Filmgeschichte: Meines Wissens dürfte das der erste Horrorfilm sein, in dem wir in Großaufnahmen die Bissspuren eines Blutsaugers an einem weiblichen Hals gezeigt bekommen. In Murnaus NOSFERATU verfügt Max Schreck zwar über imposante Beißerchen, und wir sehen ihn auch im Finale an Ellens Hals geschmiegt wie ein Kind an die Mutterbrust, wirkliche Aufnahmen von den beiden Löchern, die seine Eckzähne hinterlassen hätten, gibt es letztlich, mehr schemenhaft, bei einer Einstellung auf Hutters Kehle zu erahnen, als der sie am Morgen in seinem Taschenspiegel inspiziert und die Schäden der Nacht für Mückenstiche hält. In Tod Brownings DRACULA, in dem Bela Lugosi ja nicht mal sichtbare Mundwerkzeuge hat, um die Kehlen seiner Opfer anzuzapfen, darf man wohl gar nicht danach fragen, irgendwelche vampirversehrten Körper zu erblicken. Möglich wäre es in der US-Fassung jedoch scheinbar zumindest gewesen, denn die Szene in DRÁCULA, in der Lucys Leichnam von einer Gruppe Ärzte untersucht wird, ist wiederum identisch mit ihrem Gegenstück in DRACULA. Der Unterschied: Wo Browning verklemmt wegblendet, geht sie in Melfords Fassung noch weiter, und lässt uns nicht nur verbal teilhaben an der schockierenden Entdeckung der Mediziner, die die Deflorationszeichen in Lucys Haut bemerken, sondern zeigt sie uns in ihrer ganzen Schönheit. Auch das ist symptomatisch für einen Film, der weniger auf falsche Scham bedacht ist als sein US-amerikanisches Pendant, und generell viel eher bereit, so etwas wie wahren Horror auf die Leinwand zu bringen statt eine plüschige, kuschelige Variante desselben.

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Ab.7&8: Der erste männliche und der erste weibliche von Vampirfangzähnen versehrte Hals der Filmgeschichte: Rechts inspiziert Hutter in Murnaus NOSFERATU, was mit seiner Gurgel über Nacht geschehen ist, und links hat die arme Lucy in vorliegendem Film wegen akuter Anämie leider keine Chance mehr, selbst ihre Kehle zu untersuchen, und muss das den Herren der Wissenschaft überlassen.

Eine weitere Szene nämlich, die ich bei Brownings DRACULA, da ich einfach nicht anders konnte als sie mit einer ähnlichen in NOSFERATU zu vergleichen, erheblich kritisiert habe, wird in DRÁCULA fast schon musterhaft gelöst. In der englischsprachigen Fassung leidet die Fahrt über den Atlantik unter einer Montage, die dermaßen unzusammenhängend ausgefallen ist, dass ich mich noch immer darüber wundere wie die es nur in den fertigen Film geschafft hat. Im Prinzip werden da zwei Dinge miteinander zu verbinden versucht, die schlicht überhaupt nicht zusammenpassen. Zum einen haben wir die offenkundig in der ruhigen, betuchten Atmosphäre einer Studiokulisse gedrehten Dialogszene zwischen Dracula und Renfield, die angeblich unter Deck der Vesta stattfinden sollen. Keiner der beiden ist sonderlich aufgebracht, eher macht das Ganze – einmal abgesehen von Dwight Fryes over-acting - den Eindruck einer förmlichen Unterredung darüber, wie es weitergehen soll, wenn man erstmal Fuß auf britisches Festland gesetzt hat. Dem entgegenstehen aber all die Szenen, die an Bord des gleichen Schiffes spielen sollen. Die stammen, wie in meiner Kurzkritik zu DRACULA erwähnt, aus einem Stummfilm von 1925 namens THE STORM BREAKER, und präsentieren uns ein Schiff, das mit Mann und Maus gegen den drohenden Untergang kämpft, derart heftig wütet der Sturm, dem es hilflos ausgeliefert ist. Die Grundbedingungen bei DRÁCULA sind ähnliche: Auch Melford mixt Aufnahmen aus THE STORM BREAKER in seinen Film hinein, begeht jedoch nicht den Fehler, ausgerechnet die übelsten Sturmszenen zu verwenden. Stattdessen konzentriert er sich auf einige wenige Aufnahmen von Matrosengestalten und kombiniert diese überaus geschickt mit einer Szenen, die deutlich macht, dass Murnaus NOSFERATU damals tatsächlich bei den Universal-Verantwortlichen als Inspirationsquelle ganz oben gestanden haben muss. Zu Großaufnahmen weiterer entsetzt guckender Matrosengesichter, die indes offensichtlich nicht aus THE STORM BREAKER kommen, sondern von Melford selbst gedreht worden sind, erhebt sich Conde Drácula aus dem Schiffsrumpf, indem er langsam und mit ausdrucksstarken Händen die Luke anhebt – auf der übrigens eine der waschechten Ratten sitzt, über die in der US-Fassung, erneut aus Zensurgründen, nur geredet, die aber nicht gezeigt werden durfte -, und sich dann ebenso langsam und ausdrucksstark aufrichtet, um über die verbliebenen Bordmitglieder herzufallen. Bis in Details gleicht die Einstellung des aus dem Schiffsrumpf wie aus einem Sarg sich erhebenden Graf derjenigen in Murnaus Film, die Graf Orlok in einer absolut identischen Situation vorführt, und in ihrer minimalistischen Art und Weise, die sich eben einfach auf ein paar Gesichtsportraits und das überzeugende Schauspiel des Dracula-Darstellers Carlos Villarías beschränkt, stellt sie spielerisch so ziemlich alles in den Schatten, was dem Team um Tod Browning zur gleichen Zeit zur gleichen Drehbuchseite eingefallen ist – oder eben nicht eingefallen ist.

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Abb.9&10: Szenen der reinen Atmosphäre: Links schenkt uns der Film den gespenstischen Anblick eines Walpurgisfeuers, an dem die Kutsche gemächlich vorbeirollt. Die beinahe schon obszöne Großaufnahme von Draculas blutgeilen Augen rechts, die dabei derart nahe herangerückt werden, dass sie beinahe die Intimität von pulsierenden Geschlechtsorganen bekommen, ist nur eine von vielen Einstellungen gleicher Art, wofür DRÁCULA mit Sicherheit ein heißer Anwärter auf den Lucio-Fulci-Preis für die inflationärsten Augen-Großaufnahmen wäre.

Überhaupt sollten endlich mehrere Worte über Carlos Villarías verloren werden, ein gebürtiger Spanier, der zwar in den 30ern und 40ern zahllose Filme gedreht hat, von denen mir persönlich allerdings niemals einer untergekommen ist. Ja, ich gebe zu: auf manchem Screenshot mag er ungefähr so angsteinflößend wirken wie ein Rosettenmeerschweinchen, mit seinen Pausbäckchen und seinem Teddybär-Gesichtchen, und einer zumindest imposanten, eigenartigen Erscheinung wie Bela Lugosi nicht mal ein stilles Wasser reichen dürfen. Es stimmt: Lugosi mit seinem exotischen Charme, seinem gewöhnungsbedürftigen Englisch, seiner elitär-aristokratischen Theatralik verkörpert den Grafen Dracula ganz anders als Villariás das tut. Zum Zeitpunkt als DRACULA entsteht, ist er routiniert in der Rolle, die er schon unzählige Male auf Bühnenbrettern gegeben hat. Gerade das ist es aber vielleicht, was ihm manchmal im Weg steht, und ihn daran hindert, eine wirklich frische Vorstellung abzuliefern, ein Vorteil, den Villariás dann, trotz seiner, wenn man will, nachteiligen Physis, durchaus für sich ausnutzen kann – zumal er selbst aus seinen Pausbäckchen und seinem Bärchengesicht mehr herausholt als man zunächst erwarten würde. Villarías Dracula-Darstellung könnte man möglicherweise am besten wie folgt zusammenfassen: Nach außen hin gibt der Graf sich harmlos, putzig, fast schon unscheinbar, dann aber, wenn es darauf ankommt, zum Beispiel wehrlose Seefahrer zu schröpfen, oder sich in Lucys oder Evas Zimmer zu manifestieren, erwacht in dem vermeintlich freundlichen Adligen das Raubtier. Wo Bela Lugosi für mich manchmal fast schon Mitleid erweckt, weil er auf mich wirkt wie ein impotenter Greis, der alle Kräfte mobilisiert, um wenigstens einmal noch zum Orgasmus zu kommen – sein irgendwie gequälter Gesichtsausdruck in den Großaufnahmen kurz vor den off-screen-Bissen spricht in dieser Hinsicht Bände für mich -, strotz Villarías nicht nur vor Gesundheit, sondern weist auch in vielen Szenen ein viel nuancierteres, detailfreudigeres Spiel auf als der möglicherweise schon viel zu stark mit seiner Rolle verwachsene ungarische Kollege. Ich möchte als Beispiel nur einmal die Spiegelszene anführen, in der, wir erinnern uns, die US-Fassung Harker, Van Helsing und Seward dem Grafen mittels eines Zigarettenetuis auf die Schliche kommen lässt, in dessen Glas sich nur die Reflektion Minas sehen lässt, und von Draculas Spiegelbild jede Spur fehlt. Um dem Vampir unter die Nase zu reiben, dass er enttarnt worden ist, bittet Van Helsing ihn, nachdem man Mina zu Bett geschickt hat, zu sich, und hält ihm das entlarvende Spiegelglas vors Gesicht. Lugosis Reaktion wirkt wie einstudiert: Er zuckt zurück, zieht eine Grimasse, schlägt seinem Kontrahenten das Etui schon im nächsten Moment aus den Händen. Anders verfährt – und das ist typisch für sein Schauspiel in DRÁCULA – Don Villarías: Van Helsing hat das Etui bereits geöffnet, hält es ihm hin und trotzdem blickt der Conde Drácula noch nicht in es hinein, weil er wohl ahnt, dass ihm sein Feind eine Falle zu stellen beabsichtigt. Erst langsam senken seine Augen sich in das Kästchen, wo er zunächst natürlich nichts Verdächtiges feststellt, denn als seit Jahrhunderten Untoter ist es ihm ja vertraut, in einem Spiegel nicht die eigene Fratze, sondern das Nichts zu sehen. Erneut erst langsam dämmert ihm, in was für er einen Hinterhalt er da getapst ist – man kann das schön Stück für Stück in seiner Miene nachverfolgen -, und er rastet endlich sogar noch heftiger aus als Lugosi, haut Van Helsing das Etui herunter, dass es in einen Haufen Scherben zerbirst. Man mag für Lugosi Sympathien hegen, die aufzutreiben ich nicht ganz imstande bin, und man mag Villarías wegen der erwähnten Teddybärhaftigkeit skeptisch gegenüberstehen, doch in einer Szene wie dieser erweist sich das Spiel des Spaniers als wesentlich psychologisch ausgefeilter, nachvollziehbarer, man könnte sagen: menschlicher als das vielleicht zu sehr am Drehbuch klebende und zu routinierte eines Bela Lugosi. Villarías nutzt, was auf einer Theaterbühne nicht primär notwendig ist, selbst die minimalsten mimischen und gestischen Komponente, um seinem Grafen Leben einzuhauchen, während ich bei Lugosi oft den Eindruck habe, dass er auch vor einer Filmkamera so agiert, als seien es lediglich meterweit entfernte Theaterbesucher, die ihm zusehen, und die irgendwelche Feinheiten seines Spiels aufgrund der räumlichen Distanz sowieso nicht bemerken würden.

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Abb.11&12: Carlos Villarías, der erste spanischsprachige Vampir. Schön verdeutlicht Abb.11, was ich mit der ihm immanenten Teddybärhaftigkeit gepaart mit der Ruchlosigkeit eines Raubtiers meine, während Abb.12 verdeutlicht, was ich damit meine, dass die Verantwortlichen der spanischen Fassung zum Frühstück nicht auf die nötige Portion Kontinutität verzichtet haben: Während Bela Lugosi als sein eigener Kutscher in der US-Fassung es nicht für nötig hält, sich irgendwie zu maskieren und damit vor Renfield zu kaschieren, dass er selbst es ist, der ihn zu seinem eigenen Schloss bringen wird, hat Villariás, deutlich angelehnt an Graf Orlok, seine Pausbäckchen sinnvollerweise zumindest zum Teil verhüllt bekommen.

Aber auch die übrigen Darsteller der spanischen Fassung können nicht nur ausnahmslos mit ihren US-amerikanischen Kollegen mithalten, sondern diese noch übertreffen. Dwight Frye, über dessen, sagen wir, exzentrisches Schauspiel als Renfield ohne Sinn und Verstand ja in den letzten Dekaden der Filmgeschichte schon oft genug eimerweise Häme ausgegossen worden ist – und den ich persönlich eigentlich niemals als so unangenehm empfunden habe -, findet sein Pendant in einem gewissen Pablo Álvarez Rubio, der ihm, wie das bei Villarías und Lugosi der Fall ist, aufgrund gewisser kleiner Details in vielen Szenen regelrecht die Schau stiehlt. Da wäre zum Beispiel eine Szene, in der Renfield kurz davor steht, vor Van Helsing und Seward auszuplaudern, was er über die wahre Natur des neuen Nachbarn aus Transsilvanien weiß, und dann, als sich dieser ihm per Fledermausflug zurück ins Gedächtnis ruft, mit den Beinen in ein scheinbar unkontrolliertes Zittern verfällt, das mehr von echter Panik als bloßem Chargieren hat. Eine weitere schlicht unglaubliche – und in der US-Fassung kaum denkbare – Szene ist eine kurz darauffolgende, die illustriert wie der Graf seinem unfreiwilligen Helfersheller seinen Willen aufzwingt. Wie Renfield in seiner Psychiatriezelle fehlt und bettelt, Dracula solle ihn aus seiner Gewalt entlassen, und wie der, draußen im Garten stehend, ihn einfach nur mit seinen mentalen Riesenkräften fixiert und damit seinen Verstand penetriert, das trägt schon Züge einer Vergewaltigung, und wirkt im Film heftiger als ich es mit Worten nachzeichnen könnte. Außerdem verkommt Renfield nicht wie bei Browning nach der vorzüglichen ersten Viertelstunde zu einer Randfigur, sondern bleibt unter der Regie von Melford eine Van Helsing und Harker ebenbürtige Hauptrolle. Genauso wie Draculas Hypnosetätigkeiten in DRÁCULA eine wesentlich größere Rolle spielen – so macht er auch eine Krankenschwester, die Eva betreuen soll, zu seiner Komplizin -, so erfahren wir in vorlie-gendem Film viel mehr über die Gewissensbisse, die Renfield neben denen an seinem Hals plagen, über seine Affinität für Spinnen, Fliegen und anderes Getier, das ihm in die Zelle krabbelt, und hat am Ende, wenn er durch Draculas Hand stirbt, folgerichtig viel mehr Mitleid mit dem armen Kerl, der noch kurz vor seinem Tod um sein Seelenheil bangt. Bezeichnend ist ein Versprechen, das Van Helsing ihm zuvor geleistet hat: er wird ihn, sollte er sterben, in geweihter Erde bestatten. Genau damit endet DRÁCULA dann auch: wir sehen wie Harker seine gerettete Liebste aus Carfax Abby führt und Van Helsing bleibt neben Renfields Leichnam stehen, um ihm, wie er sagt, seinen letzten Dienst zu erweisen. Melford/Kohner verpulvern die Figur, mit der sie ihren Film eröffnet haben, nicht etwa im weiteren Verlauf als Kanonenfutter, sondern halten ihr bis zuletzt die Treue, was DRÁCULA ein irgendwie tröstlicheres, humaneres Finale verleiht.

