Was vom Tage übrigblieb ...

Euer Filmtagebuch, Kommentare zu Filmen, Reviews

Moderator: jogiwan

Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 2118
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Hugo Cabret (Martin Scorsese, 2011) 5/10

Bild

Den Roman Hugo Cabret von Brian Selznick habe ich vor deutlich mehr als 10 Jahren gelesen, ein direkter Vergleich zwischen Roman und Film verbietet sich also allein schon wegen der unzuverlässigen Erinnerung. Aber was ich noch im Kopf habe ist diese Magie, die ich beim Lesen verspürt habe. Die Magie eines Kinderbuches, das auch Erwachsene in seinen Bann ziehen kann. Das eine Geschichte spinnt, die Zeiten und Räume genauso mühelos überwinden kann wie Generationen.

Magie. Diejenige Art Magie, die von guten Erzählern verwendet wird, und die sich beim Gießen der Geschichte in einen Film so oft fast restlos verflüchtigt. Kürzlich ist mir das erst mit Tintenherz so gegangen, der als Buch so voller Leben und Liebe, voller Zauber und Schrecken ist, und der als Film zwar ganz toll aufwendig gemacht ist und sich auch nah am Buch hält, der aber seine Seele bei dieser Übertragung verloren hat.

HUGO CABRET geht es genauso wie dem armen TINTENHERZ. Die großartigen Bilder, die im Buch mit wunderbaren Worten gemalt werden, sind nach ihrem Übertrag auf die Leinwand – seelenlos. Mit dem für das moderne Kino mittlerweile üblichen Bombast werden Special Effects aneinander gehängt, kann der Zuschauer über computergenerierte Plansequenzen staunen, und sich an dem erstklassigen Spiel großartiger Schauspieler erfreuen. Aber wo bitte schön ist eigentlich die Seele der Geschichte geblieben?

Die zweite Hälfte des Films hat mich als Filmliebhaber natürlich erfreut. Die Fabel um die Wiederentdeckung des großen Georges Méliès ist herzallerliebst, die Ausschnitte aus Méliès‘ Filmen noch viel mehr, und hier passt einfach alles zusammen: Die eingesetzte Technik, die Schauspieler und die Story ergeben tatsächlich ein klein wenig Magie. Bloß, was möchte der Film denn nun eigentlich sein? Eine Wundertüte für den erwachsenen Filmnerd, oder ein Märchen für kleine und große Kinder? Letzteres würde so ein wenig die erste Hälfte beschreiben, obgleich diese wie gesagt eher mit einem gewissen gelackten Standard abgehandelt wird. Und vor allem passen die beiden Hälften des Films nicht so recht zusammen.

Womit das große Kind in mir sehr wohl noch leben könnte, und was jüngere Kinder dazu sagen würden kann ich mangels Anschauungsobjekt nicht sagen. Aber dem Kind in mir fehlt einfach der Zauber, der dem Buch innewohnt. Im Film wirkt das alles einfach so … perfekt durchgestylt. Auf großartig getrimmt. Seelenlos …
Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 2118
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Der Hexer (Karl Lamac, 1932) 7/10

Bild

Die Schwester von Arthur Milton wird tot aus der Themse gezogen, und eine Menge Leute bekommen Angst. Denn Arthur Milton ist Der Hexer, der diejenigen Gangster tötet, die meinen sich am Gesetz vorbeimogeln zu können. Und der Anwalt Meister, bei dem Miltons Schwester beschäftigt war, hat ganz besonderen Grund sich zu ängstigen, ist er doch hinter seiner respektablen Fassade in Wahrheit ein skrupelloses Schwein, das mit besonderem Vergnügen Unschuldige ins Gefängnis bringt, um seinen eigenen Reichtum zu mehren. Arthur Milton soll vor einem halben Jahr ertrunken sein, so heißt es. Doch jetzt reist seine Witwe in England ein – Warum ausgerechnet jetzt? Lebt Arthur Milton vielleicht noch? Und wird er Rache nehmen an Meister?

