Was vom Tage übrigblieb ...

Euer Filmtagebuch, Kommentare zu Filmen, Reviews

Moderator: jogiwan

Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 2776
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Assault (Sidney Hayers, 1971) 7/10

Irgendwo in den Tiefen des Internets begraben.jpg
Irgendwo in den Tiefen des Internets begraben.jpg (7.4 KiB) 169 mal betrachtet

Penthotal heißt ein Medikament, mit dem man Patienten, die in einer Katatonie gefangen sind, aus ihrer Starre befreien kann. Tessa ist so eine Patientin, seit sie auf dem Rückweg von der Schule überfallen und vergewaltigt wurde. Dr. Bartell und der Psychiater Dr. Lomax möchten Tessa wieder ins Leben zurückbringen, damit sie sagen kann wer der Täter war. Denn dieser Mann hat nach Tessa auch noch ein anderes Mädchen vergewaltigt und dieses dann anschließend ermordet, und die Polizei tappt (mal wieder) völlig im Dunklen. Die Kunstlehrerin der beiden Mädchen, Julie West, hat den Mörder zufällig gesehen und bietet der Polizei in Gestalt von Inspektor Velyan an, sich als Köder herzugeben, damit dieser Schrecken ein Ende hat. Doch niemand hat bedacht was wäre, wenn der Mörder möglicherweise gar kein Unbekannter ist …

Bild Bild

Bild Bild

ASSAULT scheint als britischer Giallo konzipiert zu sein. Wir haben eine Kunstlehrerin, die Fast-Zeugin eines Mordes wird und versucht, sich an Details zu erinnern. Wir haben Gewalt gegen junge Mädchen in Schuluniform, die sich gar so gerne promiskuitiv verhalten möchten. Es gibt ein paar wenige, dafür aber hocheffiziente rote Heringe, schwarze Handschuhe wandern zweimal sehr auffällig durch das Bild, und wenn das Showdown im Wald eingeläutet wird fallen mir automatisch Szenen aus Filmen wie DER KILLER VON WIEN ein, wo einsame Natur, Wald und Wind zu einer perfekten Einheit des Schreckens zusammengefügt werden.

Wenn nur die Regie sich nicht manchmal so entsetzlich selber im Weg stehen würde. Das Tempo der Geschichte ist relativ hoch, wird durch den teilweise druckvollen Score noch zusätzlich unterstützt, und eigentlich könnte man sich dem Rausch der Story völlig hingeben - Wenn der Score nicht an einigen Stellen so furchtbar unpassend wäre und damit die spannende Geschichte konterkarieren würde. Die Kamera hat einige sehr starke Momente und kann viel Atmosphäre erzeugen, aus der dann wiederum viel Spannung gezogen wird. Die Farbe Rot spielt hier eine bemerkenswerte Rolle, gerade da Julie West darauf hinweist dass sie den Teufel gesehen hat, und wird von der Kamera auf sehr eindrückliche Weise dargestellt - Wenn die Kulissen auf der anderen Seite nicht manches Mal so schrecklich an ein ZDF-Fernsehspiel erinnern würden. Die Schauspieler, immerhin das Kapital eines dialoglastigen Spannungsfilms, sind in Ordnung - Aber manchmal so verdammt hölzern. Frank Finlay als Inspektor Velyan kann entweder mit seiner Rolle gar nichts anfangen, oder er hat die Rolle missverstanden und versucht wie ein Stück Holz zu wirken. Dieses gelingt ihm dann allerdings relativ überzeugend. Ähnliches gilt für die junge Lesley-Anne Down, deren Karrierestart mit der Darstellung einer katatonischen jungen Frau vielleicht ein klein wenig unglücklich gewählt wurde. Und vor allem im ersten Drittel habe ich oft das Gefühl einer verlängerten SCHIRM, CHARME UND MELONE-Folge beizuwohnen, in der jeden Moment John Steed und Emma Peel ins Bild treten. Kurioserweise erinnert vor allem die Vorbereitung auf den Showdown an eine andere Brian Clemens-Serie, wenn nämlich, während die Polizeiautos durch den Wald rasen, ich eigentlich nur noch auf die CI5-PROFIS Bodie und Doyle warte, während die Musik diese Serie bereits vorwegnimmt …

Bild Bild

Bild Bild

Eigentlich. Eigentlich ist ASSAULT gutes und effektives Thrillerkino der ordentlichen Art mit einem schweren Hang zum damals gerade hochaktuellen Giallo. Aber leider steht sich die Regie dabei gerne mal selber im Weg und traut sich nicht so recht, den eingeschlagenen Weg auch zur Zufriedenheit des Zuschauers zu gehen. Der dadurch entstehende Kompromiss zeitigt immer noch einen starken Thriller, der aber eben ein paar auffällige Schwachpunkte hat, mit denen man dann eben leben muss. Schade, dass da nicht Brian Clemens als Produzent zugange gewesen ist …
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 2776
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Peppermint – Angel of Vengeance (Pierre Morel, 2018) 6/10

Bild

Wenn die Familienmama zum Racheengel wird. Riley North muss mitansehen, wie ihr Mann und ihre kleine Tochter von den Schergen eines Drogenkartells niedergeschossen, und die Lumpen anschließend freigesprochen werden. Also stiehlt sie kurzerhand 55.000 Dollar aus der Bank in der sie arbeitet, geht für fünf Jahre nach Europa und Hongkong und lernt kämpfen. Jetzt ist sie wieder da und will den Kopf des Drogenbosses. Und der korrupten Justizbüttel. Und irgendwie den Kopf von so ziemlich allen miesen Schweinen die in L.A. rumlaufen …