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Abb.13-15: Süße Tierchen dürfen in DRÁCULA freilich auch nicht fehlen - und tatsächlich hat man, wie man sieht, ähnliche Szenen verwendet wie die der US-Fassung. Gürteltiere haben in die spanischzüngische Version aus unerfindlichen Gründen leider keinen Zutritt bekommen, dafür dürfen wir aber eine waschechte Schiffsratte bewundern, natürlich das überlebensgroße Rieseninsekt, das einem später in Argentos DRACULA 3D wiederbegegnen wird, und das putzigste Opossum Rumäniens, das, seiner Natur gemäß, ausgesprochen putzig von einem Sarg purzelt.

In gewisser Weise könnte man das Gesagte für sämtliche Figuren durchexerzieren: Van Helsing, verkörpert durch Eduardo Arozemena, wirkt menschlicher als Van Helsing, verkörpert durch Edward Van Sloan, weil er nicht, wie dieser, den Film über wie ein Fels in der Brandung steht, sondern in einer Szene sogar beinahe den hypnotischen Kräften Draculas erliegt. Der spanische Van Helsing findet im spanischen Grafen einen ernstzunehmenden Gegner, während es bei Browning doch eher den Anschein hat, dass Dracula von Anfang an dem selbstsicheren Professor gegenüber im Nachteil steht. Der Charakter der Lucy ist weiter ausgearbeitet, vor allem was ihr Nachleben betrifft. In DRACULA verschwindet sie einfach irgendwann aus dem Film und das Publikum bleibt ratlos, was nun eigentlich aus dem Mädchen geworden ist, das es immerhin zuletzt dabei gesehen hat wie es Säuglinge aus der Wiege stibitzte, um an ihnen ihren Durst zu stillen. Anders bei DRÁCULA, wo sogar ihre Pfählung durch Van Helsing und Harker thematisiert wird. Zu sehen bekommen wir die zwar auch nicht, doch immerhin wie die beiden Männer nach geleisteter Arbeit aus dem Friedhof treten. Letztendlich ist der comic-relief-Anteil in DRÁCULA deutlich größer als in seinem US-amerikanischen Bruder, der die belustigenden Potentiale vom Pfleger Renfields und der gerne aus dem Stand heraus in Ohnmacht sinkenden Hausmagd höchstens anreißt, wohingegen Melfords Fassung sie gerne zelebriert – jedoch glücklicherweise nie in einem Maße, dass es unangenehm werden würde. Zuletzt, um meiner Lobhudelei eigenhändig einen Riegel vorzuschieben, kann man die fundamentalen Inszenierungsstile von Browning und Melford wundervoll in genau der Szene begreifen, die ich in meiner Besprechung zu DRACULA regelrecht zerrupft habe: Es handelt sich um den in der US-Fassung etwa zehn Minuten dauernden Aufenthalt in der Wohnstube der Sewards, wo zwar einiges passiert und im Prinzip alle wichtigen Charaktere auftauchen und abgehen, die aber letztlich nicht anders gefilmt ist, als habe Browning den Auftrag erhalte, ein Bühnenstück so statisch wie möglich für die Leinwand zu adaptieren. In DRÁCULA dauert die Szene, aufgrund der bereits fehlenden Drehbuchstraffung, sogar noch länger, nämlich etwa von der fünfundvierzigsten Minute bis zur einhundertdritten, d.h. knapp acht Minuten haben die Figuren mehr Zeit, sich in ausufernden Dialoge zu verlieren, das Seward-Wohnzimmer zu benutzen, um auf ihr wie auf einer Bühne herumzulaufen, und mich in einen Zustand zu versetzen, irgendwo zwischen tödlicher Langeweile und echter Leichenstarre - theoretisch zumindest, denn, wen wird das an dieser Stelle jetzt noch wundern?, trotz des immensen Zugewinns an Laufzeit hat mich die Szene in DRÁCULA nicht annähernd derart ermüdet wie dieselbe beim US-amerikanischen Bruder. Woran das gelingt? Nun, man könnte es vielleicht in der einfachen, auch für den gesamten Film anwendbaren, Formel zusammenfassen: George Melford übersetzt seinen Stoff von einem Medium in ein anderes. In einem Theaterkontext gibt es bestimmte zu beachtende Parameter, und in einem Spielfilm andere, und beide sind manchmal kongruent, manchmal nicht. Die US-Fassung scheint dieses Grundlagenwissen nicht zu kennen. Sie springt mit dem Drehbuch um, als sei es völlig egal, ob ein Publikum nun eine Leinwand vor der Nase hat oder eine Theaterbühne. Es ist vielleicht vergleichbar mit dem Übersetzen eines Textes aus einer Sprache in eine andere: Tod Brownings Fassung übersetzt Wort für Wort, grammatikalisch und syntaktisch richtig, doch meist ohne darauf zu achten, dass die Übersetzung auch in der neuen Sprache einigermaßen wohlklingt – ganz im Gegenteil zu George Melfords Fassung, die vor filmspezifischen Mitteln strotzt, und, in der oben erwähnten Szene, beispielweise ihre Schauspieler nicht nur auf der imaginären Horizontallinie zwischen Publikum und Bühne entlangwandern lässt, sondern sie auch mal nach hinten, nach vorne bewegt, und damit der Seward-Wohnstube eine räumliche Tiefe verleiht, die ihr in der englischsprachigen Version gänzlich fehlt, oder aber seine Schauspieler dazu animiert, nicht steif ihre Dialoge aufzusagen, sondern die bereits skizzierten mimischen und gestischen Details einfließen zu lassen, um den illusionistischen Eindruck, den einem ein Spielfilm normalerweise verleihen sollte, zu verstärken, oder aber solche den Bühnenraum allzu deutlich umreißenden off-screen-Beobachtungen zu streichen wie die Harkers, dass er da einen Wolf durch den Garten rennen sehe, worauf sich der Zuschauer fast automatisch fragt: wieso er den denn nun nicht auch sehen darf?

Es war einmal eine Zeit, in der viele Schätze, die es zu heben gelohnt hätte, es allein deshalb nie über die Grenze schafften, weil sie ihre Geschichten in einer Sprache erzählten, die diesseits der Grenze nicht verstanden werden wollte. Es war die Zeit, in der einige Wenige, die diese Schätze trotzdem ahnten, von ihnen reden gehört hatten, sie aus der Ferne funkeln sahen, begannen, sich Bilder von ihnen zu machen, die hatten aussehen sollen wie sie selbst. Es war die Zeit, in der diese Bilder, von weit her geschossen, die Sprache lernen mussten, die diesseits der Grenze gesprochen wurde, und, beherrschten sie sie fehlerfrei, in ihr auftraten, und zu Schätzen wurden, die man herumreichte, und die jeder berühren wollte, und die bald abgenutzt waren, stumpf, nicht mehr funkelten, während die jenseits der Grenze noch immer ihre Leuchtsignale für diejenigen herüberschickten, die wussten, in welche Windrichtung sie den Kopf zu drehen hatten.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Le quattro volte

Produktionsland: Italien 2010

Regie: Michelangelo Frammartino

Darsteller: Giuseppe Fuda, die Einwohner & Ziegen von Kalabrien

Die vier Male
Erstes Mal: Die letzten Tage eines alten Schafshirten in Kalabrien, der südlichsten Region Festlanditaliens. Sein Dorf wirkt wie ein Relikt des Mittelalters, hochgelegen auf einem Felsen, voller verwinkelter Gassen, wettergegerbter Häuser, umgeben von weiten Ebenen und tiefen Wäldern. Seine Ziegen bestimmen den Rhythmus seines Lebens. Morgens führt er sie auf die Weide, abends zurück in den Stall. Ein starker Husten hat sich in ihm eingenistet. Er spürt, dass sein Tod naht. Um ihn abzuwenden, sucht er das örtliche Gotteshaus auf. Eine alte Frau kehrt für ihn den Staub des Kirchenbodens zusammen, füllt ihn in kleine Päckchen und verkauft ihn ihm als heilsame Medizin. Jeden Abend trinkt er ein wenig davon, vermengt mit Wasser. Trotzdem stirbt er, just an dem Tag, als durch einen von einem vorwitzigen Hund verursachten Unfall ein LKW die Zäune des Ziegengeheges zum Einsturz bringt, und die Tiere ihre neugewonnene Freiheit nutzen, in das Haus ihres Hüters einzudringen und es zu erkunden, während dieser, seinen Atem aushauchend, vom Bett aus der surrealen Szenerie beiwohnt.

[Herzstück dieser Episode, und des gesamten Films, ist eine knapp achtminütige Plansequenz, die ich schon bei der ersten Sichtung sofort zu einem der größten Kino-Momente des einundzwanzigsten Jahrhunderts erklärt habe. Zu sehen ist folgendes: die Kamera befindet sich, vermutlich an einem Fenster, links oberhalb des Ziegenfreigeheges, ein Platz, den sie im weiteren Verlauf des Films noch öfter einnehmen wird. Links im Bild stehen die Ziegen, in der Mitte verläuft die Dorfstraße den Hang hinauf, rechts tun einige der felsigen, urwüchsigen Dorfhäuser das Gleiche. Ein kleiner LKW mit stotterndem Motor fährt die Straße herauf, ihm entsteigen drei Männer, die in ihren Römertrachten aussehen, als seien sie Statisten eines Sandalenfilms. (Meine erste Intuition: in LE QUATTRO VOLTE sollen die Zeitebenen miteinander verwischen, sodass Gegenwart und Vergangenheit an diesem von der Zeit nahezu vergessenen Ort parallel zueinander existieren.) Die Männer verschwinden aus unserem Blickfeld, dafür kommen von dorther, wohin sie gegangen sind, zwei Frauen in ähnlich historischer Gewandung. Ein schwarzweißer, vorlaut bellender Hund, der schon die ganze Zeit durch die Szenerie wuselt, bellt eine von ihnen solange an bis sie dem Beispiel der anderen folgt und sich verschleiert. Dann kommt eine Gruppe Jugendlicher die Straße herab. Ihnen folgt Jesus, begleitet von den drei Römern, seinen Peinigern, und dahinter ein Großteil der Dorfbevölkerung. (Meine erste Intuition ist betrogen worden: wir wohnen einer Osterprozession bei wie sie sogar in den Dörfern meiner Großeltern vor einigen Jahrzehnten noch zum festen Inventar der Karwoche gehörten.) Gemeinsam mit der zeremoniellen Masse schwenkt die Kamera nach rechts, folgt ihr über die Dorfgrenzen hinweg, zu einem fernen Berg, dessen Strommaste aussehen wie zwei hoch aufgerichtete Kreuze. Unser Hund lässt indes wenig Ehrfurcht erkennen. Erst verfolgt er eine Nachzüglerin, bei der es sich offenbar um sein Opfer von kurz zuvor handelt, dann erlaubt er sich den Spaß, einen Keil, der den Römer-LKW fixieren soll, unter einem der Vorderreifen hervorzuziehen. Der Wagen rollt rückwärts, direkt auf den Ziegenzaun zu, die Kamera aber wendet sich erneut nach rechts, sodass wir von dem Zusammenstoß bloß das Meckern und Holzbersten zu hören und erst das Ergebnis zu sehen bekommen. (Ich möchte eigentlich gar nicht wissen, wie aufwendig es gewesen ist, diese schnittlosen acht Minuten zu realisieren. Allein die Dressur des Hundes, die Synchronisierung der Kamerabewegung mit der Bewegung der Menge, die Tatsache, dass ein einziges Straucheln, ein einziges schiefgehendes Detail die gesamte Sequenz ruiniert hätte – und dass Michelangelo Frammartino nur einen einzigen Versuch hatte, da der Ziegenzaun eben nur einmal brechen kann, wenn man ihn nicht nach jedem missglückten take neuaufbauen wollte -, lassen mich schon an Wunder glauben, ganz zu schweigen davon, dass diese acht Minuten im Grunde alles haben, was man von einem guten Film erwarten darf: sie sind visuell ergreifend, geben Rätsel auf, irritieren auf angenehme Weise, sind, nicht zuletzt dank des Hundedarstellers, zuweilen außerordentlich witzig und erzäh-len zugleich eine kleine, eigene Geschichte.]

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Zweites Mal: Der alte Schafshirte wird beigesetzt. Die Kamera befindet sich in seinem Grab, als es zugemauert wird. Für einen Moment ist die Leinwand schwarz und stumm. Dann ertönt ein schrilles Schreien. Es wird von einem neugeborenen Zicklein ausgestoßen, dem wir dabei zusehen wie es seine Mutter aus ihrem Uterus presst. Voller Schleim und Blut, zuckend und zappelnd, liegt es auf dem Stallboden. Seine Mutter schaut in der Gegend herum, neigt die Schnauze, leckt ihm das Fall. Es versucht seine ersten Schritte, sein erstes Meckern. Wenn die Elterntiere auf die Weide geführt werden, bleibt es mit den übrigen Ziegenkindern im verwaisten Stall zurück. Man spielt miteinander, geht auf Erkundungstour, übt das Springen und das Kämpfen. Eines Tages darf unser Zicklein dann mit hinaus in die weite Welt. Die Herde wird durch einen Wald geführt, in dem es, wie in einem Märchen, vom Weg abkommt, den Kontakt zu den Erwachsenen verliert, sich schließlich verläuft und bei einbrechender Nacht unter einem großen Baum Zuflucht sucht. Einsam, verlassen sitzt es nun dort und ruft verzweifelt in die es umlagernden Schatten nach seiner Mutter bis der Schlaf es zudeckt. Erneut wird die Leinwand stumm und schwarz.

[Zuerst habe ich Schwierigkeiten, die einzelnen Ziegenkinder voneinander zu unterscheiden. Je länger die Episode allerdings dauert desto leichter fällt es, sie als Individuen wahrzunehmen. Ihre Hörner weisen Unterschiede auf, ihre Fellfarben, sogar ihr Gemecker. Da Menschen nunmehr überhaupt nicht stattfinden – sie sind ins Bild ragende Arme oder weit entfernte Gestalten im Hintergrund, beinahe wie Maschinen oder Götter, die es nicht anzubeten lohnt -, kann die Welt der Ziegen sich entfalten, als sei sie unabhängig von der unseren. Als würde unserer Welt ihre Unschuld zurückgegeben werden, verzaubert sie die Perspektive der Ziegen. Ein Stall ist auf einmal ein Abenteuerspielplatz. Eine leckende Mutterzunge ist auf einmal das Zärtlichste, das man sich vorstellen kann. Ein Wald wird zu einem bedrohlichen Schattenreich. Herzzerreißend ist das letzte Bild: unser Zicklein wartet zu Füßen des Baumes auf seinen sicheren Tod.]

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Drittes Mal: Die Gezeiten wechseln. Schnee fällt. Ameisen laufen über Rinde. Es wird Frühling. Unser Baum ragt stolz zum blauen Himmel hinauf. Da nahen die Dörfler, bewehrt mit Werkzeugen, ihn zu fällen. Wo eben noch seine Spitze war, ist jetzt bloß noch das Firmament. Unter lautem Rufen tragen sie seinen Stamm ins Dorf. Er wird von sämtlichen Ästen und Zweigen befreit, nur oben, auf seiner Spitze, bleibt er grün. Man schleift sein Holz glatt, schmückt seine verbliebenen Äste. Ein Volksfest soll gefeiert werden, zu dem der gesamte Ort zusammenkommt. Erneut unter lautem Rufen und feierlicher Stimmung richtet man den Baum, der nun aussieht wie eine Art Mast mit Krone, auf dem Dorfplatz auf. Ein wagemutiger Mann klettert ihn hinauf. Von einem Balkon photographiert eine Frau das Spektakel mit ihrem Smartphone. Dann, als der Spaß vorbei ist, wird er ein zweites Mal gefällt, in kleine Stückchen zerhackt und abtransportiert.