Bild Bild

Natürlich lebt er noch, das weiß jeder Krimifan, genauso wie die Tatsache, dass die 1964er Verfilmung zumindest in meiner Generation als Maßstab dieses Stoffes gilt. Aber ganz ehrlich, diese Fassung von 1932, die sich inhaltlich zu anderen Verfilmungen eigentlich gar nichts schenkt, dafür aber sehr nah am Roman bleibt, kann dem berühmten Vohrer-Vehikel locker das Wasser reichen, aber ganz locker. Hier haben wir halt nicht den sympathischen und erstklassigen Scotland Yard-Inspektor mit dem guten Aussehen von Joachim Fuchsberger, stattdessen bleibt Paul Richter eher trocken-unterkühlt und kann seine Rolle als Good Guy nicht wirklich ausfüllen. Aber dafür glänzt Fritz Rasp als Anwalt Maurice Meister (in der Vorlage und in den späteren Verfilmungen Maurice Messer), der als heimlicher Star des Films läuft. Seine überhebliche Art, seine abgefeimte Weise andere Menschen hereinzulegen, sie als Anwalt für das von ihm selbst begangene Verbrechen zuerst zu verteidigen und dann auch noch ins Gefängnis zu bringen, geht Hand in Hand mit der nackten Angst vor dem Hexer. Ein wahrlich diabolischer Mensch, der entsprechend oft von unten und mit unheilvollem Licht belegt wird, um den Eindruck der Bosheit erfolgreich zu steigern. Auch wenn die Theatralik manchmal etwas übertrieben scheint, für heutige Verhältnisse zumindest, so ist es auf jeden Fall ein außerordentliches Vergnügen, Rasp zuzusehen.

Genauso wie der wunderbaren Maria Solveg in ihrer letzten Arbeit vor der Kamera. Eine wunderschöne Frau mit einer grundsoliden Ausstrahlung, die dann die kommenden rund 50 Jahre mit ihrem angeheirateten Namen Maria Matray hinter der Kamera zugange war. Unter anderem war sie an den Drehbüchern für SONDERDEZERNAT K1 und DIE AFFÄRE DREYFUS beteiligt. Rasp und Solveg, allein die beiden sind die Sichtung schon mehr als wert. Auf der anderen Seite des Spektrums tummelt sich dann Karl Ettlinger als Gauner Hackett, der für die humorigen Töne zuständig ist und teilweise schon sehr clownesk rüberkommt. Die Berliner Morgenpost war 1932 ganz begeistert von ihm („ … Im komischen Bereich ist Karl Ettlingers Hackitt eine köstliche Type.“), aus heutiger Sicht übertreibt der Mann es schon gewaltig, wenn er in der Abwesenheit seines Chefs Meister versucht das Haus auszuräumen, oder bei der Ansicht des im Saufkoma liegenden Meisters in Panik gerät. Nun ja, platte Komik scheint wohl zu den Wallace-Verfilmungen einfach dazu zu gehören, und immerhin hat Ettlinger es geschafft, dass ich beim anschließenden Lesen des Romans ständig sein rundes Gesicht vor Augen hatte – Anscheinend doch eine passende Besetzung. Und vielleicht wäre DER HEXER sonst auch zu grimmig geworden, musste die Düsternis des Films wohl irgendwie durchbrochen werden. Im Rückblick ist der Mann ja dann doch irgendwie recht drollig …

Bild Bild

Erwähnenswert ist auch die außerordentliche Kameraarbeit von Otto Heller, in dessen Filmographie viele Jahre später auch Highlights wie FINALE IN BERLIN oder AUGEN DER ANGST auftauchen. Im vorliegenden Film hat er ein besonderes Händchen dafür, Stilmittel des Noir Films vorwegzunehmen, wenn er Hintergründe mit Schatten versieht oder versucht mit der Illusion abgehängter Decken zu arbeiten um eine klaustrophobische Atmosphäre zu erzeugen. Gerade die Kamera hat ihren guten Teil Schuld daran, das DER HEXER auch heute noch funktioniert, auch wenn man die Story eigentlich rauf- und runterbeten kann und meint, alles zu kennen. Wenn man mit der sehr übertriebenen Theatralik zurechtkommt auch heute noch ein starker und spannender Krimi.