Meine Frau und ich waren uns, selten genug dass das vorkommt, einig: Alles sehr vorhersehbar, aber gute Unterhaltung. Es macht einfach Spaß zu sehen, wie Riley einem Alkoholiker ihre Knarre ins Maul steckt und ihn damit zu dem Versprechen nötigt, seinem kleinen Sohn ein schönes Weihnachtsgeschenk zu kaufen, anstatt die Kohle für Schnaps auszugeben. Und genauso spaßig ist es, zu erfahren, dass die Kriminalität an der Skid Row seit der Ankunft Rileys zurückgegangen ist. Weil da jetzt ein Engel seine Runden dreht! Die kleine schmale und unscheinbare Ex-Mama macht via Sturmgewehr und Butterflymesser alles nieder was bei drei nicht im Knast ist, und beschert dem Zuschauer damit zugegeben rund anderthalb ziemlich vergnügliche Stunden. Wer andere Filme von Pierre Morel kennt, sagen wir FROM PARIS WITH LOVE oder 96 HOURS, kennt auch PEPPERMINT, die Unterschiede zwischen den Genannten erschöpfen sich in der Besetzung. 08/15-Ballerunterhaltung für den Mainstream, aber mit einem gewissen Selbstjustiz-Bonus hübsch anzuschauen.
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 2776
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Running with the Devil (Jason Cabell, 2019) 6/10

Bild

Das Koks, das seit einiger Zeit in der Stadt ankommt, wird irgendwo auf dem weiten Weg zwischen Kolumbien und Kanada gestreckt. Irgendwo an einer der vielen Stationen ist einer, der den großen Boss in Vancouver linken will. Der Koch wird nach Kolumbien geschickt, um zusammen mit dem Vollstrecker auf die Ware aufzupassen und die faule Stelle zu finden. Ist es vielleicht der Bauer, der den Stoff anbaut und die Rohware erstellt? Oder einer der Kuriere? Möglicherweise der Mann, der die Ware in die USA schmuggelt? Oder ist die Stelle vielleicht noch viel näher an der kanadischen Grenze zu finden? Und wer kann schon ahnen, dass die DEA längst Wind bekommen hat von der Sache und ihre Agenten hinter dem Koch hergeschickt hat …

Bild Bild

Bild Bild

Ein interessantes filmisches Experiment: Wir sehen einen gefesselten Mann, der von offensichtlichen Gangstern zu seiner Hinrichtung geführt wird. Dann folgen wir einem Unbekannten, der in einem Club Koks an zwei junge Frauen verteilt. Ein kleines Kind, das der Schulbusfahrerin erklärt, dass es seine Eltern nicht aufwecken kann. Eine DEA-Agentin, die zu einem Einsatz gerufen wird. Ein Pizzakoch der sein Restaurant zum Öffnen vorbereitet. Ein Schwarzer der sich in einer Peepshow einen runterholt. Und Soldaten die einen Transporter mitsamt bewaffneter Begleitmannschaft zusammenschießen. Das Stückwerk geht noch eine ganze Zeit so weiter, und immer werden die Bezeichnungen der Personen eingeblendet. Der Koch, der Vollstrecker, der Informant … Was nach einem müden Abklatsch der Tarantino’schen Inszenierungen klingt hat hier sehr wohl Sinn, denn Namen gibt es in diesem Geschäft keine, das Geschäft ist anonym. Und jeder kennt immer nur sein kleines Stück des Puzzles, einzig der Boss kann das große Ganze überblicken. Der Boss, der Koch und der Vollstrecker. Der Zuschauer. Und noch einer.

Dieses Stückwerk begleitet den gesamten Film, was ihn sehr abwechslungsreich macht, und sehr realistisch. Auch die DEA-Agenten müssen versuchen diesen Dschungel an einzelnen Bausteinen zu durchdringen, und bis zum grandiosen Schluss bleibt die Rolle so manch einer Person rätselhaft. Was nichts anderes bedeutet, als dass wir als Zaungast in die Welt der Drogengeschäfte hineinschnuppern. Als jemand, der an einer beliebigen kleinen Stelle seine Arbeit verrichtet, und sonst nichts oder kaum etwas weiß. Oder als DEA-Agent, der zufällig an einer Stelle in das Konstrukt hineinlinsen darf, aber nicht ahnt, wie tief die Welt dahinter ist. Der Grundton des Films ist dabei völlig lakonisch, die Personen sind cool und dürfen keine Gefühle zeigen, außer sie haben sich die Birne schon völlig weggeballert. Aber dieses Abgeklärte, was niemals à la Quentin Tarantino überzeichnet wird sondern immer auf dem Boden der Tatsachen bleibt, das gibt dem ablaufenden Drama eine ganz besondere Note. Dies, und das starke Ende. Und es ist dabei völlig egal ob einem Kurier der Hals durchgeschnitten oder eine verkokste Nacht mit einer Nutte verbracht wird – Die Grundhaltung bleibt immer gleichmäßig distanziert.

Bild Bild

Bild Bild

RUNNING WITH THE DEVIL zeigt sich als überaus beachtenswertes filmisches Experiment im Genrerahmen. Kein Überflieger der zu Jubelschreien animiert. Aber spannendes und gutes Kino mit einer außergewöhnlichen Blickweise und einem interessanten Zirkelschluss. Passt.
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 2776
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Die Mafia-Story (Gianfranco Mingozzi, 1968) 8/10

Bild

Ein Land, zerrissen zwischen Armut und Gewalt. Ein Land, dessen Wurzeln bäuerlich sind, und dessen Zukunft offensichtlich in der bedingungslosen Hinwendung zur Moderne zu liegen scheint. In dem Touristen die wilde Schönheit der Natur bewundern und kaum merken, dass diese Wildheit und Natürlichkeit in erster Linie Armut und Gewalt beherbergen.

Der Sarde Francesco Marras zeigt seiner römischen Freundin Christina seine Heimat. Nach einem Unfall(?) wird er gezwungen Christina aussteigen zu lassen und alleine weiterzufahren. Christina wird von zwei Männern aufgegabelt und zur Küste gebracht: Francesco wurde soeben entführt. Das Lösegeld beträgt 80 Millionen Lire, und der Vater Francescos hat nur eine Möglichkeit soviel Geld aufzutreiben, nämlich indem er seine Ländereien verkauft. Gavino, der Jugendfreund Francescos, versucht zwischen den Entführern und dem Vater zu vermitteln. Versucht Christina davon abzuhalten zur Polizei zu gehen. Versucht einen Weg zu finden, Francesco da alleine herauszuholen. Denn ihn stört, dass die „Banditen“, die dahinterstecken, über die dahinterliegenden Grundstücksgeschäfte mitnichten die für sie wertvollen Weidegründe in den Bergen bekommen, sondern das Gelände in Küstennähe, welches für sie, kleine und mittellose Hirten und Bauern die sie sind, wertlos ist. Und er kombiniert, dass hinter den Banditen noch jemand anderes steckt, der intelligenter ist und die Entführungen sehr gezielt steuert. Gavino bietet sich als Köder an.