[Es ist, als seien wir spätestens jetzt ganz nahe an den Dingen. Mit Menschen, dem alten Schafshirten zum Beispiel, verbinden wir immer eine Geschichte. Wir versuchen, ein Leben in eine Form zu bringen, ob nun bewusst oder nicht, die sich erzählen lässt. Mit Tieren, dem traurigen Zicklein zum Beispiel, können wir ebenso leicht eine Geschichte verbinden. Tiere sind uns nahe genug, um so gesehen zu werden, als seien sie wie wir selbst. Dieser Baum ist eine Abstraktionsebene weiter. Trotzdem bringt Frammartino uns so nahe an ihn heran wie möglich. In Großaufnahme sehen wir die Furchen seiner Rinde. In Großaufnahme sehen wir das Schwanken seiner Nadeln im Wind. Aus weiter Ferne, in surrealistischer Kombination, sehen wir wie er hinter den Dächern der Dorfhäuser aufzuragen beginnt, immer höher wird, als würde er in Sekundenschnelle wachsen, und mit ähnlichem und doch ganz anderem Stolz den Himmel penetriert wie zuvor.]

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Viertes Mal: Der örtliche Köhler baut mit den Resten unseres Baumes einen Kohleofen. Der Platz ist umzäunt, befindet sich irgendwo außerhalb des Dorfes. Wortlos gehen Männer Arbeiten nach, die sich seit Jahrhunderten nicht geändert haben und sich noch erfolgreich dem technologischen Fortschritt versperren. Man pfercht die Baumteile, ähnlich wie in ein Grab, unter einen Hügel aus weiteren Baumstämmen. Nur oben bleibt eine Öffnung. Beständig tritt Rauch aus ihr aus, der in endlosen Fäden und Schlieren über den Tannen des nahen Walds schwimmt. Überall dampft es. Schaufeln graben Massen um, die kein Holz mehr und noch keine Kohle sind. Nach der langen Prozedur liegen die Kohlestückchen wie tiefschwarze Knochen vor der Kamera. Der Köhler fährt zurück ins Dorf, vorbei an dem ehemaligen Ziegengehege, wo jetzt ungestört das Gras wächst. Er liefert seine Ware ab. Ein Schornstein beginnt langsam zu rauchen.

[In Interviews hat Michelangelo Frammartino mehrmals auf Pythagoras verwiesen. Der lehrte in Kalabrien nicht nur Mathematik, sondern entwickelte auch die Idee einer Weltharmonie, in der alles mit allem und jedes mit jedem vernetzt ist. Eine Seele wechselt höchstens die Gestalt, nie die Essenz. Ein Körper kann vergehen, ein anderer wird bereitwillig aufnehmen, was dieser abgestoßen hat. So ist in LE QUATTRO VOLTE ebenfalls alles mit allem und jeder mit jedem vernetzt. Ein Schafshirt stirbt, wird als Zicklein wiedergeboren. Ein Zicklein stirbt, sein wesender Körper wird von einem Baum aufgesogen. Ein Baum stirbt, wird als Holzkohle verwertet, steigt als Rauch zum Himmel auf. Der Mensch ist darin lediglich Mittler, nie Akteur, ein weiteres Netz im großen Maschengeflecht des Lebens. Frammartino kommt ohne Dialoge aus, verlässt sich auf Bilder und Sounds. Glöckchenklingeln, Ziegengeschrei, Windrauschen, Insektenkonzerte, Motorenstottern. Die unfassbare Landschaft Süditaliens: Berge, Wälder, Dörfer, die allesamt so aussehen, als ob sie zum ersten Mal von einem Menschen angeschaut werden würden. Diese poetische Meditation über all die Dinge, die wir inzwischen zu übersehen gewöhnt sind, sollte nun wirklich jeder sehen, der noch daran glaubt, dass heute noch etwas zugleich witzig, rührend und wirklich spirituell erhebend sein kann.]
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Wend Kuuni

Produktionsland: Burkina Faso 1982

Regie: Gaston Kaboré

Darsteller: Serge Yanogo, Rosine Yanogo, Joseph Nikiema, Colette Kaboré, Simone Tapsoba, Yaya Wima
Burkina Faso im frühen neunzehnten Jahrhundert, viele Jahre bevor die ersten Weißen ihre Füße in das afrikanische Binnenland setzen: Ein reisender Händler findet mitten im Busch einen kleinen Jungen, der scheinbar nicht sprechen kann. Er nimmt ihn mit ins nächste Dorf, wo eine Familie sich bereiterklärt, ihn bei sich aufzunehmen bis man herausgefunden hat, wer seine Eltern sind. Allerdings verlaufen sämtliche Nachforschungen im Sande: In keiner der umliegenden Siedlungen wird ein Kind vermisst, in keiner der umliegenden Siedlungen lassen sich Hinweise darauf finden, wer der Knabe sein könnte und was dazu führte, dass er mutterseelenallein im Unterholz landete. Schließlich adoptiert die Familie, bei der sein Retter ihn abgegeben hat, den Jungen. Man nennt ihn von nun an Wend Kuuni, was in der Sprache der Mossi so viel bedeutet wie „Gottesgeschenk“, und bald schon ist er fester Bestandteil des Dorflebens. Als Ziegenhirte geht er seinem Ziehvater zur Hand, treibt jeden Morgen die blökende Schar in die Steppe hinaus, und führt sie am Abend zurück in den Stall. Vor allem zu seiner Stiefschwester Pognere, die ungefähr so alt ist wie er selbst, fasst er ein starkes Zutrauen, endlich eine tiefe Kinderfreundschaft. Letztendlich bleibt Wend Kuuni aber, wie der sich sporadisch einschaltende Erzähler aus dem Off betont, mit seinem Kummer allein. Unfähig, sich verbal zu äußern, muss er das schreckliche Geheimnis in sich verschließen, das ihn seiner Mutter beraubte und ihn von seinem Stamm trennte. Dann aber knüpft sich einer der Dorfbewohner an einem Baum auf, und da es ausgerechnet Wend Kuuni ist, der den Toten findet, hat der Suizid zumindest einen positiven Nebeneffekt: Er löst die Zunge des Jungen, der auf einmal wieder sprechen und seinen Pflegeeltern seine Geschichte erzählen kann…

Etwa siebzig Minuten dauert WEND KUUNI, der erste Spielfilm von Gaston Kaboré, einem Filmemacher, dessen Bedeutung man für das Kino seines Heimatlandes Burkina Faso wohl gar nicht hoch genug einschätzen kann, und in diesen knapp siebzig Minuten geschieht tatsächlich nicht viel mehr als das, was ich oben gemessen am Inhalt schon recht ausführlich beschrieben habe. Kaboré, der zwar an der Sorbonne studierte, dann aber, sowohl in seinen eigenen künstlerischen Arbeiten als auch in seinen Lehrtätigkeiten, vor allem den Ansatz verfolgte, für ein afrikanisches Kino nicht einfach nur Muster des westlichen Spielfilms zu reproduzieren, sondern eine Kinematographie zu schaffen, die dezidiert auf ein genuin afrikanisches Publikum zugeschnitten ist, liefert im Prinzip genau das nicht, was eine Hollywood-Produktion aus dem gleichen, WEND KUUNI zugrundeliegenden Drehbuch gemacht hätte. In diesem Film gibt es weder eine besondere Spannung noch irgendwelche Schauwerte, nicht einmal, für westliches Empfinden, eine sonderlich ausgefeilte Dramaturgie. Stattdessen ergeht WEND KUNNI, dessen Handlung im Übrigen auf mehreren lokalen Volkserzählungen beruht, die Kaboré miteinander verknüpft hat, sich über weite Strecken seiner Laufzeit in alltäglichsten Szenerien, die vor allem einen Eindruck vom Leben innerhalb des kleinen Dorfs vermitteln, in dem sein Held aufwächst. Zahllos sind die Szenen, in denen zum Beispiel Wend Kuunis Ziehvater einem anderen Dorfbewohner begegnet, man schüttelt sich die Hände, tauscht small talk aus, geht schließlich wieder seiner Wege, ohne dass das konkret etwas zur eigentlichen Geschichte beitragen würde. Ebenso zahllos – und herzallerliebst, zumal WEND KUNNI damit nach Michelangelo Frammartinos I QUATTRO VOLTE wohl der Spielfilm mit den meisten Ziegenszenen sein dürfte, den ich jemals sehen durfte – sind die fast schon meditativen Aufnahmen, die unseren Helden dabei zeigen wie er die ihm anver-traute Ziegenherde durchs Unterholz manövriert. Überhaupt ist der Stil, dessen Kaboré sich für sein Debut bedient, so unaufgeregt wie nur möglich: Seine Kamera erfreut sich an den schlichtesten Dingen wie zum Beispiel einem bestimmten Einfall von Sonnenlicht durch das Geäst eines Baumes hindurch oder banal klingenden Szenen wie die, in denen Pognere sich immer wieder zu Wend Kuuni auf die Weide stiehlt, um mit ihrem Stiefbruder Zeit verbringen zu können.

Nur ganz selten schlägt dieser stille, bescheidene Film etwas höhere Wellen, und interessanterweise bespritzen diese dann oftmals Fragen zur Beziehung der Geschlechter untereinander. In der wohl wildesten – und witzigsten – Szene des Films bricht auf dem Dorfplatz ein Streit aus zwischen einer jungen Frau, die wohl einem älteren Mann hatte verheiratet werden sollen, und ihrem Gatten in spe, der sich von ihr Vorwürfe gefallen lassen muss, er sei ein impotenter Greis, was ihn natürlich seinerseits auf die Palme bringt. Obwohl dieser Konflikt singulär in den meist dialoglosen, langen Einstellungen des Films steht und Kaboré später nicht mehr auf ihn zurückkommen wird, scheint es doch so zu sein, als ob die widerwillige Braut es mit ihren Anschuldigungen fertiggebracht hat, der unliebsame Ehe zu entgehen, und als ob der Verhöhnte dies zähneknirschend akzeptieren muss. Später sind es Pognere und Wend Kuuni, die aus ihrer unschuldigen Kinderperspektive heraus über die Verfasstheit der beiden Geschlechter und deren gesellschaftlichen Rollen reflektieren. Pognere fragt ihren Freund, ob er daran glaube, dass es Geister gäbe, die ein Mädchen wie sie in einen Jungen wie ihn verwandeln könne. Er bestätigt das, denn, sagt er, Geister seien mächtig, nur, fragt er, weshalb wolle sie denn kein Mädchen mehr sein? Pogneres Antwort ist so einfach wie bestechend: Damit ich den ganzen Tag mit Dir bei den Ziegen verbringen kann, und mich nicht um den Haushalt kümmern muss. Solche Szenen weisen nachdrücklich darauf hin, dass Kaboré es nicht nur daran gelegen war, den Bestand oral tradierter Erzählungen seiner Kultur zu verwalten und in bewegte Bilder zu übersetzen, sondern dass er wohl ebenfalls Gegenwart und Zukunft seines Heimatlandes im Blick hatte, als er WEND KUNNI konzipiert hat. Hierfür spricht ebenfalls, was Wend Kuuni uns schließlich über seine Herkunft enthüllt: Seine Mutter sei, nach dem Verschwinden des Vaters, der eines Tages einfach nicht aus dem Busch zurückkehrte, von ihrem Dorf aus völlig irrationalen Motiven heraus für eine Hexe gehalten worden. Mit Steinen und Beschimpfungen habe man sie zusammen mit Wend Kuuni selbst aus der Siedlung heraus in die Wildnis gejagt, wo sie dann entkräftet gestorben sei. Für jemanden wie mich, der nun schon einige Trash-Horrorfilme aus Nigeria und Ghana gesehen hat, wie zum Beispiel END OF THE WICKED oder WITCHES, weckt das natürlich mehr unangenehme als angenehme Erinnerungen, sind doch gerade beide oben genannten Filme zwar einerseits billiger, kurzweiliger, mitunter heftig surrealer Horror-Trash, andererseits aber zugleich Ausgeburten eines streng ausgelegten Christentums, das in besagten Ländern, gefördert von fanatischen Predigern wie Helen Ukpabio, oft genug dazu führt, dass Eltern ihre Kinder, in denen sie Hexen und Hexer zu erkennen glauben, verstoßen oder töten. Die Tragik in Wend Kuunis Biographie, dem der Aberglaube die Mutter genommen hat, könnte man somit auch als Kommentar Kaborés zu zeitgenössischen religiösen Entwicklungen in Westafrika lesen.

Alles in allem ist WEND KUUNI aber kein Film mit allzu lauten gesellschaftlichen oder politischen Obertönen, sondern vielmehr ein derart leiser Film, dass man sich zuweilen richtig anstrengen muss, ihn überhaupt flüstern hören zu können. Ohne zu idealisieren, ohne zu dramatisieren, mit einem Naturalismus, der die Schönheit der Welt in ihrer ganzen Schlichtheit vorführt, erzählt er eine Art coming-of-age-Geschichte von Sprachverlust und Sprachgewinn, von unschuldiger Geschwisterliebe, von Liebe und Hass in einem Umfeld, dessen Banalität zu einem Reichtum an alltäglichen Details führt, von denen jedes wichtig ist, und keins überflüssig. Man muss sich auf die langsame Bildsprache Kaborés einlassen, die jede einzelne Silbe betont, doch tut man das, wird man belohnt mit einem wundervollen, kleinen Film mit einem wundervollen Soundtrack und voller wundervoller, kleiner Ziegen.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Drakula Istanbul'da

Herstellungsland: Türkei 1953

Regie: Mehmet Muhtar

Darsteller: Annie Ball, Cahit Irgat, Ayfer Feray, Bülent Oran, Atif Kaptan, Kemal Emin Bara, Kadri Ögelman, Münir Ceyhan,Osman Alyanak, Eser Tezcan
Wer des allerersten Auftritts der mittlerweile zum Genrestandardrepertoire gehörenden und obligatorischen Vampireckzähne im Munde des Grafen Dracula ansichtig werden möchte, der sollte allein aus diesem Grund seinen Weg zu dem türkischen Schocker DRAKULA ISTANBUL'DA aus dem Jahre 1953 finden. Der dichtet mit den exorbitanten Mundwerkzeugen dem blutsaugenden Aristokraten nämlich, immerhin fünf Jahre vor Hammers Fassung der Geschichte, etwas an, das bis heute nahezu unzertrennlich mit seiner optischen Erscheinungsform verbunden ist. Max Schreck in Murnaus Bootleg-Version NOSFERATU – der ja, wenn man penibel sein will, lediglich eine an Stokers Grafen angelehnte Figur und nicht dieser Graf selbst ist, zumal er auf den Namen Orlok und eben nicht Dracula hört – trug, neben einem an sich schon schaurigen Habitus wie Hyänenohren, klauenartigen Fingernägeln und dem ausgezehrten Gesicht des leibhaftigen Todes, seine Beißer, wie man sich erinnert, vorne im Mundraum, wo sie wie zwei Pfähle unter der Lippe hervorragten, während Bela Lugosi bzw. Carlos Villarías in der englischsprachigen respektive spanischsprachigen Fassung von Universals DRACULA, soweit die US-amerikanischen Zensoren blicken ließen, im Innern ihrer Münder genauso ausgestattet waren wie jeder normale Sterbliche.