Bild Bild

Bild Bild
Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 2118
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Bestialità (Peter Skerl, 1976) 7/10

Irgendwo in den Tiefen des Internets begraben.jpg
Irgendwo in den Tiefen des Internets begraben.jpg (7.4 KiB) 35 mal betrachtet

Dies war einmal ein Schloss. Es gehörte der Familie Richelieu, sie waren reich und glücklich. Sie hatten ein Mädchen, anmutig und schön. Und sie hatten einen Hund. Einen Zuchthund. Er war so schön, dass Madame mit ihm ficken wollte.
Und dann?
Dann brannte das Schloss. Die Richelieus verschwanden mit ihrer Tochter. Und das ist alles was bekannt ist
Und der Hund?
Der Hund … Der Hund …


Der Hund ist wieder da. Er begleitet die junge Jeanine, und manchmal auch den alten Fischer Ugo. Jeanine und der Hund haben die Eigenschaft, urplötzlich aufzutauchen, und wenn man kurz woanders hin geschaut hat, genauso urplötzlich wieder zu verschwinden. Dem Ehepaar Paul und Yvette geht das so – Gelegentlich begegnen die beiden dem Mädchen und dem Hund, aber eigentlich könnten die beiden auch ein Trugbild sein, so wie es der wunderliche Prediger, der immer wieder überraschend auftaucht, ausdrückt. Paul ist eigentlich Architekt und soll ein Tourismusprojekt auf dieser sonnendurchglühten Insel vorbereiten. Seine Frau begleitet ihn dabei, langweilt sich aber auf der Insel mindestens genauso wie in ihrer kinderlosen Ehe. Die kleine Gruppe vergnügungssüchtiger Nachbarn, die zu den unmöglichsten Zeiten auftaucht und Partys feiert, welche im Lauf der Zeit immer mehr zu Orgien werden, sind auch keine wirkliche Abwechslung. Doch dann freundet sich das Paar mit Jeanine an, was aber dem Hund gar nicht gefällt. Und Ugo auch nicht …

Und am Ende bleiben viele Fragen offen. Wer Ugo ist. In welcher Beziehung er zu Jeanine und dem Hund steht. Was Jeanine wirklich bewegt hat. Ob die Geschichte des merkwürdigen Privatdetektivs wahr sein könnte? Regisseur Peter Skerl weigert sich, diese Fragen zu beantworten, und erzeugt stattdessen lieber eine intensive und flirrende Stimmung unter der heißen Sonne des Mittelmeers. Sex und Mystery könnte man das nennen - wenn diese Begriffe nicht so viel Aufregung versprechen würden. Denn das Tempo des Films bleibt nach einem furiosen und skandalösen Auftakt langsam, aber intensiv. Wir begleiten Paul und Yvette durch die unendlich langweilige Hölle (Richtiger: Einöde) ihrer Ehe, und besonders Yvette erzeugt unser Mitleid, da sie Paul eigentlich immer noch liebt und fortwährend um seine Aufmerksamkeit buhlt, dabei aber völlig unbeachtet bleibt. Sie ist eine Frau im besten Alter, wie man so sagt, und die Zeichen des nahenden Alters sind nicht zu übersehen. Eine Frau, die niemals ihren Herzenswunsch eines Kindes erfüllt bekam, und darüber frustriert wurde. Die sich die Orgien ihrer dekadenten Nachbarn anschaut und angewidert ist von deren Geldgier, der Geilheit auf Sex mit wem gerade auch immer, und dem zügellosen Verhalten der Neureichen, für die die Welt ein einziger Selbstbedienungsladen ist. Yvette ist anders, und als sie die Möglichkeit hat Jeanine genauer kennenzulernen öffnet sich in ihr eine Tür. Plötzlich hat Yvette das Kind, welches sie sich immer gewünscht hat, und umsorgt es mit aller Liebe. Umso größer ist der Schock als Yvette mitansehen muss, was Paul mit Jeanine macht …