Bild Bild

[Bild Bild

Ein Land, zerrissen zwischen Vergangenheit und Zukunft. Kleine Dörfer in den Bergen, nur über schmale Pfade zugänglich, wenn überhaupt. Häuser die eher Ruinen gleichen. Bitterste Armut. Alte Frauen in schwarz, die ihre Wäsche am Dorfbrunnen waschen, und junge Männer in verwaschener und zerrissener Kleidung. Die sich mit Gewehren über der Schulter und harten und verschlossenen Gesichtern im steinigen Gelände so gekonnt bewegen wie Bergziegen. Eine wilde und schöne Landschaft, die die Härte und Einsamkeit dieser Menschen in ihrer Sinfonie aus Stein und Wald fortsetzt. Und dazwischen immer wieder die Zeichen der Moderne. Neue Straßen aus Asphalt, die die Landschaft erbarmungslos zerschneiden. Eine historisierende Ferienanlage am Meer, gebaut für die Touristen, mit Luxuskarossen auf dem Parkplatz. Eine Zugverbindung, die von vielen jungen Menschen genutzt wird, welche auf einem tragbaren Plattenspieler die neusten Schlager hören, während in der Bar alte Männer die traditionellen Lieder singen. Bilder eines Landes …

Und in diesen (für uns) pittoresken Eindrücken dann Menschen, die zusehen müssen wie ihre Heimat nach und nach verkauft wird, ohne dass sie selber davon etwas haben. Was treibt einen Schäfer dazu, sich von der Schäferei abzuwenden und das einträgliche Geschäft der Entführung von Menschen zu betrieben? Die Antwort lautet Geld, aber auch Land. Der Schäfer braucht Land für seine Schafe, und das Land ist im Besitz einiger weniger Familien, die es nicht hergeben wollen. Also betreibt der Schäfer eine Art Tauschhandel: Familienangehöriger gegen Land. Doch was ist, wenn der Schäfer nicht mehr das wertvolle Weideland im Landesinneren für seine menschliche Ware bekommt, sondern das für ihn wertlose Land am Meer. Das, wo seine Schafe keine Nahrung finden, und von dem sich in erster Linie Immobilienhaie ernähren können?

Und über diesem ganzen fragilen Konstrukt schweben immerzu zwei Zustände: Angst und Gewalt. Jeder, der aus einer besseren Familie kommt, hat Angst entführt zu werden. Die andern haben Angst in diese Geschichten hineingezogen zu werden. Oder plötzlich als Verräter dazustehen. Was zu Gewalt führt. Gewalt ist allgegenwärtig. Es muss auch gar keine Gewalt angewendet werden um Francesco dazu zu bringen, dass Christina aussteigt. Die Stimme. Die aus den Bergen ruft, reicht bereits, um ihm Angst zu machen. Die in der Wortwahl mitschwingende Gewalt ist gleich entsetzlicher Angst. Die Worte „Lass die Frau aussteigen“ sagen ihm klar, was jetzt passieren wird. Und wie sein Schicksal sein wird.

In den Blicken, die sich Francesco und Christina zuwerfen, ist diese Angst deutlich zu spüren, genauso wie in den Blicken zwischen Gavino und seinem Vater. Ganz zu schweigen von den Bauern, die mit dieser Angst ununterbrochen leben müssen. Angst vor den Soldaten oder vor den Carabinieri. Angst vor der Zukunft. Angst vor allem Fremden. Regisseur Giancarlo Mingozzi gibt diesen Menschen viel Raum. Er zeigt ihre Gesichter, ihre ärmlichen Lebensumstände, er deutet ein klein wenig ihrer Kultur an und er zeigt immer wieder ihre Angst. Und wenn am Ende der Hintermann der Entführungen seiner mutmaßlichen Exekution entgegenfährt, dann wirkt dies auch nicht wie eine Befreiung von der Angst, sondern eher wie ihre Kulmination. Die Luft im Auto ist zum Schneiden dick, und jeder, aber auch wirklich jeder, hat Angst.

Bild Bild

Angst braucht ein Ventil, und dieses Ventil heißt im Film genauso wie im wirklichen Leben Gewalt. Die „sanfte“ Gewalt der Männer gegenüber ihren Frauen, denen sie befehlen können wie sie gerade wollen, genauso wie die Gewalt gegenüber den Besserverdienenden, deren Reichtum umverteilt wird in die Hände klandestiner Organisationen. Gewalt heißt aber auch, dass, wenn ein Schäfer ein Schaf durch einen Unfall verliert, er sich woanders ein Schaf stiehlt. Und dafür ins Gefängnis kommt. Gewalt kann genauso ein Auto bedeuten, dass hinter einem herfährt. Oder Männer die dastehen und beobachten.

Der gebürtige Norditaliener Giancarlo Mingozzi schaut genau hin in diese für ihn fremde Welt, und er zieht den Zuschauer mit in eine spannende und entsetzlich abgründige Geschichte, die für einen Städter genauso wie für einen Mitteleuropäer auch auf dem Mond spielen könnte, so fremd und anders ist das was uns da gezeigt wird. Und bei aller Faszination, und vor allem bei aller Spannung die Mingozzi in seine Geschichte legt, das allmählich wachsende Grauen ist auch heute, mehr als 55 Jahre nach der Entstehung des Films, immer noch da, und schleicht sich langsam das Rückgrat des Zuschauers hinab. Und mit ein klein wenig Recherche im Internet wird auch schnell klar, dass das organisierte Verbrechen im Italien des 21. Jahrhunderts genauso funktioniert wie „damals“. Und die Gänsehaut wird umso größer.

DIE MAFIA-STORY ist großartiges, spannendes, anklagendes, kritisches und packendes Genrekino, wie es in dieser Schärfe und gleichzeitig mit diesem Unterhaltungswert heute nicht mehr gedreht wird.