Demnach hat DRAKULA ISTANBUL'DA, selbst wenn es sonst ein schlechter, vernachlässigbarer Film wäre, auf jeden Fall eine historische Bedeutung, da er dem in den Jahrzehnten zuvor eher betucht und stiefmütterlich behandelten Vampirmotiv mit der Betonung der phallischen Behelfsmittel zur Blutabzapfung die sexuellen Untertönen zurückerstattet, von denen es in Stokers Romanvorlage nur so wimmelt, und, wenn auch in verschlüsselter Form, zum ersten Mal den erigierten Penis des Grafen in den Fokus der Darstellung rückt. Genau damit, nämlich einer Szene, die den phallussymbolischen Aspekt von Draculas Mundraum (über-)betont, beginnt DRAKULA ISTANBUL’DA: dann auch Noch ist das Bild unscharf und nur mit Mühe können wir erkennen, dass es wohl die Augen des Grafen selbst sind, die direkt in die Kamera starren. Erst als diese zu einem langsamen Zoom zurück ansetzt, klärt sich die Verschwommenheit des Bildausschnitts, und enthüllt, dass wir richtig lagen: Dracula, gespielt vom seinerzeit vielbeschäftigten und eine Filmographie von weit über zweihundert Titeln aufweisenden Mimen Atif Kaptan, steht mit starrem Körper und starrem Blick, angetan in einem sichtlich von der 1931er Universal-Version inspirierten Umhang und stilecht mit Fliege am Kragen, vor neutralem Hintergrund und scheint sein nächstes Opfer, nämlich uns, anzupeilen. Links und rechts strecken dabei seine Fangzähne ihre Spitzen zwischen seinen Lippen hervor, viel zu lang, als dass er sie unter ihnen verstecken könnte.

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Abb.1&2: Genese eines Beißwerkzeugs. Beim ersten Exemplar der Gattung Nosferatu sind die dentalen Phalli im Schneidezahnbereich enganliegend angeordnet, und unterstreichen damit die animalische Natur des Untiers, entbinden es aber auch zugleich jedweder erotischen Implikation. Beim zweiten Exemplar der Gattung Dracula sind diese Implikationen kaum zu übersehen: Seine Dentalphalli liegen, da im Eckzahnbereich verortet, weit genug auseinander für einen leidenschaftlichen Liebesbiss.

Was der nun folgende Vorspann ebenfalls enthüllt, ist, dass das Drehbuch von DRAKULA ISTANBUL’DA trotz seines Titels und, wie wir sehen werden, trotz des Umstands, dass er sich treuer an Stokers Roman hält als seine beiden Vorgängen, NOSFERATU und Universals DRACULA, zusammengenommen, gar nicht auf demselben basiert. Stattdessen wird ein erstmals 1928 publizierter Roman namens KAZIKLI VOYVODA, verfasst von einem gewissen Ali Riza Seyfi, als Vorlage genannt. Natürlich sind aber die Kongruenzen zu Stokers Geschichte nicht zufällig: Ähnlich wie die deutsche Prana Film in den frühen 20ern sich nicht darum bekümmerte, ganz legal von Stokers Witwe die Rechte an DRACULA zu erwerben, verfuhr man in der Türkei etwa zur gleichen Zeit, als man nicht etwa einfach Stokers Roman vom Englischen in die eigene Landessprache übersetzte, sondern ihn von besagtem Herrn Seyfi einfach noch einmal neu schreiben ließ: scheinbar ohne die Geschichte selbst sie in ihrem Kern erschütternden Modifikationen zu unterwerfen, dafür aber mit wesentlich deutlicherem Bezug darauf, dass Dracula identisch sein soll mit dem vor allem als Türkenschlächter bekannten Woiwoden und Walacheifürsten Vlad Tepes III., und, daraus resultierend, einer gehörigen Portion Nationalismus zur Stärkung der jungen türkischen Republik.

Diese Identifizierung Draculas als untoter Machtpolitiker des fünfzehnten Jahrhunderts, die in vorliegendem Film allerdings zur Nebensache gerät, stellt neben der Haupthandlungsverlagerung von London nach Istanbul tatsächlich die einzige nennenswerte Änderung gegenüber der Stoker’schen Vorlage dar. Freilich, auch DRAKULA ISTANBUL’DA übernimmt zwei im Roman essentielle Figuren nicht auf die Leinwand – in diesem Fall sind es Dr. Seward und Renfield -, andererseits handelt er ansonsten die wichtigsten Stationen des zugrundeliegenden Textes mit einer Sorgfalt und Buchstabentreue ab, die den meisten übrigen Verfilmungen abgeht, und findet zudem zumindest für Renfield in gewisser Weise einen Ersatz in einem buckligen Diener Draculas, dem man sichtbar einen falschen Bart und eine falsche Nase ins Gesicht geklebt hat, und der einen heroischen Märtyrertod sterben darf, als er versucht, Jonathan Harker mittels Knoblauch vor dem todbringenden Gebiss seines Brotherrn zu bewahren. Ansonsten ist das gesamte Ensemble Bram Stokers vertreten, wenn auch natürlich unter anderen Namen: Jonathan Harker heißt Azim, seine Liebste nicht Mina, sondern Güzin. Aus Lucy wurde Sadan, ihr Verlobter Arthur nennt sich Azmi, und Vampirjäger Van Helsing hört auf den Namen Doktor Naci Eren. Sonstige Eingriffe in den Stoff sind ausschließlich kultureller Natur: Dass in einem muslimischen Land gegen Vampire Kruzifixe kein bisschen helfen, ist logisch und kein Manko, da unsere Helden stets die Taschen voll mit Knoblauchzehen und dem einen oder anderen islamischen Talisman haben, der den Grafen genauso wirkungsvoll in die Flucht schlägt wie es die Kreuzchen in Tod Brownings Fassung getan haben. (Interessanterweise wird Dracula aber trotzdem als Spross einer dezidiert christlichen Kultur markiert, wenn Azin zu Beginn im obligatorischen rumänischen Gasthof absteigt, und sich die dortigen Damen sofort bei der Nennung des Namens Dracula mit den typischen Kreuzeszeichen gegen ihn versichern.) Dass schließlich Güzin nicht, wie Mina, festgelegt ist auf die Rolle des hilflosen Opfers, und hauptberuflich einer Tätigkeit als Nachtclubtänzerin nachgeht – gleich dreimal darf sie in den sogenannten Istanbul Night Follies Hüfte und Bauch schwingen lassen -, mag einerseits dem Geschmack eines türkischen Publikums geschuldet sein, für das ein ernstzunehmender Film über wenigstens eine Grundportion an Tanz und Gesang verfügen muss, andererseits führt das dazu, dass Güzin weitaus selbstbestimmter und selbstbewusster auftritt als es ihre Vorgängerinnen – Greta Schröder in NOSFERATU, Helen Chandler in der englischsprachigen Fassung und sogar die vergleichsweise Sexbombe Lupita Tovar in der spanischsprachigen Fassung von DRACULA – wohl auch nur zu träumen gewagt hätten. In einer Szene, als die Männer zusammensitzen und darüber beratschlagen, wie sie dem blutlüsternen Grafen den Garaus machen werden, zieht sich Güzin als formvollendetes Beispiel einer gelungenen Emanzipation aus der Affäre. Sie könne nicht an der Pfählung teilnehmen, sagt sie, denn sie müsse doch gleich bei einer karikativen Veranstaltung vom Roten Kreuz tanzen – ein Argument, das jedem der Anwesenden derart stichhaltig erscheint, dass niemand wagt, daran zu rühren.

Strukturell kann man DRAKULA ISTANBUL’DA, meiner Meinung nach, in drei Abschnitte unterteilen: Im ersten Teil schildert der Film, ausführlicher noch als NOSFERATU und der 31er DRACULA, Azmis Ankunft im gräflichen Schloss, wo er eigentlich seiner Anwaltstätigkeit hatte nachgehen sollen, sich aber alsbald als Gefangener wiederfindet, dem Tag wie Nacht Tür und Tor verriegelt sind. Etwa fünfunddreißig Minuten hat der Film Zeit, um zwei Dinge unter Beweis zu stellen: Erstens, dass er von seinen Produktionsstandards und seiner sorgfältigen Inszenierung her meilenweit entfernt ist von den üblichen Verdächtigen des türkischen Kultkinos, d.h. solchem haarsträubenden Trash wie YILMAYAN SEYTAN oder dem berühmt-berüchtigten STAR-WARS-Rip-off DÜNYAYI KURTARAN ADAM, und es versteht, aus einem minimalen Budget einen maximalen Effekt heraus zu kitzeln, und zweitens, dass es eine Kopie von Murnaus NOSFERATU nicht nur in die Archive der Universal Studios, sondern letztlich bis nach Istanbul geschafft haben muss. Generell lässt sich der Transsilvanien-Teil vorliegenden Films als Liebeserklärung ans stumme Kino verstehen. Expressionistisch ist zum Beispiel die scharfkantige Beleuchtung, mit der im Schloss des Saugers Licht und Schatten voneinander geschieden werden, sodass die sowieso schon recht anschaulichen Studiokulissen, für die man sogar solche Dinge wie eine echte Ritterrüstung hat auftreiben können, vom vorzüglichen Chiaroscuro noch ein bisschen zusätzlich geschmückt werden. Einige Kamerafahrten und Zooms auf Gesichter, die wohl nicht zufällig an die Karl Freunds in DRACULA erinnern, jedoch wesentlich zahlreicher sind als im US-amerikanischen Vorläufer, bewahren den Film ebenso wie manche ausgesprochen hübsche Bildkomposition davor, in eine Statik zu verfallen wie sie bei der Lugosi-Fassung für mich fast schon zu so etwas wie einer kinematographischen Gesamtlähmung geführt hat. Nicht zuletzt kann ich gar nicht anders als den Verantwortlichen von DRAKULA ISTANBUL’DA für ihre mitunter simplen, aber nahezu genialen Einfälle zu applaudieren: So soll man, da keine Nebelmaschine zur Hand war, die zum Beispiel das gräfliche Schloss oder den istanbul’schen Friedhof schwadenweise hätte einlullen können, einfach eine Gruppe Techniker zusammengetrommelt und sie außerhalb des Bild-kaders zahllose Zigarren paffen gelassen haben, was ihnen vielleicht nicht ihre Lungen dankten, aber wohl die unheimliche Stimmung, die damit den fraglichen Szenen mit den wohlgemerkt allerbescheidensten Mitteln beschert wird.

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Abb.3&4: Eine der eher surrealen Szenen des Films. Azim wird nicht etwa mit einer Kutsche zu dem Pass gebracht, wo ihn Dracula abzuholen versprochen hat, sondern mit dem, wie es heißt, einzigen Auto des Dorfes. Schon hier treffen demnach romantisierte Vergangenheit und technologisierte Moderne in einer Weise aufeinander, die später noch mit dem Gegensatzpaar rumänisches Hinterland vs. pulsierendes nächtliches Istanbul bis zum Exzess durchexerziert werden wird. Wie man außerdem sieht: Dracula ist sein eigener Kutscher, ganz genau wie sowohl in NOSFERATU als auch in der Universal-Fassung, und wird von Azim später, ganz genau wie zumindest in der englischsprachigen Universal-Fassung, trotzdem nicht wiedererkannt werden.

Dass Regisseur Mehmet Muhtar die US-amerikanische Fassung von DRACULA gekannt hat, dürfte spätestens dann klar sein, wenn Atif Kaptan den zitierfähigsten Satz Bela Lugosis, nämlich den von den Kindern der Nacht, die so wunderschöne Musik machen würden, eins zu eins auf Türkisch wiederholt. Zwei Szenen zeigen mir jedoch, dass ihm ebenfalls NOSFERATU zu Augen gekommen sein muss: Wenn es etwas gibt, das NOSFERATU für mich in seinen Grundfesten konstituiert, dann sind das die inflationären Schreib- und Leseszenen, die seine Handlung ständig begleiten, kommentieren, letztlich vorantreiben. Schon in Stokers Roman ist das nicht anders, handelt es sich bei dem doch um eine reine Dokumentensammlung, bestehend aus Tagebuchnotizen, transkribierten Tonbandaufnahmen, Briefen etc. Während NOSFERATU dieses Konzept ziemlich genial aufs Kino übertragen hat – Murnau präsentiert seine gesamte Handlung als Bestandteil einer Chronik aus dem neunzehnten Jahrhundert, in die dann ebenfalls scheinbar authentische Dokumente wie Hutters Briefe an Ellen oder das Logbuch des Pestschiffes Empusa eingelassen sind -, operiert Universals DRACULA überhaupt nicht mit irgendwelchen schriftlichen Texten – wenn man einmal von der allerersten Dialogszene absieht, in der die Nichte von Produzent Laemmle aus einem Reiseführer voller Phrasen vorliest, und damit das geschriebene Wort sozusagen gleich in die Ecke des absolut Überflüssigen schiebt.

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Abb.5&6: Die gleiche Szene, anderer Winkel: Hutter bzw. Azmi nimmt sich vor, seinen unheimlichen Gastgeber zu enttarnen - und bereut es bitterlich. Der einzige nennenswerte Unterschied besteht in der Reaktion des Grafen auf die mittägliche Ruhestörung: Während Max Schrecks Orlok totensteif in seinem Sarg liegenbleibt und keinerlei Anzeichen von Leben zeigt, öffnet Atif Kaptans Dracula sogar die Augen, um seinen Gast wider Willen teuflisch anzugrinsen.

DRAKULA ISTANBUL’DA birgt nun aber eine Szene, die unmissverständlich mit einer in NOSFERATU korrespondiert, und von der in Universals DRACULA keine Spur zu sehen ist. Als Hutter im rumänischen Hinterland in einem Gasthof absteigt und nicht auf die Warnungen der Einheimischen hören will, ja nicht zum Borgo-Pass weiterzureisen, legen die ihm ein Büchlein auf den Nachttisch, das ihn, hoffen sie wohl, von seinen weiteren Reiseplänen abhalten wird. Es heißt: Von Vampiren, erschröcklichen Geistern, Zaubereyen und den sieben Todsünden, und klärt seine Leser über alles auf, was sie wissen müssen, um eine schlaflose Nacht verbringen zu können: dass Nosferatu aus dem Samen Belials entsprungen sei, dass das so genannte Untier sich von Menschenblut ernähre, dass es sich am wohlsten in Särgen voller Pesterde fühle usw. Hutter beeindruckt das alles kein Stück. Abends gähnt er über den blöden Aberglauben, am nächsten Morgen, als ihm das Buch nochmals in die Hände fällt, lacht er herzhaft darüber und wirft es in die Ecke. Azmi in DRAKULA ISTANBUL’DA hat ein ähnliche Begegnung mit einem ihm warnenden Text, allerdings zu einem Zeitpunkt, als ihm die Warnung nicht mal mehr halb so viel nutzt wie dem sturen Hutter. Er ist bereits in Draculas Schloss gefangengesetzt, hatte Zusammenkünfte mit dessen Braut und dessen Diener, und wittert mehr als stark, dass etwas mit seinem Gastgeber nicht ganz richtig ist. Dabei stößt er in der Bibliothek auf ein Buch mit dem Titel Batil Mitaklar, was übersetzt wohl so viel heißt wie Abergläubische Rituale. Rauchend und in ihm blätternd berichtet ihm seine Lektüre nicht nur davon, dass es im Schloss des Grafen Dracula spuken soll, dass Dracula angeblich so stark sei wie zwanzig Männer und einen Metamorphosen-Mantel in seinem Besitz habe, der ihn in alles und nichts verwandeln könne, sondern verweist vor allem deutlich auf die Raubtierzähne des Blutsaugers, die regelrecht in Erregung versetzt werden würden, wenn sich ihnen eine schmackhafte Aorta nahe – so, als ob DRAKULA ISTANBUL’DA das Novum, das er in die Filmgeschichte einbringt, damit noch zusätzlich unterstreichen wolle. Obwohl man sich natürlich fragen kann, weshalb Dracula ein ihn diskreditierendes Buch in seiner Privatbibliothek herumliegen hat, wo es sein sowieso schon misstrauischer Gast dann auch noch leicht finden und studieren kann, stellt diese Szene nichtsdestotrotz ein Bindeglied zur ähnlich gelagerten in NOSFERATU dar, das sich ziemlich klug mit den dortigen Leseszenen auseinandersetzt, sie einerseits kommentiert und andererseits ebenso klug in die eigene Handlung integriert. Die zweite Szene, für die Mehmet Muhtar seine Inspiration eigentlich nur aus NOSFERATU gezogen haben kann, knüpft nahtlos an diese an. Azmi, der seinem literarischen Zufallsfund mehr traut als Hutter dreißig Jahre zuvor, zieht los in die Grabkammern des Schlosses, um zu schauen, ob sein Gastgeber nicht etwa doch, wie es das Buch behauptet, dort schlafe – und findet ihn natürlich im Sarg liegen und komplett immun gegen die Schläge, die er ihm mit einer Schaufel versetzt. Das Scheusal lässt die Hiebe nicht nur an sich abblitzen, sondern wendet ihm zudem das Gesicht mit einem hämischen Grinsen zu, das, natürlich, erneut seine Fangzähne entblößt, worauf Azmi in Panik flieht und in noch größerer Panik den Einbruch der Nacht erwartet. In solchen Momenten kommt DRAKULA ISTANBUL’DA zwar, meinem Empfinden nach, niemals heran an die Schreckensbilder, mit denen Murnau mir noch immer den Schlaf rauben kann, steht jedoch weit über dem vergleichsweise plüschigen Charme von Tod Brownings Fassung und kann gleichzeitig locker mit George Melfords in spanischer Zunge gedrehter Version mithalten.