Ja, BESTIALITÀ ist kein Film für den gemütlichen Familiennachmittag. Der hier gezeigte Sex, obwohl es nicht wirklich viel davon hat, kann durchaus zu sofortigem Abschalten veranlassen. Oder zu langen Diskussionen (unter dem Motto Was schaust Du Dir denn für einen Scheiß an?). Dabei ist der Film aber nie exploitativ-reißerisch, und der Sex ist nicht wirklich selbstzweckhaft. Eher wird eine ganz eigene, eine träumerische Atmosphäre aufgebaut, die auf Erotik genauso fußt wie auf nicht gestellten Fragen. Und auf Antworten zu Fragen, die keiner kennt. Paul Muller kommentiert den Film in passenden und unpassenden Momenten als Pilger der in Sachen des Geistes unterwegs ist, leistet auch mal erste Hilfe wenn Paul von Ugo zusammengeschlagen wurde, und trägt so wesentlich zu dieser abwartenden und entspannt-aufgeladenen Stimmung bei.

Entspannt-aufgeladene Stimmung? Ja, denn eigentlich passiert nicht viel, und im Wesentlichen schauen wir nur einem älteren Ehepaar dabei zu, wie es sich den Alltag gegenseitig unerträglich macht. Skerl schafft dabei aber das Kunststück, eine Grundspannung zu erhalten – Der Zuschauer möchte wissen was als nächstes passiert, will wissen wann der Hund wieder auftaucht, ist gespannt darauf, ob Yvette, der unsere ganze Sympathie gehört, vielleicht ein kleines bisschen glücklicher werden kann. In der Hitze der Sommersonne scheint nichts unmöglich, und sowohl das plötzliche Erscheinen Ugos wie auch das des Pilgers sorgt jedes Mal für eine kleine Umdrehung an der Spannungsschraube, ohne dass dabei irgendwelche Auswirkungen im Sinne von Schocks oder Gewalt zu sehen sind. BESTIALITÀ wirkt wie ein Traum, die einzelnen Szenen scheinen sich in ihrer Unwirklichkeit oftmals wie Phantasien eines Kranken zu entspinnen, der in fiebrigen Schüben nicht mehr zwischen Hier und Dort unterscheiden kann. Hier die entspannte und gleichzeitig aufreizende Erotik eines Dreiergespanns, dort die tödliche Bedrohung durch einen Dobermann.

BESTIALITÀ kann diesen Spagat zwischen Erholung und seltsamer Erscheinung, zwischen sexuell aufgeladener Stimmung und meditativem Urlaubsflair, sehr gut ausloten, und überzeugt damit auf ganzer Linie. Es ist halt kein Film für ein Publikum, das es gewohnt ist alles vorgekaut und erklärt zu bekommen. Als aufgeschlossener Zuschauer aber beendet man diesen Film zwar mit vielen offenen Fragen, dafür aber auch mit viel Ruhe in der Seele.
Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 2118
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

The Vigil – Die Totenwache (Keith Thomas, 2019) 5/10

Bild

Die Grundidee ist gut und zugleich unheimlich: Durch eine schreckliche und böse Tat in seinem Leben hat Rubin Litvak, Überlebender aus Buchenwald, irgendwo in Osteuropa einen Dämon geweckt, der ihn sein ganzes Leben nicht mehr losgelassen hat. Der ihn immer begleitet und sein Leben zur Hölle gemacht hat. Nun ist Rubin Litvak tot, und der junge Yakov wird für 400 Dollar angeheuert, die Totenwache zu halten. Yakov war eigentlich ein lebensfroher und orthodoxer Jude, aber durch eine schreckliche Tat sind auch seine Erinnerungen vergiftet, ist seine Seele zerrissen, so wie es auch Rubin Litvak erging. Also findet sich Yakov, anstatt in den Armen der attraktiven Sarah, in einem düsteren Haus in Brooklyn mit einem aufgebahrten Toten wieder. Die demenzkranke Mrs. Litvak spukt durch die kaum beleuchteten Räume, und Yakov merkt schnell, dass da noch etwas ist. Etwas, was lebt. Und was hinter seiner eigenen, schreckliche Erinnerungen beherbergenden, Seele her ist.