Bild Bild

Bild Bild
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 2776
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Das Netz der 1000 Augen (Robert Enrico, 1974) 6/10

2035_0.jpg
2035_0.jpg (20.57 KiB) 96 mal betrachtet

Paranoia. Das Gefühl, verfolgt zu werden. Hinter jedem Zufall und jedem dummen Ereignis steckt Absicht. SIE wollen einem habhaft werden. SIE wollen den gebeutelten Menschen fangen einsperren foltern töten. War da gerade ein Geräusch? Sie kommen. Kommen SIE?

David geht es so. David ist aus einem Gefängnis entflohen, in dem er eingesperrt und gefoltert wurde, weil er, wie er sagt, etwas gesehen hat, was er nicht hätte sehen dürfen. David flieht durch das Land und kommt bei Thomas und Julia unter, einem Paar, das auf einem einsamen Hof irgendwo in den Cevennen im Südwesten Frankreichs lebt. Er ist Schriftsteller, sie bildhauert, und das Leben könnte schön sein. Schön und ruhig. Und vielleicht ein wenig langweilig. Aber da ist David, und David weckt Gefühle und Gedanken, die lange verschüttet zu sein scheinen. Thomas ist eigentlich ein abenteuerlustiger welcher, und er ist sofort bereit, sich mit Haut und Haaren der Hilfe des fremden Mannes zu verschreiben. Es lockt die weite Welt, die Aufregung, das Ungewisse. Staatliche Institutionen verfolgen einen Mann, und was ist schon der Staat für jemanden, der weitgehend autark in der Einöde lebt? Julia sieht das anders, Julia hat sich in diesem ruhigen und einsamen Leben mit dem Mann den sie liebt wohlig eingerichtet. Aber was bleibt ihr übrig? Sie geht mit David und Thomas raus aus der Idylle, sie wollen nach Spanien, nachdem das Militär sie bereits eingekesselt hatte und auf ihrem eigenen Grund und Boden auf sie geschossen hat. Ein Versehen, natürlich. Die Straßensperren auf dem Weg zur Grenze wirken sehr zielgerichtet, das Boot, mit dem sie nach Spanien wollten, ist zerstört, und es stellt sich die Frage, ob David der entlaufene Psychopath ist, als der er von der Presse geschildert wird, oder ob er wirklich ein Geheimnis kennt, dessen Wissen sein Leben und das Leben aller ihm nahestehenden Menschen gefährdet. Thomas ist auf jeden Fall entschlossen, das Abenteuer bis zum Schluss durchzustehen. Und nach dem ersten Toten ist Julia entschlossen, das Abenteuer zu beenden: Sie schreibt ihrem Bruder wo sie sich befindet …

Bild Bild

Paranoia. Das Gefühl, verfolgt zu werden. Warum muss das Militär genau jetzt auf dem Hof von Thomas Krieg spielen? Warum ist das Boot kaputt? Was macht der Waldarbeiter dort am Strand? Warum sind die Reifen des Transporters alle aufgeschlitzt? OK, letzteres weiß der Zuschauer, im Gegensatz zu Thomas und David, aber es gibt wirklich der merkwürdigen Zufälle einige, und DAS NETZ DER 1000 AUGEN baut geschickt eine Atmosphäre der Unsicherheit auf, in der man nie weiß ob oder ob nicht. David könnte tatsächlich, so wie die Zeitung schreibt ein netter und harmloser Mann sein, der nur dann zur Waffe greift wenn er sich in die Enge getrieben fühlt. Doch Thomas‘ Pistole hat er sich mit bemerkenswerter Sicherheit und Schnelligkeit angeeignet. Und seine Angst scheint echt, genauso wie der Wunsch, seinen Peinigern nicht lebendig in die Hände zu fallen.

Das Gefühl, verfolgt zu werden. Das Auto hinter dem eigenen, wie lange fährt das da schon? Der Film spielt in genau dieser Stimmung der Unsicherheit und Angst, und zieht den Zuschauer damit langsam und zielsicher in ein Netz, in dem er sich nicht mehr bewegen kann, und nur noch auf die Erlösung wartet. Die Erlösung in Form der Verfolger. Aber DAS NETZ DER 1000 AUGEN hat noch eine andere Ebene, eine vielschichtigere und politische Ebene, deren Erkenntnis ich dem hervorragenden Text vom Bretzelburger zu verdanken habe, der mich tatsächlich erst auf diese Ebene stoßen musste.

Mitte der 70er-Jahre war das gesellschaftspolitische Klima in Europa noch ein ganz anderes als heute. Menschen diskutierten über Politik, sie stritten darüber, sie mischten sich ein. Und einige gingen in den Untergrund und versuchten, mit Waffengewalt die bestehende Gesellschaft zu verändern. Es gab viele, die diesen letzten Schritt der Aufgabe der bürgerlichen Existenz nicht gehen wollten oder konnten, die aber den Kämpfern im Untergrund durchaus wohlwollend gegenüber standen. Die Wohnungen oder Autos bereitstellten, und heimlich eine bestimmte Art der Opposition zum Staat aufbauten. Sympathisanten nannte man diese Menschen damals, weil sie den Ideen der in den Untergrund abgetauchten gegenüber aufgeschlossen waren.

DAS NETZ DER 1000 AUGEN stellt nun drei archetypische Menschen jener Zeit in Relation. Da ist David, der Mann auf der Flucht. Möglicherweise ein Terrorist, möglicherweise ein Geistesgestörter, vielleicht auch etwas dazwischen oder jemand ganz anderes. Erst die allerletzen Bilder des Films werden uns darüber Aufschluss geben. Dann ist da Thomas, der dem Flüchtenden Unterschlupf und Logistik zur Verfügung stellt. Der Sympathisant, der Verfolgten hilft, auch wenn deren Motive völlig unklar sind. Und natürlich Julia, die Bürgerliche, die sich von der eventuellen Gesetzlosigkeit zwar kurzzeitig angezogen fühlt, aber beim genaueren Nachdenken, und vor allem beim Verlassen ihrer Komfortzone (so würde man es heute ausdrücken) in scharfe Opposition zu dem Verfolgten geht.