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Abb.7-10: Dass ein Blick in die Bücher manchmal Leben retten kann, beweisen diese beiden Szenen aus DRAKULA ISTANBUL'DA und NOSFERATU: Noch hat Hutter gut lachen über das Geschenk seines um ihn besorgten Gastwirtes, während Azim schon längst im Netz Draculas sitzt, als ihn ein Zufallsfund in dessen Bibliothek über die wahre Natur seines Arbeitgebers belehrt.

Nach dem, wie erwähnt, recht ausführlichen Transsilvanien-Teil wechselt DRAKULA ISTANBUL’DA, allerdings ohne zwischengeschaltete Schiffsreise, in die titelgebende türkische Hauptstadt, wo Muhtar uns mit der ersten Tanzszene, die ebenfalls ausführlicher ist als es die Handlung gebraucht hätte, einen kleinen Zivilisationsschock bereitet. Es sind Welten, die des Grafen düsteres Domizil in den Karpaten und das lichterbunte, feierfreudige Nachtleben am Bosporus trennen, und auf die DRAKULA ISTANBUL’DA scheinbar nachdrücklicher hinweisen will, wenn er von nun an weitgehend auf das gotische Gruseln seiner ersten Hälfte verzichtet und seinen Film echtes Großstadtflair atmen lässt. Das Problem, das meinem Sehvergnügen bei Universals DRACULA eine ganze Herde Ziegenbeine stellte, kann man auch in vorliegender Fassung finden: So wie sein US-amerikanisches Vorbild tendiert DRAKULA ISTANBUL’DA dazu, sobald man Rumänien verlassen hat, etwas Theaterhaft-Steifes zu bekommen, zu erstarren in langweiligen Formalitäten und langen Dialogszenen, die im Grunde einzig aus Großaufnahmen sprechender Köpfe bestehen. Das erreicht zwar nie die Ausmaße vom 1931er DRACULA, dessen Bühnenherkunft man in den meisten London-Szenen ja richtig unter die Nase gerieben bekommt, jedoch schleicht sich doch die eine oder andere Länge ein, die Muhtar nicht immer mit prachtvollen Bildern, sich überstürzenden Ereignissen, doch recht freizügigen Tanzszenen oder völlig abstrusen Einfällen wettmachen kann wie dem, Graf Dracula in einer kurzen Einstellung als mannhohes Fledermausungeheuer zu zeigen, das sich über Güzin beugt, um ihr den Lebenssaft abzuzapfen. Doch was mir auch in diesem Abschnitt gefallen hat, das ist die unglaubliche Ruhe, die der Film ausstrahlt. Regisseur Muhtar lag offenbar nichts ferner als einen actionreichen, hektischen Horrorfilm abzuliefern. Stattdessen begnügen sich viele Szenen darin, einfach nur Atmosphäre zu schaffen. Dient es der Story, dann gehen unsere Helden auch dreimal zu Sadans Grab bis sie sie endlich per Knoblauch in den Mund, Pfahl ins Herz und Kopfabschneiden – natürlich alles off-screen, aber trotzdem drastisch genug angedeutet für einen Film von 1953 – von ihrem Kindsmörderinnendasein erlösen. Was jedoch definitiv keine Stärke von DRAKULA ISTANBUL’DA ist, dann, dass der Film völlig darin scheitert, seine Schauspieler der jeweiligen Situation angemessene Emotionen ausdrücken zu lassen. Die Tatsache, dass sämtliche Protagonisten keine Gefühle an den Tag zu legen scheinen, die über neugieriges Interesse hinausgingen, sodass selbst ein Mann, der eben erfahren hat, dass seine verstorbene Verlobte in Wahrheit als Kinderfresserin die dem Friedhof nahen Dörfer auf Suche nach Säuglingen plündert, dies nicht gravierender zur Kenntnis nimmt als hätte man ihm offenbart, dass ihm ein Knopf am Jackett fehlt, dürfte manchen heutigen Betrachter sicherlich nicht wenig belustigen.

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Abb.11&12: "Die Kinder der Nacht, was für hübsche Geräusche sie machen!" Nur eben übersetzt auf Türkisch. Auch die zweite Szene ist jedem sattsam bekannt, der schon mehr als eine DRACULA-Verfilmung gesehen hat. Interessant: wo Graf Orlok es hinreißt und er tatsächlich Hutters blutenden Finger ins Maul nimmt, und wo Bela Lugosi und Carlos Villarías von einem zufällig aus Renfields Hemd rutschendem Kruzifix auf Abstand gehalten werden, da meistert Atif Kaptan seine Blutgier allein mit Selbstbeherrschung. Kurz sieht es aus, als würde er sich über seinen Gast werfen, dann verschwindet die Raubtierfratze wieder aus seinem Gesicht.

Über diese Durststrecke im Mittelbau des Films tröstet das Finale indes mühelos hinweg. Dracula hat es fertiggebracht, sich Güzin hörig zu machen, die wiederum, obwohl die sie umgebenden Mannsbilder von der ihr drohenden Gefahr wissen, trotzdem jeden ihrer Tanzauftritte absolviert, und die Arbeit bzw. das Amüsement des Publikums über ihre eigene Sicher-heit stellt. Der Graf, der im Übrigen, ganz anders als Bela Lugosi, niemals mit seinen Opfern auf der gesellschaftlichen Bühne in Kontakt tritt, sondern sich stets, wie Graf Orlok, raubtierhaft im Verborgenen hält, und sich nur zeigt, wenn ihn der Durst an die Kehle von Güzin oder Sadan treibt, verschafft sich mit einem profanen Fausthieb ins Gesicht des Theaterhausmeisters Zutritt zu Güzins Arbeitsplatz. Indem er unsere Heldin mit angestrengtem Blick hypnotisiert, veranlasst er sie dazu, während er selbst im ansonsten leeren Auditorium Platz nimmt, ihm eine kleine Privatdarbietung ihrer Tanzkünste zu geben. Güzin räkelt sich lasziv auf der Bühne, der Graf schaut ihr wie ein geiler Bock dabei zu, und ein Klavier, dessen Tasten sich von selbst bewegen, spielt dazu einen schwelgerischen Walzer, (obwohl von den übrigen Instrumenten, die wir hören, freilich nichts zu sehen ist.) An dieser Szene ist mehreres großartig: Zunächst natürlich wie es der Film schafft, seine bisher für westliche Augen irgendwie deplatzierten Tanzeinlagen zuletzt doch sinnvoll mit der Handlung zu verknüpfen. Es entbehrt durchaus nicht einer gewissen Logik, dass Dracula, wo er Güzin nun endlich vor seiner Flinte hat und bloß noch zuschlagen muss, wie eine Schlange erstmal noch mit seinem Opfer spielt bevor er ihm ans Hälschen geht – und Spielen, das bedeutet in dem Zusammenhang eben, dass Güzin sich in die eine Ekstase tanzen soll bis der Graf sie mit seinem Biss in die nächste versetzt. Das wäre intradiegetisches Lob, und extradiegetisch schreit mir diese Szene ihr Meta dermaßen ins Gesicht, dass ich gar nicht anders kann als glauben, DRAKULE ISTANBUL’DA solle in seinem Finale für den Zuschauer fast schon so etwas wie einen Illusionsbruch bzw. das Durchstoßen der berühmten vierten Wand bedeuten. Dracula und Güzin befinden sich erstens in einer klar als solchen erkennbaren Theaterkulissen, die aber, treten wir einen Schritt weiter zurück, selbst innerhalb einer Studiokulisse errichtet worden ist, der Graf ist zweitens Marionettenspieler und Zuschauer in einem, steht demnach mit einem Bein in der Handlung, von der er ein Teil ist, und mit dem andern an unserer Stelle, die wir, wie er, Güzin bei ihrem Tänzchen zugucken, und drittens irritiert auf angenehme Weise die Diskrepanz zwischen Bild- und Tonspur, die einfach nicht zusammenpassen wollen, wenn zwar ein Piano, gelenkt von unsichtbarer Hand, zum Tanz aufspielt, aus dem Off aber ein ganzes Orchester ertönt. Ob nun wirklich beabsichtigt oder nur von mir dort hineininterpretiert: seine überaus intelligente Schlusspointe rückt DRAKULA ISTAN-BUL’DA fort von den meisten mir bekannten sonstigen Dracula-Verfilmungen und bereichert ihn um eine postmoderne Komponente, die ihn prädestiniert für die Seziertische ganzer Generationen von Geisteswissenschaftlern.

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Abb.13&14: Einmal eine wirklich wunderhübsche Bildkomposition, die in keinem impressionistischem Stummfilm von, sagen wir, Jean Epstein oder Germaine Dulac am falschen Platz wäre, und einmal einen - leider aufgrund der mangelhaften Bildqualität nur zu erahnenden - Einfall aus der Trash-Kiste der Genialität: Graf Dracula als überlebensgroßes Fledermausmonstrum, das wiederum kein Z-Movie-Regisseur der 50er wie, sagen wir, Ed Wood oder Jerry Warren von der Bettkante gestoßen hätte.

Sicher, was Schnitt, Kameraarbeit, Schauspielerführung, Dialogregie, Spezialeffekte etc. betrifft, liegt der Film weit hinter dem zurück, was das europäische oder amerikanische Kino Anfang der 50er bereits spielerisch aufbot. Ist man allerdings bereit, auch nur ein wenig über den eigenen Horizont hinauszublicken und sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass oftmals die Filme, die "perfekt" in dem Sinne sind, dass in ihnen "alles stimmt", gerade durch ihre glatte Oberfläche die Ecken und Kanten einbüßen, die sie über das Gros herausheben, bietet DRAKULA ISTANBUL'DA überaus nette Unterhaltungskost, die, vor allem wenn man mit der Originalgeschichte sattsam vertraut ist, interessante neue Blicke auf den zugrundeliegenden Roman von Bram Stoker wirft. Es wird einen Aufschrei generieren, aber ich persönlich würde DRAKULA ISTANBUL’DA sogar jederzeit Tod Brownings 1931er Verfilmung sowie Terence Fishers Hammer-Fassung von 1958 den Vorzug geben, mit George Melfords spanischsprachiger Variante für die Universal liegt er zumindest etwa gleich auf, - und nur Murnaus NOSFERATU bleibt einsam auf seinem Thron sitzen.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: La Frontière de l'aube

Produktionsland: Frankreich 2008

Regie: Philippe Garrel

Darsteller: Louis Garrel, Laura Smet, Clémentine Poidatz

Eine Liebeserklärung in sechs, sieben Sätzen
1. Es ist eine der ältesten Geschichten seit Menschengedenken. Ein Mann liebt eine Frau. Eine Frau liebt einen Mann. Sie kommen zusammen, verleben eine kurze, leidenschaftliche Zeit. Doch dann verlässt der Mann die Frau für eine andere. Oder: die Frau stirbt, und der Mann vertröstet sich schnell, trotz seines Schwurs, an dieser Liebe festzuhalten, über den Tod hinaus, für immer. Auf jeden Fall ist die eine schließlich tot, und der andere verliebt, glücklich, denkt nicht mehr an die Vergangenheit. Die aber holt ihn alsbald ein. Seine tote Liebe erscheint ihm in Träumen, als Gespenst, als Wiedergängerin. Sie mahnt ihn an seinen Schwur, droht ihm, fleht ihn an, zu ihr zu kommen, sie vermisse ihn, sie liebe ihn. Er kann dem allem nicht widerstehen, stirbt von eigener Hand oder von ihrer. Im Tod sind die Beiden endlich wieder vereint.

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2. Francois lernt Carole eher zufällig kennen, und zwar durch die Linse seiner Kamera. Er ist Photograph, sie Starschauspielerin. Er soll sie photographieren, sie möchte sich nicht so recht photographieren lassen – ein Anfang wie in Zulawskis L’IMPORTANT C’EST D’AIMER, nur ohne die Tragik, ohne den Schmerz, ohne die unterschwellige Gewalt. Man trifft sich, ein einziger Blick scheint über das Schicksal der beiden jungen Menschen zu entscheiden, und einen Schnitt später küssen sie sich bereits leidenschaftlich vor laufender Kamera. Das Problem jedoch ist: Carole hat einen Ehemann, der ebenfalls eine gewisse Zeit seines Lebens hinter Kameras verbringt. Er ist Filmregisseur, gerade in Hollywood, wo er im Auftrag irgendeines Produzenten irgendeinen Film fertigstellt. Viel wichtiger ist sowieso der, in dem Carole und Francois eine Affäre beginnen. Sie versprechen sich nichts, sie schwören einander nichts, und dennoch flüstern Schwüre und Versprechen kaum hörbar, aber mit steigender Präsenz unter den Bildern. Die sind, wie man es von Garrell gewöhnt ist: von einem kontrastreichen Schwarz und Weiß, irgendwie elegant und zugleich voller Nostalgie, so, als würden sie in eine Vergangenheit zurückweisen, die man nie erlebt, nur gefühlt hat. Sie mögen karg, streng wirken, frei von allem überflüssigen Ballast, mit dem moderne Filme ihre Kader vollstellen, als dürfe keine Stelle ungenutzt in ihnen bleiben. Trotzdem strahlen sie eine Zärtlichkeit, eine Intimität, eine stille, unaufgeregte, unprätentiöse Poesie aus, die bewirkt, dass man sich, obwohl Garrel von einer gewissen Distanz auf seine Figuren blickt, ihnen trotzdem nahefühlt. Fast so wie wenn man in Trödelläden oder auf Flohmärkten Photographien von Menschen findet, die längst tot und begraben sind, die man nie kennengelernt hat, die man nie kennenlernen wird. Man könnte die Achseln zucken, sie in ihren Pappkisten lassen. Trotzdem kauft man sie, denn diese Toten sprechen zu einem, auch wenn man sie nicht immer ganz versteht.