Bild Bild

Die Grundidee ist gut und unheimlich. Ein Dämon, der sich bei Menschen, die an grauenhaften Dingen zu tragen haben, einnistet, und sich von deren Qualen ernährt. Und mir gefällt auch, dass man diesen Dämon nie wirklich sieht, eigentlich nur einmal richtig, und dass er dann aussieht wie Yakov. Denn es ist wohl so, dass das eigene Gewissen der grausamste Dämon aller ist. Ebenfalls gefällt mir, dass THE VIGIL sehr sehr ruhig aufgebaut ist, und das Böse nur ganz allmählich in den Film einsickert. Ein paar abgedroschene Schockeffekte können schnell als Reminiszenz an den gängigen Publikumsgeschmack der 20-Jahre des neuen Jahrtausends abgetan werden, und eigentlich wird die wenige Handlung in starken und dunkeln Bildern ruhig und gleichzeitig druckvoll vorangebracht. Eigentlich.

Denn irgendwie … hat es nicht richtig gezogen. Meine Gedanken sind oft abgeschweift, haben Subplots selbständig weitererzählt, haben mir erklärt dass heute noch das Abendessen vorbereitet werden muss und draußen die Sonne scheint. Der Film hat mich einfach nicht gepackt, ohne dass ich auf Anhieb sagen könnte woran es gelegen haben mag. Die Schauspieler sind in Ordnung, die Atmosphäre wunderbar gedrückt, der industrielle Klangteppich auf der Tonspur untermalt das minimalistische Geschehen erstklassig … aber irgendetwas fehlt. Die Aufregung vielleicht, welche die weit im Voraus angekündigten Schockmomente ein wenig ausmalen könnte? Eine explizite politische Komponente möglicherweise, die das Thema ein wenig vertiefen könnte? Nein, das wäre zu billig. Wahrscheinlich ist es einfach zu wenig, was Drehbuchautor und Regisseur in Personalunion Keith Thomas hier verkaufen möchte. Ein Toter unter einem Leichentuch in einem Wohnzimmer, argwöhnisch bewacht von einem Nervenbündel im Halbdunkel. Mehr hat es nicht (außer einer wundervoll sinnfreien aber liebevollen Szene die RAMBO perfekt hommagiert), und letzten Endes schaut man eigentlich immer nur auf das Leichentuch in der festen Erwartung, dass da irgendwann mal was zuckt. Und wenn es dann endlich soweit ist, dann kann man sich beruhigt zurücklehnen, man hat es ja schon lange vorher gewusst. Es gelingt Keith Thomas einfach nicht, die Klaustrophobie des Kammerspiels in adäquaten Druck und damit einhergehenden Horror umzusetzen. Einige Tage später habe ich dann GRETEL & HÄNSEL von Oz Perkins gesehen, und der hat eine ähnlich langsame Geschichte, die ebenfalls nicht mit Schocks sondern mit Atmosphäre arbeitet, erheblich stimmiger aufgebaut. Bei GRETEL & HÄNSEL sind Narration, Schnitt und Stimmung untrennbar miteinander verwoben und ergeben ein stimmiges Ganzes, das den Zuschauer zwangsläufig tief in den Film hineinzieht. Keith Thomas schafft das nicht – Zu betulich sind Grundaufbau und Durchführung der Geschichte, zu wenig magisch die Umsetzung.

Somit ist THE VIGIL ein netter Zeitvertreib für Nebenbei, aber ehrlich gesagt fehlt dem cineastischen Universum nichts, wenn man ihn nicht gesehen hat.

Bild Bild
Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 2118
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