Bild Bild

Somit stellt der Film ein filmüblich komprimiertes Modell der europäischen Gesellschaft der Mitt-70er dar, und wie von so vielen Linken damals gefühlt, steht dieser Gesellschaft der Staat als namen- und konturlose Bedrohung gegenüber. Ein Moloch, der seine Bürger anscheinend bedroht und im Bedarfsfall verfolgt. Sie möglicherweise grundlos verfolgt, nur weil sie … Eine andere Meinung haben? Sich einmischen? Eine andere Vorstellung von Leben haben als es Staat und Gesellschaft vorgeben?

Robert Enrico zeichnet ein genaues Bild dieser Gesellschaft und dieser Zeit, heruntergebrochen auf drei Menschen und eine unbekannte Bedrohung. Und wenn man diese Ebene erkennt, dann zieht sich der Magen des Zuschauers schnell zusammen. Dann wird aus dem klaustrophoben Paranoiathriller, dessen Erzählrichtung lange Zeit so unklar erscheint, schnell eine bittere Anklage auf die Mechanismen der damaligen(?) Zeit, in Verbindung mit einer Analyse der Gesellschaft und ihrer Befindlichkeiten. Und dann schmerzt DAS NETZ DER 1000 AUGEN erst so richtig, wenn man sich heute(!) nach der Sichtung eines 50 Jahre alten Films fragt, inwieweit diese Mechanismen und Befindlichkeiten sich denn geändert haben. Oder auch nicht …

Bild Bild

Bild Bild

http://bretzelburger.blogspot.com/2011/ ... z-der.html
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 2776
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Motherless Brooklyn (Edward Norton, 2019) 8/10

Bild

New York, irgendwann ab der Hälfte der 50er. Der Privatdetektiv Lionel schnüffelt sich im Auftrag seines Freundes und Chefs Frank Minna durch New York, und ist dabei eigentlich recht zufrieden mit seinem Leben. Recht zufrieden bedeutet eine kleine Wohnung mit Aussicht auf die Brooklyn Bridge, gute Freunde in der Arbeit, und etwas im Kopf was wie Glas ist, und ihn manchmal die Kontrolle über sich und sein Verhalten verlieren lässt. Lionel hat Tourette.
Lionel zieht also mit seinem Freund und Chef Frank Minna einen Auftrag durch, der gnadenlos in die Hose geht. Am Ende ist Frank tot, erschossen, und die letzten Worte Franks geben ein Rätsel auf. Aus alter, sehr alter Freundschaft heraus, will Lionel das Rätsel lösen.

Bild Bild

Bild Bild

New York, irgendwann ab der Hälfte der 50er. Am Broadway läuft Look back in anger, und in den Clubs geben sich Thelonious Monk, Chet Baker und Miles Davis die Instrumente in die Hand. Die Stadt summt vor Aktivität, vor Aufregung, vor Rhythmus und Kriminalität. Be Bop und Cool Jazz untermalen die Herrschaft von Korruption und Mafia, den zunehmenden Ärger über die Rassentrennung und den Aufstieg einer jungen und nervös-neugierigen Generation, die später mal als Beatniks bekannt werden. Und mittendrin dieser kleine Schnüffler mit der merkwürdigen Krankheit, der sich oft nicht zurückhalten kann und Schweinereien schreit. Oder sein Gegenüber berührt. Und wieder. Und nochmal. Und der ganz tief im Müll dieser großen Stadt wühlt um ihre Geheimnisse zu entdecken.
Die Stadt ist fest in der Hand einiger Bauunternehmer, die die Slums abreißen und durch Straßen, Brücken und Parks ersetzen wollen. Und was ein Slum ist, das definieren die Bauunternehmer selber. Der Bürgermeister? Ist Teilhaber bei den Baufirmen. Der zuständige Stadtrat? Dem gehört die Baufirma. Lionel? Der stochert in diesem Sumpf aus Korruption und Mord herum, hat keine Ahnung auf was er sich da eigentlich eingelassen hat, aber er kriegt ein paar Mal böse was in die Schnauze. Wenn da nicht die Freundschaft zu Frank wäre. Und die zart aufkeimende Liebe zur jungen Laura, die den Bauunternehmer und Stadtrat Moses Randolph angehen will, und deswegen selber höchst gefährlich lebt.

Was Lionel bei seiner verzweifelten Suche entdeckt übersteigt sein Begriffsvermögen jedoch bei weitem. Und das des Zuschauers auch. Die Handlung von MOTHERLESS BROOKLYN orientiert sich an den klassischen Noirs der 40er-Jahre, bei denen es auch nicht wirklich um das Geflecht aus Geschäft und Kriminalität ging, sondern um das Vermitteln einer Stimmung. Eines Flairs. Einer Geschichte in die man sich hineinfallen lassen kann, auch wenn man nicht versteht worum es geht, und die Story selber sich irgendwann als ein einziger MacGuffin entpuppt der nur dazu dient, coole Männer und schöne Frauen auf harte Gangster mit großen Wummen und korrupte Cops mit noch größerem Hunger auf Geld treffen zu lassen.

Und genauso funktioniert auch MOTHERLESS BROOKLYN. Das Beziehungsgeflecht, dass Paul, Randolph und Lionel da versuchen wortreich zu erläutern, ist konfus und undurchsichtig und interessiert schnell nicht mehr. Viel aufregender ist es, Edward Norton dabei zu beobachten, wie er durch die Straßen eines längst untergegangen scheinenden New Yorks zieht und eine junge Frau observiert. Wie er in einer Kaschemme in Harlem Jazz lebt. Wie er mit Tricks und Schummeleien seinen Job bis zum Äußersten treibt, nur um dann am Schluss doch wieder mit leeren Händen da zu stehen. Tut er das? Nein, nicht wirklich. Das bemerkenswert actionlose Ende ist eines, das viele Handlungsebenen zufriedenstellend zu Ende bringt, ohne dass ein einziger Schuss fällt, oder ohne irgendwelchen Toten oder gar noch Schlimmerem. Ein paar Leute freuen sich, andere werden sich ärgern (was man aber nicht mehr sieht), und als Zuschauer stellt man fest, das dieses kühle Ende zu der lakonischen Geschichte passt wie Schließfach zu Schlüssel. Denn der ganze Film ist irgendwie wie ein Herbstspaziergang durch eine andere Zeit. Man beobachtet die Männer in ihren Trenchcoats und den großen Hüten, man bestaunt die Karossen die auf den Straßen unterwegs sind, freut sich über die altmodischen Häuser, und irgendwann geht man einen Kaffee trinken oder verzieht sich in einen Club zum Jazz hören. Man raucht ein Haschpfeifchen und lässt den Tag mit Charly Parker und einem Glas Whiskey ausklingen, oder man beobachtet den Verkehr auf der Brooklyn Bridge und schläft mit Thelonious Monk im Ohr ein.