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3. Für Carole ist es mehr als für Francois. Sie liebt ihn wirklich. Als sie beruflich nach London muss – was genau denn nun ihr Beruf ist, außer Celebrity zu sein, erfahren wir natürlich zu keiner Sekunde -, vermisst sie ihn auf physisch schmerzende Weise. Dennoch kann oder will sie sich nicht von ihrem Ehemann trennen. Einmal erwischt der die Beiden beinahe in flagranti. Einzig der Umstand, dass Caroles Mann seinen Wohnungsschlüssel verlegt hat, gibt Francois die Möglichkeit, sich schnell aus dem Schlafzimmer zu stehlen, sich im Salon zu verstecken und, als Carole ihren Gatten ablenkt, halbnackt auf die Straße zu flüchten. Diese Straßen sind, wie man es von Garrel gewöhnt ist: mehr eine minimalistische Bühnenkulisse als ein authentischer Ort, entleert von etwaigen Statisten, reduziert auf das Allernötigste. Sein Paris ist an sich bereits eine völlig zeitlose Stadt, schon immer. Kaum hat es sich verändert in seiner nunmehr fünfzigjährigen Regiekarriere. Autos fahren in ihm herum, aber nicht viele. Die Menschen tragen Kleidung, die zwar nach der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts aussieht, einem konkreten Jahrzehnt zugeordnet werden kann sie nicht. Von summenden Handys fehlt jede Spur. Stattdessen E-Mails oder SMSen schreiben sich die Personen in Garrels Privatkosmos noch lange Briefe voller bedeutungsschwangerer Phrasen. Vielleicht hat man Glück (oder Unglück?) und sieht irgendwo mal im Hintergrund einen Fernsehapparat flimmern. Als in LA FRONTIÉRE DE L’AUBE einmal ein Grabstein zu sehen ist, auf dem man als Todesdatum der Verstorbenen das Jahr 2007 lesen kann, wirkt das mehr noch als wie ein Anachronismus, nämlich wie ein regelrechter Schock. Denn dieser Film spielt nicht im Jahre 2007. Er spielt in jedem Jahr, und zugleich in keinem. Warum zeigt uns aber Garrel diese Jahreszahl? Bestimmt ist das seine Art von Humor, genauso still und streng wie seine Filme.

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4. Mit Carole geht es allmählich bergab. Ihr Alkoholkonsum ist schon seit Beginn des Films einer, der gerne über die Stränge schlägt. Nun, wo Francois sich langsam von ihr abwendet und sie nicht die Kraft oder den Mut hat, ihm zu folgen, und/oder sich von ihrem Ehemann zu scheiden, beginnt sie eine ausgemachte Psychose zu entwickeln. Eines Tages trifft Francois, der schon seit Wochen keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt hat, auf der Straße einen gemeinsamen Bekannten. Der erzählt ihm, dass Carole versucht habe, ihre Wohnung in Brand zu stecken, sich bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Zurzeit befindet sie sich in der Psychiatrie. Dort geht es zu wie man es von Garrel gewöhnt ist. Ein bisschen wirkt es wie ein Remake seines eigenen L’ENFANT SECRET, wohl einem der trostlosesten Werke der gesamten Kinogeschichte, wenn Carole – wohlgemerkt: im Jahre 2007! – an eine Maschine angeschlossen wird, die ihren Schläfen Elektroschocks verpasst, und nicht wesentlich glaubwürdiger oder moderner aussieht als die in Sam Fullers SHOCK CORRIDOR. Um zu unterstreichen, dass er es nicht auf Naturalismus abgesehen hat, setzt Garrel gerade in diesen Szenen vermehrt seine geliebte Lochblende ein. Einmal erlöst sie uns von dem Anblick der leidenden Carole. Das Bild schließt sich von seinen Rändern her exakt in dem Moment, als der Storm zu fließen anfängt. Sowieso ist LA FRONTIÈRE DE L’AUBE zusammengesetzt genau aus den Bausteinen, aus denen sich Garrels gesamtes Oeuvre zusammensetzt. Manche Bilder, manche Themen, manche Figuren kehren immer wieder. Da ist Caroles Briefmonolog vom Traum einer Revolution, die niemanden auch nur einen einzigen Tropfen Blut kostet. Da ist die Kamera als Stifterin zwischenmenschlicher Beziehungen. Da ist die Frage, was das denn sei, die Liebe, und ob man sie überhaupt definieren kann, wenn man in der glücklichen Lage ist, lieben zu können. Da sind die Protagonisten, die keinem geregelten Berufsleben nachzugehen scheinen, keinen sozialen, ökonomischen Kontext haben, in den sie eingebettet sind, und die an reichgedeckten Tischen tafeln, Wein trinken, intellektuelle Gespräche führen, scheinbar den ganzen Tag und mindestens die halbe Nacht. Natürlich ist da das Kino, in LA FRONTIÈRE DE L’AUBE weit im Hintergrund, in Gestalt von Caroles Mann, schwebend über der Liebe wie ein Damoklesschwert.

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5. Carole begeht Selbstmord. Erneut: Zulawskis L’IMPORTANT C’EST D’AIMER, diesmal die dornenreiche Suizidszene Jacques Dutroncs wie er sich in einer Kneipentoilette mit Tabletten tötet. Carole wählt denselben Weg. Viel Alkohol schüttet sie zuerst in sich, torkelt ins Badezimmer, schluckt, was sie in die Finger bekommt. Mehrere Minuten dauert diese schier unerträgliche Szene, die nicht damit endet, dass Francois sie, wie in einem schlechten Film, rechtzeitig findet. Nein, sie stirbt, und wird begraben, auf einem jüdischen Friedhof. Er besucht sie dort, macht Photos von ihrem Grabstein. Darauf: die Zahl 2007. Abends schläft er mit und bei seiner neuen Freundin, die Eve heißt. Sie wirkt wie das exakte Gegenteil von Carole. Sie ist ruhig, beherrscht, etwas spießig vielleicht sogar. Sie hat einen Plan für ihr Leben, möchte eine Familie haben, Kinder. Als sie schwanger wird, wächst Francois die Beziehung kurzzeitig über den Kopf. Er fordert von ihr eine Abtreibung. Doch sie fängt an zu weinen, und er fügt sich in sein Schicksal. Beinahe stolz erzählt er einem alten Freund davon, dass er nun bald Vater sein wird. Alles scheint seine geregelten Bahnen zu laufen, so wie immer: von der leidenschaftsvollen Revolte hin zu der von geregelten Emotionen bestimmten bürgerlichen Ehe. Diese Liebe wirkt zwar weniger aufbrausend als die zu Carole, aber nicht weniger schön. Dazu trägt nicht zuletzt die Musik bei, die klingt wie man es von Garrel gewöhnt ist. Zuständig ist, als Hauptkomponist, Jean-Claude Vannier. Ihn unterstützt Didier Lockwood an der Geige. Zurückhaltend, beinahe schüchtern entfalten die Beiden einen Klangteppich, der den Bildern niemals von außen irgendwelche fremden Emotionen aufdrängt, sondern vielmehr dazu führt, dass die in ihnen sowieso bereits angelegten Emotionen noch etwas stärker hervortreten. Sowieso verwendet Garrel nie Musik, die einen didaktischen Zweck verfolgt. Stets ist sie nur als Rahmung da, weiter wagt sie sich nicht. Aber, hört man genau hin, muss man erkennen, dass sie ebenfalls ohne die Bilder funktioniert, die sie begleitet. So wie die Bilder ohne sie funktionieren würden. Garrels frühste Filme sind komplett ohne Ton gedreht worden.

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6. Francois unternimmt mit Eve einen Ausflug zu einer Hütte mitten im Wald. Während des gemeinsamen Mittags-schlafes hat er einen verstörenden Traum. Es ist Carole, die sich durch eins der Fenster zu dem Pärchen hereinbeugt. Sie flüstert davon, er solle tief in den Wald gehen, dort einen bestimmten Baum suchen, und bei diesem auf sie warten. Was für Francois zunächst ein Traum ist, das ist es für uns, das Publikum, nicht. Die Phantastik bricht mit einer Heftigkeit wie nie zuvor in die filmische Welt Garrels hinein. Heftigkeit, das heißt bei Garrel natürlich so viel wie: still und leise. Dennoch: ein mulmiges Gefühl bleibt. Francois glaubt, geschlafen zu haben. Doch wir, das Publikum, wissen: Carole ist wirklich dort gewesen, hat durch das Fenster geguckt, während Eve und er schliefen, und diese kryptischen Sätze gewispert, fast wie aus einem Märchen. Von nun an wird es, sofern das in einem derart schwarzweißen Schwarzweißfilm überhaupt Sinn macht, bunter und bunter. Carole kommuniziert mit Francois über Spiegel. Ist das nun seine Psyche, die ihn foppt? Wird Francois wahnsinnig? Hat er Caroles Selbstmord, für den er sich unbewusst die Schuld in die Schuhe schiebt, nicht verwunden? Spiegel sind schon bei Jean Cocteau beliebte Mittler zwischen dem Reich der Toten und dem der Lebenden. Orpheus dringt durch einen Spiegel ein, um seine Geliebte aus dem Orkus zu retten. Der Dichter in LE SANG D’UNE POETE stürzt durch einen Spiegel ins Königreich der Poesie. Soll Francois dem Ruf folgen? Sein Geist ist verwirrt, und während er vor Eve die heile Fassade hochhält – immerhin: sie wollen heiraten, er hat inzwischen ihre Eltern kennengelernt, er steckt so tief in der einst verhassten Bourgeoisie wie nie zuvor -, schüttet er bei einem alten Freund – man begrüßt sich mit: Kamerad! - sein wundes Herz aus. Er rät ihm, mit Carole zu kommunizieren. Natürlich, als ausgemachter Materialist und Kommunist, glaubt er nicht daran, dass Carole tatsächlich irgendwo weiterexistiere. Francois selbst ist es, der ihr Erscheinen hervorruft. Doch sei das nicht eine Möglichkeit, sich selbst näher zu ergründen? Francois hilft das nicht weiter. Niedergeschlagen wandert er durch die menschenleeren Straßen. Zu diesem Zeitpunkt sind Schauspieler und Rolle endgültig miteinander ver-schmolzen. Der Hauptdarsteller ist, wie man es von Garrel gewöhnt ist, ein alter Bekannter, nämlich sein eigener Sohn, Louis, mit dem er kurz zuvor bereits das dreistündige Mai68-Epos LES AMANTS REGULIERS gedreht hat. Außerdem hat man ihn als Kind gesehen, in LES BAISERS DE SECOURS. Garrels Filme sind autobiographisch, immer. Nicht nur, weil er gerne Familienmitglieder in ihnen versammelt, seine Kinder, seinen Vater, seine Frauen und ExFrauen. Sie scheinen, rein vom limitierten Sujet her, stets Ausdruck der Träume, Ängste und Gedanken eines einzelnen Individuums zu sein. Deswegen variieren sie in ihren Kernen kaum, deswegen erkennt man von den 60ern bis in das Jahr 2013 in ihnen allen eine bestimmte Handschrift mit bestimmten Eigenarten, deswegen kann man einen lieben und liebt sie alle.

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7. Und trotzdem: jeder Film Philippe Garrels ist anders. LA FRONTIÈRE DE L’AUBE fällt aus dem Rahmen, weil er einen grenzenlosen, für manchen Cannes-Besucher bei seiner dortigen Erstaufführung offenbar peinlich wirkenden Romantizismus mit einer eindeutigen als solche bezeichneten Phantastik paart. Rückwärtsgewandt, könnte man das nennen, einem Kino huldigend, das vor fünfzig Jahren vielleicht noch bahnbrechend gewesen ist, wenn überhaupt. Oder aber man bescheinigt LA FRONTIÉRE DE L’AUBE, dass seine Subversion gerade aus dem Fehlen offensichtlich subversiver Tendenzen erwächst. Garrel wagt es, im Jahre 2007 – und sogar noch im Jahre 2013, was das betrifft: man schaue und schwelge in LA JALOUSIE – einen Film zu inszenieren, der ohne große Effekte auskommt, ohne Sex und Gewalt, ohne in irgendeiner Form spektakuläre Elemente. Deshalb vielleicht kann ein Film wie LA FRONTIÉRE DE L’AUBE ein Film sein, der überdauert. Irgendwann heißt es: es ist einer der ältesten Filme seit Menschengedenken. Paris verändert sich von Tag zu Tag, der technische Fortschritt wächst sich selbst über den Kopf, die Jahre purzeln wie Laub. Aber: diesen Film versteht man vielleicht noch in einhundert, zweihundert Jahren. Weil sich diese Fragen jede Generation immer wieder von Neuem stellen wird: was ist Liebe?, was ist der Tod?, wie hängt beides zusammen? Eine solche Geschichte zieht immer.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: La Papesse

Produktionsland: Frankreich 1975

Regie: Mario Mercier

Darsteller: Jean-Francois Delacour, Lisa Livane, Géziale, Erika Maaz, Mathias von Huppert, Lina Olsen

Irgendwo auf der Welt, doch außerhalb von ihr, gibt es eine seltsame Sekte, deren Ursprünge in den Nebeln der Zeit verloren liegen, und die über gewisse Kräfte verfügt, die sich in einer Päpstin manifestieren. Eine Frau namens Géziale steht in dieser Traditionslinie. Ein Mann wollte von dieser Frau initiiert werden. Mit diesen drei schlichten Sätzen, gesprochen aus dem Off über den menschenleeren Bildern einer steinigen Einöde, beginnt LA PAPESSE fast schon mit der Unschuld eines Märchens. Da haben wir eine Frau, da haben wir einen Mann, und da haben wir eine schwarzmagische Welt außerhalb der unseren, die die beiden zusammenbringen oder trennen wird.

Mario Mercier wurde 1945 in Nizza geboren, und kann wohl als Universalkünstler bezeichnet werden. Er hat zahllose Bücher verfasst, darunter sowohl Romane mit Titeln wie LE NÉCROPHILE als auch esoterische Sachliteratur, die auf Namen hören wie LA NATURE ET LA SACRÉ, sowohl selbstillustrierte Neuausgaben von Gedichten Rimbauds als auch schamanistische Manifeste. Daneben nimmt sich sein kinematographisches Schaffen nahezu gering aus. Gerade einmal drei Filme hat Mercier zwischen 1970 und 1975 gedreht. Es sind: der Kurzfilm LES DIEUX EN COLÉRE von 1970, LA GOULVE von 1971, gemeinsam mit Bepi Fontana, und zuletzt LA PAPESSE von 1975. Sie alle sollen dem sogenannten Witch Cinema zugeordnet sein, das von Mercier selbst begründet und mit LA PAPESSE zum Abschluss gebracht worden ist. Im Prinzip setzen sich alle drei Filme das Ziel, die eigentlich unsichtbare Welt des Übernatürlichen, der Magie, der Poesie einer angemessenen visuellen Repräsentation zu unterziehen. Ich muss nicht extra betonen, dass keiner dieser Filme in irgendeiner Geschichte des Kinos, wenn überhaupt, über eine unscheinbare Randnotiz hinausgekommen ist.

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LA PAPESSE ist fiebrig, delirierend wie meine Träume zurzeit. Eine kohärente Geschichte existiert in ihm genauso wenig wie irgendeine Prämisse, die seiner Handlung vorausginge, oder ein Endpunkt, auf den diese Handlung hinauslaufen würde. Stattdessen ist LA PAPESSE aufgeladen mit Symbolen, die für den Nicht-Eingeweihten schwerlich verständlich sein dürften. Ähnlich wie es Alejandro Jodorowsky in EL TOPO oder MONTANA SACRA tut, holt Mercier sein Publikum nicht etwa dort ab, wo es selbst gerade steht, und erklärt ihnen, worauf er mit seinem Bilderrausch eigentlich hinauswill. Vielmehr überschüttet er uns mit okkulten, heidnischen, christlichen Querverweisen, die möglicherweise gar keinen Inhalt in sich bergen als dass sie uns irritieren und überwältigen sollen, andererseits aber genauso gut – denn immerhin wird im Vorspann ein conseiller en occultisme genannt – höchstsinnträchtig miteinanderverflochtene Bedeutungsträger sind, die man allerdings erst entschlüsseln kann, wenn man so tief in die Materie eingetaucht ist wie Meister Mercier selbst.