New Orleans uncensored (William Castle, 1955) 7/10

Noir Archive 2.jpg
Noir Archive 2.jpg (18.18 KiB) 17 mal betrachtet

New York ist der größte Hafen der USA, und seine Abläufe sind fest in der Hand des organisierten Verbrechens. So erklärt es uns der Sprecher zu Beginn des Films, und weiter führt er aus, dass New Orleans der zweitgrößte Hafen der USA ist – Und das Verbrechen hier keine Chance hat. Ist das wirklich so?
Wir folgen dem ehrgeizigen Dan Corbett, wie er in New Orleans eigentlich nur ein altes Landungsschiff kaufen will, um damit im Westen sein eigenes Geschäft aufzumachen. Das mit dem Schiff klappt schon mal ganz gut, aber für die Restaurierung braucht er Geld. Also verdingt er sich im Hafen als Stauer. Er lernt die wunderschöne Alma Mae kennen, die aber um ihren Lover ein großes Geheimnis macht, und er lernt Joe und seine Braut Mary mitsamt deren Bruder Scrappy kennen. Es könnte alles so schön sein, aber spätestens beim Thema „verschwundene Fracht“ blockt Joe auf ganz seltsame Art jedes Gespräch und wird garstig. Das Thema ist aber wichtig, Dan gerät wegen falsch geladener oder verschwundener Fracht sogar in Prügeleien. Als Joe sich mit einem Geschäft selbständig machen will, findet man bald seine Leiche mit vier Kugeln im Leib. Scrappy erklärt Dan warum das so ist, und der Drahtzieher des Mordes, der Racketeer Zero Saxon, der sich auch gleich als Liebhaber von Alma Mae entpuppt, kommt schnell darauf, dass Scrappy gequatscht hat. Er entwickelt einen bösen Plan, wie Dan seinen Freund Scrappy ermorden wird. Alma Mae spielt da auch eine Rolle …

Bild Bild

Prinzipiell eigentlich einer von einer Masse ähnlich gestrickter Filme, punktet NEW ORLEANS UNCENSORED mit sehr starken Bildern einer modernen Großstadt. Regisseur William Castle (jawohl, DER William Castle von SCHREI, WENN DER TINGLER KOMMT) hat sich nicht gescheut, Außenaufnahmen auch auf den Straßen der Stadt zu drehen. Zum Teil, man sieht es an der Reaktion der Leute und am Unterschied im Filmmaterial, auch als Guerilladreh mitten im Verkehr und in den Menschenmengen. Diese Authentizität, wenn die Männer fürs Grobe, Big Mike und Deuce, den armen Joe verfolgen um ihn umzulegen, und dabei durch die bevölkerten Straßen New Orleans‘ laufen, die sorgt für viel Stimmung und packenden Realismus. Da muss die etwas hanebüchene Geschichte um die bemitleidenswerten Leute, die wirklich denken dass es in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts im zweitgrößten Hafen der USA keine Kriminalität gibt, einfach zurückstehen.

Wobei auch die Umsetzung der eigentlichen Geschichte sehr spannend ist. Wenn Dan Peilsender in der Fracht versteckt, oder wenn Streikende auf einem Pier im Kreis laufen und der Gangsterboss Streikbrecher auf seine eigenen Leute loslässt, dann springen Spannung und Gewalt geradezu aus dem Fernseher. Schade, dass das Ende sehr überhastet daherkommt, hier wären ein paar Minuten mehr für ein ausgiebiges Showdown sicher noch vorteilhafter gewesen.
Ich glaube meine Lieblingsszene ist, wenn Mary den Dan das erste Mal auf den Balkon ihrer Wohnung bittet. Im Hintergrund lebt und atmet und pulsiert die Stadt, und vorne schleicht sich die Kamera immer näher an das verhinderte Liebespaar, bis am Ende eine unauffällige Beleuchtung eine unglaublich erotische Melancholie in Beverly Garlands Gesicht hervorzaubert. Mary schickt Dan dann nach Hause, und das Bedauern, dieses traurige und bezaubernde Gesicht nicht trösten und küssen zu dürfen, trifft nicht nur Dan, sondern so ziemlich jeden männlichen Zuschauer. Erstklassige und überraschende Filmkunst in einem kleinen und billigen B-Film – Filme können so schön sein …

Somit bietet NEW ORLEANS UNCENSORED prinzipiell jede Menge erstklassiger B-Action, B-Charaktere, eine überzeugende Stimmung, und mit Helena Stanton eine extrem aufregende B-londine, deren Karriere gerne etwas länger hätte gehen dürfen. Dazu großartiges Handwerk an Stellen wo man es nicht erwartet hätte, und ein ungeschönter Blick in die Realität weißer alter Männer: Der örtliche Präsident der Hafenarbeiter, der Superintendent der Polizei, ein Mitglied des Stadtrates sowie der Feuerwehrhauptmann spielen alle sich selbst. Zwar zum Teil sehr hölzern, dafür aber ausgesprochen authentisch. Der Film wird sicher öfters im Player landen …

Bild Bild

Bild Bild

7/10
Antworten