Bild Bild

Bild Bild

Und wer jetzt denkt, dass MOTHERLESS BROOKYLN vielleicht langweilig klingt, dem sei gesagt, dass von den 145 Minuten wirklich jede einzelne gefüllt ist mit Musik, mit Stimmung, mit Liebe und mit Tod. Der Film ist keine Minute zu lang, und er kann seine Geschichte(?) so gut hinter den erstklassigen Schauspielern verbergen, dass man als Zuschauer andauern darauf wartet, dass dieses oder jenes Rätsel endlich gelöst wird, und der Fokus liegt hier durchaus auf dem Begriff Spannung. Und spannenderweise(!) hält der Film diese Spannung, auch wenn der Krimi irgendwann sich ein wenig auflöst, verklingt wie ein cooles Arpeggio im Wind.

Hm, eigentlich wollte ich etwas ganz anderes schreiben. Von den klitzekleinen Regiefehlern, die zeigen, dass Produzent, Drehbuchautor, Regisseur und Hauptdarsteller Edward Norton in Personalunion sich an der ein oder anderen Stelle vielleicht doch ein ganz klein wenig verhoben hat. Von der weitgehenden Unmöglichkeit, das Flair der 50er so authentisch darzustellen, dass man sich tatsächlich in einem Film aus dieser Zeit wähnt. Davon, dass MOTHERLESS BROOKLYN kein Noir im reinen Sinne ist. Wie merkwürdig der Name des Films, der auch der Spitzname Lionels ist, wirkt. Warum die Hauptfigur unbedingt Tourette haben muss (Da gibt es tatsächlich eine Antwort drauf: Weil das in der Romanvorlage auch so ist!). Dass die Frage auftaucht, ob der Name Randolph wohl zufällig gewählt wurde, oder als Anspielung auf den Medientycoon Randolph Hearst zu verstehen ist. Und auf wen der Trompeter mit der Narbe, der nach 9 Jahren wieder in New York spielt und neue Töne mitgebracht hat, auf wen dieser Mann wohl in der Wirklichkeit verweist. Und dass nicht immer alles ganz stimmig ist in dieser Welt.
Aber irgendwie scheinen diese Punkte im Rückblick egal, sind die kleinen Verstimmungen unwichtig gegenüber dem großen Ganzen, das den Zuschauer so kühl-elegant und lakonisch einfängt und nicht mehr loslassen mag. MOTHERLESS BROOKLYN ist großes Märchenkino für alle, die den Stoff aus den 40ern und 50ern mögen. Die Musik. Die Autos. Die Frauen. Und natürlich die Filme.

Bild Bild

Bild Bild
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 2776
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Hirusagari no onna: chôhatsu!! (Nobuyuki Saitô, 1979) 6/10

Irgendwo in den Tiefen des Internets begraben.jpg
Irgendwo in den Tiefen des Internets begraben.jpg (7.4 KiB) 57 mal betrachtet

Wer auch immer denkt, dass die italienischen Exploitation-Filme der 70er Grenzen ausgelotet haben, wer auch immer denken mag, dass der Einstieg in Sergio Griecos DER TOLLWÜTIGE harter Stoff ist, der hat HIRUSAGARI NO ONNA: CHÔHATSU!! noch nicht gesehen. Katsukos Martyrium ist definitiv derber und grenzwertiger Stoff.

Dabei fängt das alles so heiter und verspielt an: Nachdem eine Patientin ihren Zahnarzt verführt hat, will dieser anschließend mit seiner Frau Katsuko vögeln. Aber die will nicht, ihre perfekte Figur würde unter einer Schwangerschaft leiden. Eine Ohrfeige und eine Vergewaltigung später verlässt Katsuko ihren Mann. Bei einem Unfall lernt sie den schüchternen Yuki kennen, den sie unbedingt ins Bett bekommen will, doch der ziert sich ohne Ende, und hat anscheinend gar kein Interesse an Katsuko.
So weit, so gut, so harmlos. Irgendwo in der Provinz kehren die beiden in ein Restaurant ein. Sie gehen gemeinsam auf die Toilette, doch Katsuko kehrt alleine zurück. Sie wundert sich, der Wirt erklärt ihr noch dass sie alleine gewesen sei, und die drei anwesenden Bauarbeiter geben Töne der Geilheit von sich. Im Auto kombiniert Katsuko, was sie gerade gesehen hat: Ein blutiges Stahlrohr, einen Mann der über einem Leichnam kauerte und lachte, und sie kombiniert, dass mit Yuki etwas passiert ist. Doch da kommen die drei Bauarbeiter auf einem Bulldozer und verfolgen Katsuko. Sie kann die drei zwar abhängen, aber nur, um in die Hände eines jungen Pärchens zu geraten. Das Mädchen hat gerade abgetrieben und trägt die Knochen ihres Kindes in einer Büchse mit sich herum, und außerdem fordert sie ihren Begleiter auf, Katsuko zu vergewaltigen. Gesagt getan, und hinterher wird Katsuko irgendwo abgeladen und das Auto gestohlen. Dumm nur, dass die drei Bauarbeiter nicht wissen, dass Katsuko gar nicht mehr in dem Auto sitzt. Das Mädchen wird vergewaltigt, der Junge getötet. Doch Katsuko, die das Drama beobachtet, macht aus Versehen auf sich aufmerksam, woraufhin die drei Katsuko einsammeln, das junge Mädchen zusammenschlagen, und mit den Frauen wieder in das Restaurant fahren. Wo neben dem homosexuellen Wirt, der den ebenfalls schwulen Yuki als zukünftigen Loverboy gefangen hält, noch ein Polizist ist, dessen Frau mit einem anderen durchgebrannt ist, und der jeglichen Bezug zur Realität verloren hat. Jede Frau ist seine Frau, und jede Frau muss dafür büßen und leiden. Leiden müssen auch Katsuko und das junge Mädchen, denn Yuki ist schwach und feige, und traut sich nicht, in die Massenvergewaltigung einzugreifen.