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Dabei hat LA PAPESSE aber zumindest Figuren, die irgendwelche Dinge tun, anhand derer man vielleicht keine nach Maßstäben der menschlichen Logik in sich schlüssige Narration rekonstruieren kann, die aber trotzdem zumindest so etwas Ähnliches wie eine Geschichte erzählen: Da ist der oben erwähnte Mann. Er möchte Mitglied der oben erwähnten Sekte werden. Hierfür lässt er einige Mutproben über sich ergehen. Bis zum Hals in die Erde eingegraben, muss er die Bisse giftiger Schlangen ertragen. Bis aufs Blut gepeitscht werdend, muss er an einem Andreaskreuz die Nacht verbringen. Da ist die oben erwähnte Frau, die Päpstin Géziale, die plant, mit diesem Mann ein Kind des Bösen zu zeugen. Da ist aber noch eine andere Frau, die Gattin des Mannes. Ihre Ehe ist schon lange verblüht, trotzdem sorgt sie sich um ihren Angetrauten. Sie stellt ihm nach, findet sein grausiges Geheimnis heraus. Die Strafe folgt auf den Fuß. Die Frau gerät in die Fänge der Sekte. Sie wird erniedrigt, gedemütigt, vergewaltigt, angepisst, soll schließlich geopfert werden. Dazu feiern die Sektenmitglieder satanische Orgien, schlachten Hähne, ergehen sich in allerhand weiteren, schier unbeschreiblichen Ritualen und sagen viel, was ich nicht verstanden habe.

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Mario Mercier schäumt fast über vor Ideen, wie er seinen Film in ein Sammelbecken an Subversionen verwandeln kann. Gerade das, was die arme Frau ab der Filmmitte erdulden muss, kann man vielleicht schon als Antizipation der Leiden Annas im knapp dreißig Jahre später erschienen MARTYRS verstehen. Sie wird zwangsernährt, im Schweinestall gehalten, mit Urin benetzt, von zwei grotesken Gladiatoren sexuell missbraucht, mit dem Blut eines frischgeschlachteten Hahnes übergossen, schließlich in einer Höhle eingesperrt, in der ein seltsames Wesen haust, das man den Ghoul nennt, und das mir eine Mischung aus Reptil und Fledermaus zu sein scheint, und es natürlich ebenfalls hauptsächlich auf den noch nicht genug malträtierten Unterleib der Frau abgesehen hat. Doch auch abseits etwaiger misogyner Phantasien ist Mercier nicht zimperlich in der Wahl seiner visuellen Kampfansagen an gesellschaftliche Normen. Sperma schießt in hohem Bogen in Messkelche. Gottlose Mönche peitschen wehrlose Männer- und Frauenrücken. Zu unbeherrschtem Getrommel verlieren die Satansjünger jedwede Hemmungen und zucken in unkontrollierter Geilheit. Einem schwarzen Hahn wird in Großaufnahme die Gurgel durchtrennt.

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Überraschenderweise ist LA PAPESSE, was seine reine Inszenierung betrifft, jedoch wesentlich zahmer und dann doch konventioneller als es dieser Versuch einer Inhaltsangabe erwarten ließe. Ein Name, der sich mir förmlich aufdrängt, ist der Jean Rollins. Ebenso ruhig, ebenso bedacht im Umgang mit Zeit und Raum, ebenso daran interessiert, nichts zu übereilen und dem Zuschauer ausgiebige Gelegenheit zu geben, die außergewöhnlichen Figuren, Landschaften und Ereignisse in ihrer stillen Subversion genießen zu können, geht Mercier ans Werk, wenn er seinem Film selbst in Momenten, wo dies dem Gang der Geschichte nicht zuwiderlaufen würde, ein allzu rapides Tempo regelrecht verweigert. Viele manchmal fast schon poetische Dialogszenen, viele zurückgenommene Aufnahmen der kargen, tristen Felsenlandschaften, viele lange Szenen, in denen wir den Figuren beinahe in Echtzeit bei Tätigkeiten wie beispielweise dem Schließen einer Grottenhöhle mit Steinen zuschauen dürfen, verdichten sich in LA PAPESSE zu einer sich von der ersten bis zur letzten Sekunde des Films durchziehenden elegischen, melancholischen, morbiden Stimmung – fast so, als würde man den Bestattungsriten eines uns fremden Kulturkreises zuschauen: man spürt, dass dem Akt eine gewisse Trauer und Würde innewohnt, und zugleich ist man von den einem skurril oder schräg erscheinenden Vorkehrungen genügend irritiert, dass einen die Trauer und die Würde nie weit genug überwältigen können, um einen das Gefühl einer fast schon erheiterten Irritation verlieren zu lassen.

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Das unterscheidet LA PAPESSE letztlich von einem Film wie Kenneth Angers LUCIFER RISING, der sich mir zunächst ebenfalls als Bezugspunkt aufgedrängt hat. Wo Anger seine Revolte in die Machart des Films selbst überträgt, und einem Massengeschmackpublikum mittels unorthodoxer Montage, Überblendungen und manch anderer technischer Innovation vor die Stirn stößt, außerdem keinen Originalton verwendet und seine Ästhetik in jedem Moment den Vorrang über einen nacherzählbaren, erfassbaren Inhalt stellt, bleibt Merciers PAPESSE, wie gesagt, den Kinokonventionen, was Schnitt, Kameraführung, Bildaufbau betrifft, weitgehend verhaftet. Nur selten einmal traut er sich, auf der reinen Bildebene an Mechanismen des Experimentalkinos anzuknüpfen. Wenn er dann das Bild mit einem blutroten oder einem mattgrünen Filter überzieht, oder wenn er die feiernden Satanskinder in Negativbelichtung zeigt, oder wenn er so dicht an einen Vollmond heranzoomt, dass er zu einem unscharfen Klecks wird, der alles und nichts sein könnte, sind selbst das wenig innovative Spielereien, mit der die filmische Avantgarde schon seit den 60ern, wenn nicht, in Angers Falle, sogar den 50ern, Bekanntschaft geschlossen hat. Selbst der zumeist elektronische Score von Éric De Marsan klingt in meinen Ohren wie etwas, das ich schon mehr als einmal gehört haben dürfte.

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Wenn ich LA PAPESSE überhaupt irgendetwas vorwerfen kann, dann wäre dies, dass Mercier auf halber Strecke der Mut verlassen hat. Sein Drehbuch ist gegen jeden Strich gebürstet, eine unvernünftige Aneinanderreihung von Szenen, die uns tief hinein in einen schaurigen Kosmos jenseits der uns bekannten Welt führen: ohne Psychologie, ohne Moral, ohne Gott, könnte man sagen. Seine Adaption dieses Drehbuchs indes folgt altbekannten Bahnen: selbst wenn sie diese einmal verlässt, dann nur mit einem Bein, und das wird schnell zurückgezogen, vielleicht aus Angst, nicht mehr zurückzufinden in die Ordnung.

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Andererseits: hat nicht gerade diese merkwürdige Ambivalenz zwischen inhaltlichem Chaos und Ekstase und formaler Klarheit und Strenge ihren ganz eigenen Reiz? Vor allem ist LA PAPESSE nämlich ein Film voller kleiner, in sich großartiger, für sich stehen könnender Szenen, die nichts zu transportieren scheinen als das, was wir in ihnen sehen. Da wird eine Frau von einem Mann mit Bluthund verfolgt, flüchtet auf einen Baum, stürzt, wird von dem Hund zerfleischt, und dessen Besitzer, der sie eigentlich nicht hat zu Tode kommen lassen wollen und sollen, zwingt das Tier, um jedes Zeichen für den ungeplanten Todesfall zu tilgen, das entstandene Blut von der Wiese zu schlecken. Zuvor ist die gleiche Frau nachts allein im Wald unterwegs, fühlt sich verfolgt, sieht komisch dampfende Maskenköpfe auf Stecken aus dem Unterholz ragen, trifft schließlich auf zwei Räuber, die sich um ihre Beute streiten, sie entdecken und wiederum verfolgen bis zu ihr nach Hause, wo sie, aus Angst, von ihnen gefunden und getötet zu werden, lieber selbst eine Überdosis Schlaftabletten nimmt, um ihnen zuvorzukommen. Da ist natürlich die nun wirklich komplett in einem Paralleluniversum angesiedelte Höhlenszene, in der unsere Heldin dem oben genannten Ghoul begegnet, mit ihm eine unfreiwillige Liebesnacht verbringt, worauf er sich, ohne dass sein Auftritt in irgendeiner Weise kontextualisiert werden würde, so schnell aus der Handlung verabschiedet wie er in sie hineingeflattert kam.

Man könnte, am Ende von LA PAPESSE, schreiben: Irgendwo auf der Welt, doch außerhalb von ihr, gibt es einen seltsamen Film, dessen Ursprünge in den Nebeln der Zeit verloren liegen, und der über gewisse Kräfte verfügt, die sich in einer Päpstin manifestieren. Gerne sähe ich, dass mehr Menschen diesen Film sehen.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Originaltitel: La fée sanguinaire

Produktionsland: Belgien 1969

Regie: Roland Lethem

Darsteller: To Katinaki, Pierre Lampe, Jean-Pierre Bouyxou, Raphael Marongiu
Es waren einmal zwei Engel…

Als ob Luis Bunuel auf seine alten Tage sich von dem Betreiber eines Grand-Guignol-Theaters in irgendeiner Montmartrer Seitengasse dazu habe überreden lassen, einen Splatterfilm für ihn zu drehen, der in ausgewählten Bahnhofskinos als Werbung für sein Etablissement dienen sollte.

Raphael Marongiu, der unter anderem in Jean Rollins LES DÉMONIAQUES (1974) mitspielen, für Jean-Pierre Bouyxous Kurzfilm SATAN BOUCHE UN COIN (1968) die Kamera führen und für Jean Rollins LES RAISINS DE LA MORT (1978) die Spezialeffekte besorgen sollte, und Jean-Pierre Bouyxou, der unter anderem in Alain Payets TRAIN SPÉCIAL POUR SS (1977) mitspielen, für Jean Rollins LES RAISINS DE LA MORT (1978) die Story beisteuern und selbst den exzellenten Kurzfilm SATAN BOUCHE UN COIN (1968) drehen sollte, tragen eine Tonne zu irgendeinem Pariser Stadthaus, klingeln, verschwinden und überlassen die seltsame Fracht einem jungen Mann, der ihnen die Tür öffnet, als sie längst Reißaus genommen haben. Bald entsteig der bis obenhin mit Wasser gefüllten Tonne ein splitternacktes, süß lächelndes Mädchen, das den Jüngling am liebsten in der Badewanne verführt. Doch wenn die beiden nicht gerade leidenschaftlich plantschenden Sex miteinander haben, vertreibt die titelgebende blutdürstende Fee sich die Zeit damit, die unterschiedlichsten Menschen auf grausame Weise vom Leben in den Tod zu befördern. Ein Polizist wird von ihr totgeprügelt. Eine Nonne wird von ihr auf einer öffentlichen Parkbank mit den Sinnesfreuden vertraut gemacht und anschließend mit dem Rosenkranz erdrosselt. Ein kleiner Junge, der sie mit einer Waffe bedroht, muss es sich gefallen lassen, dass sie ihm die Augäpfel aus ihren Höhlen reißt und genüsslich verzehrt.

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Als ob der junge Jean Rollin sich nicht an menschenleere Strände zurückgezogen habe, um dort Gedichte von Tristan Corbière zu rezitieren, sondern seine geliebten nackten Vampirinnen eintauschte gegen eine allerdings nicht minder blutlüsterne Feengestalt, die er dann zum Töten durch die üblichen Stummfilm-Serial- und Vaudeville-Szenarien geschickt hätte.

LA FÉE SANGUINARE will ohne Zweifel ein (links-)politischer Film sein. Während unser Held in seiner Wohnung sitzt, ertönt von der Straße her Revolutionslärm. Studenten schreien sich die Lungen wund, Steine fliegen, Polizeisirenen heulen auf. Über seine gesamten fünfundzwanzig Minuten hinweg ist LA FÉE SANGUINARE getragen von einer anarchistischen Stimmung, für die alles möglich ist, und nichts verboten. Wer die im Fokus der bruchstückhaften Handlung - die mich oft darüber im Unklaren lässt, ob das, was ich sehe, nun eine Traumvision, eine Rückblende oder die tatsächliche Filmrealität sein soll - stehende Dame aus der Tonne nun eigentlich ist, das beantwortet Regisseur Roland Lethem genauso wenig wie dass er sich sonst großartig darum schert, in dem Chaos irgendeinen nacherzählbaren Sinn zu stiften. Soll ich die Fee im Blutrausch als Allegorie sehen für Faschismus, Kapitalismus, einen außer Kontrolle geratenen Feminismus, die Diskursmacht an sich? Soll ich in die Fee im Blutrausch überhaupt irgendwas hineininterpretieren, das sie zu mehr macht als die Bilder mir verraten wollen?

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Als ob Herrschell Gordon Lewis sich einem marxistischen Filmkollektiv angeschlossen habe, das Godard und Vertov als Götter verehrte, und gemeinsam mit linksrevolutionären Studenten, wenn er nicht gerade mit ihnen Molotov-Cocktails braute oder Pflastersteine schmiss, einen Film gedreht habe, in dem radikale politische Positionen und genauso radikale Metzelszenen miteinander geschwisterlich Hand in Hand gehen.

LA FÉE SANGUINARE will ohne Zweifel ein schockierender Film sein. Die Splattereffekte sind krude und, wohl schon für zeitgenössische Augen, recht leicht durchschaubar. Gerade in ihrer Grobheit liegt jedoch ihr Reiz: Mit zunehmender Laufzeit wirft Lethem jede Moral über Bord und lässt Ordensfrauen, Staatsdiener, unschuldige Buben gleichermaßen seiner Anti-Heldin zum Opfer fallen. UN CHIEN ANDALOU, BLOOD FEAST, LE VIOL DU VAMPIRE, LE RÉVÉLATEUR: von all diesen Filmen kann man Spuren in LA FÉE SANGUINARE finden. Vor- und Abspann sind offensichtlich nach Vorbild Godards modelliert: Auf einem Stück Zeitung ordnen sich die Namen der Beteiligten, um am Ende eine Swastika zu ergeben, dazu ein Photo Richard Nixons sowie: Fin. Pure Provokation ist auch die Schlussszene, die heute noch genauso wehtut wie in den 68ern: Unser namenloser Held wird, nachdem er einmal mehr ausgiebig den jungen Körper seiner neuen Mitbewohnerin genossen hat, endlich auch deren Opfer. Dass sie ihm den Penis per Rasiermesser raubt, verdeutlicht Lethem nicht nur indem er seinen Hauptdarsteller blutüberströmt und mit den Händen im Schritt sich auf dem Zimmerboden winden lässt. Ein Zwischenschnitt muss uns außerdem Bouyxou und Marongiu zeigen wie sie einem Hahn den Kopf abhacken und danach mit seinem noch zuckenden Körper "spielen". Dass es keine Dialoge gibt, keine wirkliche Dramaturgie, alles irgendwie improvisiert und unbeholfen wirkt, unterstreicht nur: LA FÉE SANGUINARE will mir nicht gefallen, sondern mich entrüsten, erschüttern, mir irgendeine extreme Reaktion entlocken. Wenn am Ende die Kamera über zahllose Glasbehälter voller männlicher Geschlechtsteile fährt – von Kiesinger, von Luther-King, von de Gaulle, von Salazar -, kann man das entweder als Audruck eines pubertären Protests oder als kluges politisches Statement verstehen.