Bild Bild

Bild Bild

Sex und Gewalt. Gewalt und Sex. Gewalt ist wie Sex, und Sex ist wie Gewalt. Hier geht es nur darum zu ficken, und wenn man es nicht freiwillig bekommt nimmt man sich die Frau seines Begehrens einfach. Ein Stein auf den Kopf, die Beine spreizen und los geht es. Danach darf der Kumpel drüber, und dann geht alles wieder von vorne los. Soviel Frauenfeindlichkeit muss man erstmal durchhalten, und in der zweiten halben Stunde ist der Film tatsächlich nur schwer zu ertragen, obwohl kaum Blut fließt und fast keine Nacktheit zu sehen ist. Die Stimmung, diese absolut humorlose Gewalttätigkeit, die in so starkem Kontrast zur ersten halben Stunde steht und dabei auf der Tonspur konsequent mit fröhlich-seichtem Gedudel unterlegt wird, welche auch in jede italienische sommerlich-leichte Liebeskomödie passen würde, diese Stimmung ist schon ganz ganz übel. „Schauwerte“, wie immer man das Wort nun auch definieren mag, hat es wie gesagt keine, der Film lebt ausschließlich von seiner unglaublich stupiden Brutalität, die durch die Enge des Restaurants und die Primitivität der Männer einen Film wie ICH SPUCK AUF DEIN GRAB locker hinter sich lässt. Und das Ende des Films, ob das nun all das vorhergehende karikiert, oder ob das ernst gemeint ist, oder ob das Studio das so verlangt hat, das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass dieses Ende mit all seinem Sonnenschein und dem Lachen ein lächerlicher und gleichzeitig abgrundtiefer Schlag in den Magen ist.

HIRUSAGARI NO ONNA: CHÔHATSU!! ist entschieden nur für Menschen gedacht, die mit ausgesprochen schmerzhaften Filmen etwas anfangen können. Die sich IRREVERSIBEL ein zweites Mal anschauen können. Oder die den erwähnten ICH SPUCK AUF DEIN GRAB nicht auf Rape und Revenge reduzieren, sondern auch das Drama dahinter erkennen. Wer sich in diesen Beschreibungen nicht wiedererkennt, der sollte besser einen ganz großen Bogen um den Film machen …

Bild Bild

Bild Bild
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 2776
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

1922 (Zak Hilditch, 2017) 5/10

Netflix.jpg
Netflix.jpg (1.28 KiB) 45 mal betrachtet

Stephen King ist ein guter Schriftsteller, ich glaube da braucht man kaum drüber zu diskutieren. Natürlich hat sein Werk Höhen und Tiefen, das ist für einen Schriftsteller bzw. Künstler mit diesem Output ganz natürlich, aber die Masse seiner Arbeiten kann man sehr gut und normalerweise auch mit hohem Unterhaltungswert weglesen. Die Geschichte über einen Mann, der in einem Brief schildert wie und warum er seine Frau im Jahr 1922 ermordet hat und was danach geschah, diese Geschichte kenne ich nicht, aber ich kann sie mir nach dem Film sehr gut vorstellen. Ein klein wenig geschwätzig, aber wirklich nur ein ganz klein wenig, die Schockmomente an den richtigen Stellen, genauso wie die Tränendrücker, und man hat die soundsoviel Seiten garantiert innerhalb eines Tages durch und ist zufrieden. Vielleicht nicht so glücklich wie nach, sagen wir, Sie, aber auf jeden Fall zufrieden.

Bei guten Schriftstellern gibt es seit jeher die starke Tendenz, deren Werke zu verfilmen. So etwas ist dann immer sehr stark vom Regisseur und natürlich von den Schauspielern abhängig. Klassische Literaturverfilmungen wie DOKTOR SCHIWAGO oder KRIEG UND FRIEDEN nehme ich da jetzt bewusst aus, bleiben wir ruhig im Pulp- bzw. Genre-Bereich. Viele, sehr viele Verfilmungen nach Romanen oder Erzählungen von Raymond Chandler sind mindestens gelungen, einige davon schlichtweg genial. Das gleiche gilt für Autoren wie Dashiell Hammett oder Graham Greene. Die Verfilmungen von Alistair McLean sind größtenteils auch heute noch goutierbar, aber der ein oder andere filmische Erguss verursacht mittlerweile schon rechte Kopfschmerzen, wohingegen die älteren Verfilmungen des Bestsellerautors Robert Ludlum größtenteils schlecht gealtert sind, die BOURNE-Trilogie zu Anfang des Jahrtausends aber kurioserweise die Qualität der Romane deutlich übertrumpft hat.