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Als ob Philippe Garrel schon früh den Tonfilm für sich entdeckt habe sowie eine Heimorgel, eingestellt auf die enervierendsten Zirkusklänge, und ein bisschen herausgekommen sei aus seiner introvertierten, elaborierten Bildsprache, um zusammen mit engen Freunden und weitläufigen Bekannten, jedoch unter Beibehaltung seiner spröden Ästhetik, einen kleinen Schocker zu drehen, der den Beteiligten Spaß und den Zuschauern Ekel bereiten sollte.

Es waren einmal zwei Engel…
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Originaltitel: Le sexe enragé

Produktionsland: Belgien 1969

Regie: Roland Lethem

Darsteller: To Katinaki, Jean-Pierre Bouyxou, Raphael Marongiu, Monica Swinn, Roger Clermont

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Die Gemeinsamkeiten sind zunächst bestechend: Wie schon den Vorgängerfilm LA FÉE SANGUINAIRE drehte der belgische Filmemacher Roland Lethem LE SEXE ENRAGÉ auf 16mm und, zumindest größtenteils, in Schwarzweiß. Beide Filme pendeln sich bei einer Laufzeit von etwas mehr als zwanzig Minuten ein und weisen mit Jean-Pierre Bouyxou, Raphael Marongiu und vor allem To Katinaki, die erneut eine zwar süß lächelnde, aber kaltblütige Männerkillerin spielen darf, einen ähnlichen Cast auf. Ebenfalls identisch ist die dezidiert politische Stoßrichtung beider fernab kommerzieller Kinosysteme mit einem geringen Budget und einer Handvoll Bekannten realisierter Werke: Wo allerdings LA FÉE SANGUINAIRE zumindest noch den Ansatz einer Narration aufzuweisen hatte und, ob nun bewusst oder unbewusst, mit seiner allegorischen Titelfigur ein durchaus denkwürdiges Spiel trieb, das beim Rezipienten offenließ, ob und wie er die blutrünstige Fee denn nun decodieren solle – als, beispielweise, Sinnbild des Kapitalismus, der unter einer hübschen Hülle Tod sät, oder als, was genauso plausibel wäre, Sinnbild der von Lethem und seinen 68er Genossen angestrebten Weltrevolution, die die Machtelite, angefangen von Polizisten über Nonnen bis hin zu namentlich genannten Staatsoberhäuptern, auf grausame Weise aus dem Leben befördert -, da fällt es mir bei LA SEXE ENRAGÉ schon schwerer, den Film überhaupt in kohärente Worte zu fassen.

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Grob gesagt zerfällt der Film in zwei Teile. Der erste, ungleich längere, ist schwarzweiß und wesentlich weniger auf Krawall und Schockwirkung gebürstet als die vergleichsweise doch ziemlich rüde und freizügig inszenierten Gewalt- und Sexeskapaden der schrecklichen Fee des Vorgängers. Zwar sieht man To Katinaki auch hier wie sie beispielweise einen Mann in einem Treppenhaus niedersticht – übrigens eine Szene wie aus einem Giallo, d.h. stilecht mit Großaufnahme eines ein Rasiermesser schwingenden Schwarzhandschuhs -, dies ist jedoch nur ein kurzer Moment in einem Kontext, der seine Herkunft aus dem linken Filmuntergrund Belgiens weitaus offener ausagiert als das bei LA FÉE SANGUINAIRE der Fall gewesen ist. Für heutige Betrachter mag es fast schon naiv und anstrengend wirken - und ein bisschen vielleicht wie die Light-Version der ungleich komplexeren, reflektierteren Essayfilme, die Jean-Luc Godard zur gleichen Zeit bereits mit seiner Dziga-Vertov-Gruppe inszeniert hat -, wenn ein Mann und eine Frau mit Blickkontakt direkt in die Kamera über Minuten hinweg mit emotionslosen Stimmen solche Phrasen dreschen wie, dass der Bourgeoise prinzipiell der Tod an den Hals zu wünschen sei, oder wenn der Titel des Films – LA SEXE ENRAGÉ – gefühlte einhundertmal zu Aufnahmen einer nächtlichen Großstadt wiederholt wird, in der To Katinaki auf der Suche nach neuen Opfer umherstreift. Noch am besten sind folgende zwei Einfälle der eher bemühten, wenig subversiven ersten Hälfte des Films: Zum einen präsentiert ein Herr, der augenscheinlich eine Parodie auf einen x-beliebigen Fernsehmoderator sein soll, uns den Vorspann des Films in verbaler Form, d.h. er liest von einem Blatt Papier direkt in die Kameralinse Namen der Hauptdarsteller und des Produktionsteams vor – eine Idee, die man zwar auch, wenn man will, auf Godard zurückführen kann, namentlich nämlich auf dessen Meisterwerk LE MÉPRIS von 1963 -, die aber im Zusammenhang mit den schwerfälligen Dialog- bzw. Monologszenen erheblich erfrischend wirkt. Als noch interessanter habe ich die Eröffnungsszene des Films empfunden, wenn Lethem einfach mal für etwa eine Minute in Großaufnahme ein weibliches Geschlechtsteil zeigt, das so lange ruhig und behaart zwischen den Schenkel ruht bis diese sich wie ein zugehender Vorhang vor ihm schließen und es unseren Blicken entziehen – eine Einstellung, die so oder so ähnlich auch von Andy Warhol oder Yoko Ono hätte stammen können. Eher unfreiwillig komisch kommt indes eine unglaublich langgezogene Szene daher, in der To Katinaki einem Mann eine, nehme ich an, Heroinspritze in den Allerwertesten jagt und ihn auf einen Trip schickt, der ihm sämtliche Bewusstseinslichter ausbläst. Bevor er indes reglos auf seiner Matratze liegt und nur noch starren und stammeln kann, ertönt von der Tonspur, die sich ansonsten, gerade im Vergleich zur permanent meist äußerst kontrapunktisch dudelnden Heimorgelmusik in LA FÉE SANGUINAIRE, recht zurückhaltend gibt, eine völlig überzogene Klangcollage aus Stöhnen und Seufzen. Halten wir fest: für etwa vierzehn Minuten kann LA SEXE ENRAGÉ eigentlich in keiner Hinsicht mit seinem Vorgänger mithalten, und wirkt wie der missglückte Versuch einiger marxistischer oder maoistischer Studenten, ihrem Publikum eine politische Botschaft unter die Nase zu reiben, die sich schnell als leere Patronenhülse entpuppt.

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Dann aber erfährt Lethems Film einen Kontinuitätsbruch, der mich fast mit allem versöhnt, was zuvor, meiner Meinung nach, schiefgelaufen ist, und mich stark an ein mit ähnlichen Verfahren im letzten Drittel stilbrüchig werdendes Werk wie José Mojica Marins zweites Zé-do-Caixão-Abenteuer ESTA NOITE ENCARNAREI NO TEU CÁDAVER von 1967 erinnert. Nicht nur, dass LA SEXE ENRAGÉ auf einmal farbig wird, und zwar ziemlich psychedelisch-farben, sprich: förmlich badend in grellen Rotttönen, Roland Lethem erinnert sich auch endlich daran, dass ein Experimentalkurzfilm vielleicht nicht nur statische These heraushauen, sondern vor allem ästhetisch und formal toben sollte. Genau das tut LA SEXE ENRAGÉ nun bis zu seinem Schluss: Eine nackte Frau, zwischen deren Beinen eine viel zu große Bunthaarperücke wohl ihre extreme Schambehaarung symbolisieren soll, und eine nackter Mann haben Sex vor laufender Kamera. Dass LA SEXE ENRAGÉ nicht zum plumpen Porno gerät, hat zwei Gründe: Zum einen zeigt Lethem den Geschlechtsakt nie auf eine Weise wie das ein beliebiger voyeuristischer Film tun würde, sondern – erneut vielleicht eine Reminiszenz an Yoko Ono – zergliedert das wilde Treiben in Detailaufnahmen, die die Kopulation bis an den Rand der Abstraktion führen. Was sie über diesen Rand hinausstößt, das sind Montage und vor allem das Mittel der Überblendung, mit dem Lethem zwei oder mehrere Bilder übereinander lagert, sodass der Betrachter in den schlimmsten bzw. besten Momenten kaum noch die eine Schicht von der andern zu trennen vermag. Eine weiße Maus läuft auf dem Körper unserer Heldin umher. Die Hüften unseres Helden stoßen unerbittlich zu. Die Kamera fährt über Hautpartien entlang, die oben, unten, in der Mitte sein könnten. Immer wieder ist die rote Schamhaarperücke zu sehen und wie Finger in ihr herumtasten. Das alles aber, wie gesagt, nicht etwa diachron hintereinander, sondern synchron übereinander gestülpt, sodass wirklich alles ineinandergreift: die Bewegung der Kamera, die Bewegung innerhalb des Bildkaders, die Bewegung der Montage. Das Finale dürfte dann freilich wieder der Geschmack der Wenigsten sein. Obwohl ich überzeugt davon bin, dass das bereits erwähnte Mäuschen während der Dreharbeiten zumindest nicht on-screen zu Tode gekommen ist und sein gewaltsames Sterben - anders als das des geköpften Hahns in LA FÉE SANGUINAIRE - von Lethem durch die oben genannten Stilmittel bloß simuliert wird, nichtsdestotrotz zeigen die letzten Bilder von LA SEXE ENRAGÉ sowohl den zerfetzten Körper des Nagers als auch, dahinter projiziert, einen offenen Menschenmund, der die noch lebende Maus zwischen den Zähnen zermalmt bis von ihm nicht viel mehr zu erkennen ist als eben eine zerfetzte, blutige Masse. Zurück im Schwarzweiß sehen wir das inzwischen schlafende Gesicht des Heroinkonsumenten – alles nur ein drogeninduzierter ekstatischer Traum? -, dann: FIN. Mein Magen hat sich bedankt.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Le vampire de la cinémathèque

Produktionsland: Belgien 1970

Regie: Roland Lethem

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Auf einer drehbaren Scheibe sind kreisförmig verschiedene Bilder angeordnet. Das Gesicht eines jungen Mädchens mit gespitzten roten Lippen, zarten Wangen, einem gütigen Blick. Das Gesicht einer alten Frau, hexenhaft, mit dicker Knollennase, runzligen Wangen, leicht verrücktem Blick. Das Gesicht eines Untiers, den Zähnen nach zu urteilen ein Vampir, die Züge aufgedunsen und entstellt, eine Warze auf der Nase, spitze Fledermausohren, ein Blick, der bösartiger nicht sein könnte. Zwischen all diesen aufeinander aufbauenden und sich aufeinander beziehenden Zeichnungen befinden sich diese separierende Schlitze. Setzt man die Scheibe vor einem Spiegel in Bewegung und platziert einen Betrachter so, dass er die Zeichnungen selbst nur als Reflektionen im Spiegelglas durch besagte Schlitze hindurch sieht, macht es für ihn den Eindruck, er würde nicht eine Reihe unterschiedlicher Bilder vor Augen haben, sondern ein und dasselbe Bild, das einer permanenten Wandlung unterworfen ist. Das gleiche Gesicht scheint es ihm zu sein, das eben noch mädchenhaft-freundlich ihm entgegengelächelt hat, das nun zu dem einer Hexe wird, und schließlich das eines Vampirs bevor es wieder zurückfällt in seine vorherige Unschuld. Dass unser Betrachter der Täuschung einer fließenden Bewegung aufsitzt, hat natürlich mit der Konstitution seines Gehirns zu tun, das bei dem schnellen Wechsel der Einzelbilder einfach nicht hinterherkommt, und außerdem Probleme damit hat, die hellen Phasen, in denen es das Gesicht unseres Mädchens, Hexenweibs, Vampirs zu sehen bekommt, gegen die dunklen zwischen den Schlitzen abzugrenzen.

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Der Erfinder dieses Phenakistiskop genannten Apparats, den man guten Gewissens als einen wichtigen Vorläufer der Kinematographie bezeichnen kann, heißt Joseph Antoine Ferdinand Plateau, lebte von 1801 bis 1883, wurde in Brüssel geboren und starb in Gent. Eigentlich war Plateau Physiker, beschäftigte sich aber schon in jungen Jahren mit dem, was wir heute stroboskopischen Effekt nennen. Bereits 1832 konstruierte er sein Phenakistiskop – im ersten Entwurf allerdings, weniger schaurig, mit Zeichnungen eines tanzenden Paares gefüttert, und nicht mit der Metamorphose eines jungen Mädchens in eine greise Vampirin. Noch früher, ab 1829, dem Jahr seiner Promotion an der Universität Lüttich, experimentierte Plateau mit der Sonne und seinen eigenen Augen, um dem Geheimnis des sogenannten Nachbildes auf die Spur zu kommen. Seine Frage, wie lange das Bild der Sonne, wenn man nur lange genug in sie hineingestarrt habe, einem noch auf der Netzhaut verbliebe, wurde schließlich mit einer ab 1843 einsetzenden Blindheit beantwortet. Selbst diese unangenehme Folge seiner Selbstexperimente nahm Plateau zum Anlass für Studien. Er verfasste Abhandlungen über den zunehmenden Grad seines Erblindens, seine Erfahrungen als Blinder, visuelle Eindrücke, die ihm trotz fehlenden Augenlichts, quasi aus der Erinnerung heraus, beschert waren. Im Vorspann zu seinem zweiundzwanzigminütigen Experimentalfilm LE VAMPIRE DE LA CINÉMATHÈQUE schreibt der belgische Filmemacher Roland Lethem 1970: „Joseph Plateau had no shit in his eyes. Take it off from yours! And look silently.“

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Dementsprechend ist LE VAMPIRE DE LA CINÉMATHÈQUE nicht nur komplett ohne Ton gedreht, sondern auch sonst gezeichnet von einem Minimalismus, der ihn recht deutlich von Lethems früheren Werken wie beispielweise dem in Blut watendem LE FÉE SANGUINE oder dem in Sex watendem LE SEXE ENRAGÉ unterscheidet. In LE VAMPIRE DE LA CINÉMATHÈQUE sehen wir tatsächlich nichts anderes als die sich beständig drehende Phenakistiskop-Scheibe mit den oben beschriebenen Mädchen-, Hexen- und Vampirgesichtern. Die einzige Modifikation besteht darin, dass sie sich mal schneller dreht, mal langsamer, mal so, dass alles vor unseren Augen zu verschwimmen droht und sich die Metamorphose vom Mäuschen zum Monstrum innerhalb von Sekundenbruchteilen vollzieht, dann wieder so, dass wir ausreichend Zeit haben, die einzelnen Stadien der Transformation Stück für Stück nachzuvollziehen. Lethem führt das Kino somit zu seinen allerursprünglichsten Ursprüngen zurück: Nicht das zählt, was die Kamera anstellt – die ist statisch, unbewegt -, nicht das zählt, was die Montage macht – es gibt nämlich schlicht keine: vorliegender Film wurde in einer einzigen Einstellung gedreht -, nicht das zählt, was man sich an ausgefeilten Bildkompositionen ausgedacht hat – wir sehen immer nur den oberen Teil der Scheibe, vielleicht ein Drittel ihrer Gesamtgröße. Wichtig ist allein der Rhythmus, der wiederum einzig und allein dadurch zustande kommt, mit welcher Geschwindigkeit das Phenakistiskop in Bewegung versetzt wird. Deshalb mutieren scheinbar endlos die Gesichter in Lethems leidenschaftlicher Hommage an das Kino, die wirkt wie eine Liebeserklärung am Rande einer archäologischen Ausgrabungsstätte. Ich bin begeistert!

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