Bei Stephen King trifft die Sache mit dem Regisseur und den Schauspielern erst Recht zu, gibt es doch analog zu seinem gigantischen schriftstellerischem Werk auch eine enorme Masse dazugehöriger Verfilmungen. CHRISTINE hat mir zum Beispiel sehr gut gefallen, aber das war zu Beginn der 80er im Kino, und ich kann wirklich nicht sagen wie der gealtert sein mag. Viele mögen ihn nicht, im Gegensatz zu DIE VERURTEILTEN, den ich persönlich wiederum eher schwächer fand. Spätestens Bei THE GREEN MILE treffen sich die Meinungen dann alle wieder und trinken einen auf den RHEA M-Mumpitz …
1922. Eine der vielen Verfilmungen von Kurzgeschichten oder, in diesem Fall, Novellen des Meisters. Wie gesagt kenne ich die Vorlage nicht, aber nach dem Film werde ich sie ziemlich sicher auch nie kennenlernen. Ich meine, Regisseur Zak Hilditch schafft es, die düstere Grundstimmung mit Stereotypen aus X Horror-/Grusel-/Mystik-Thrillern herbeizubeten - da zoomt die Kamera auf eine Türe und die Musik wird dabei immer schriller, da werden sich drehende Türknäufe in Großaufnahme gezeigt, die tote Frau erscheint als gar schrecklich zugerichtete Leiche, und es hat allenthalben Ratten die das Verderben ankündigen. Aber da ist einfach nichts Eigenes. Nichts Außergewöhnliches. Nichts, was man nicht schon zig-mal gesehen hat, selbst wenn man, wie ich, kein großer Freund solcher Filme ist. Meine Frau meinte, dass in 1922 alles so vorhersehbar sein, und das trifft den Nagel genau auf den Kopf: Farmer Wilfried James möchte das Land, das seine Frau geerbt hat, bepflanzen, seine Frau aber will alles verkaufen und in der Stadt ein Modegeschäft aufmachen. Wilfried tötet also seine Gattin und lässt es so aussehen, als ob sie ihn verlassen hätte. Aber sie kommt wieder, und peinigt ihn mit schrecklichen Erscheinungen …

Wir wissen was passiert, wenn Wilfried seine Frau ermordet. Wir wissen von vornherein, dass sie wiederkehren und ihn in den Wahnsinn treiben wird. Wir wissen, dass sich James‘ Alptraum bis zum bitteren Ende immer mehr steigern wird, und wir können auch relativ genau vorhersagen wie er sich steigern wird. Die gute und passende Musik und die schönen Bilder treffen dabei auf das stimmige Overacting von Thomas Jane, und daraus entsteht schnelle eine gewisse Art von Zauber, welcher die Geschichte gut voranbringt und in düsteres und gutes Terrain schifft. Aber wenn dann über rund 100 Minuten alles mehr oder weniger so passiert wie man es erwartet, dann muss ich als Vielseher konstatieren, dass der Film eher in Richtung Langeweile tendiert. So leid es mir tut …

Die Nebenhandlung um das Schicksal des Sohnes ist gut umgesetzt und interessant, und wäre wahrscheinlich der bessere, sprich: Spannendere Film geworden. Die Figur des Nachbarn Harlan Cotterie ist eine interessante Figur, die in einem anderen Film sicher ein abwechslungsreiches Auf und Ab gebracht hätte. Und dass der Film auch ohne weiteres in der Kleinstadt Derry aus dem Roman Es hätte spielen können, und mir zu Beginn des Film automatisch die Erinnerung an das Massaker in den 20er- oder 30er-Jahren durch den Kopf schießt, genauso wie das Hotel, in dem Wilfried seinen Brief schreibt, innen stark an das Overlook-Hotel aus SHINING erinnert, solche Assoziationen leiten schnell in den Film hinein, und die Idee, die Personen anhand von gestellten Fotos vorzustellen, tut ein übriges die Charaktere schnell nahezubringen. Aber dann … kommt nichts mehr. Keine Überraschungen, keine neuen Ideen, einfach nur Althergebrachtes. Eine Gemengelage aus unzähligen King-Verfilmungen, die über 100 Minuten gestreckt alsbald zum Schlafen verleitet. Schade, denn komprimiert auf 60 oder 70 Minuten könnte ich mir das schon recht ansprechend vorstellen. So aber, ohne Mut zu neuen oder zumindest eigenen Ideen, ist der Film eine von unzähligen Netflix-Produktionen, die man sich eigentlich auch sparen kann …
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 2776
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

The whispering star (Sion Sono, 2015) 4/10

Irgendwo in den Tiefen des Internets begraben.jpg
Irgendwo in den Tiefen des Internets begraben.jpg (7.4 KiB) 37 mal betrachtet

Irgendwann in der Zukunft (also eher morgen als übermorgen …) sind die Tage der Menschheit gezählt. Die Wissenschaft entwickelt sich nicht weiter und die Menschen sind zwischen den Sternen zerstreut. Das Ende der menschlichen Rasse. Das Ende? Nein, nicht ganz. Denn mittels SPS, dem Space Parcel Service, können die Menschen Kontakt miteinander halten. Sich nicht zueinander teleportieren, sondern sich gegenseitig Päckchen schicken in denen Dinge sind. Und Yoko Suzukis Aufgabe ist es, ein Raumschiff des SPS zu navigieren, auf fernen Planeten zu landen, und den Menschen diese Päckchen gegen eine Erhaltsbestätigung zu übergeben.

Das Raumschiff selber macht dabei gelegentlich einmal Schwierigkeiten, und eine verspätete Lieferzeit von 2 bis 3 Jahren ist dabei durchaus im Rahmen (wer lacht da?). Es hat eigenartige und surreale Begegnungen auf den Planeten, und auch Yoko Suzukis Batterien müssen regelmäßig ausgewechselt werden. Denn Yoko Suzuki ist eine Maschine, genauso wie das Raumschiff. Nur so kann sie die mehr als 14 Jahre an Bord des Raumschiffes überstehen, und sich den alltäglichen Routinearbeiten widmen: Boden putzen, Staub wischen, ein Tagebuch auf ein Tonband sprechen.

Bild Bild

Bild Bild

Und es stellt sich die Frage, was den Menschen zu Menschen macht. Die Fähigkeit, nicht miteinander zu kommunizieren? Die Möglichkeit, auch in desolaten und einsamen Landschaften leben zu können? Sich erst dann zu einem höheren Wesen entwickeln zu können, wenn man die Beziehung zu seinen Wurzeln vergisst? Sion Sono liefert natürlich keine Antworten auf mögliche Fragen, er zeigt. Er zeigt einsame Lebewesen die alle für sich leben, und selbst wenn sie ein Paar ergeben wie die Spaziergänger, trotzdem nur nebeneinanderher laufen, ohne sich in irgendeiner Weise zu treffen. Gedreht wurde THE WHISPERING STAR in der Präfektur Fukushima, und einige Bewohner der Präfektur spielen in dem Film mit. Die Stimmung dort, die mit Händen greifbare Einsamkeit, ist überwältigend – Eine Zivilisation in Auflösung begriffen. Häuser, Geschäfte, Straßen aus unserem heutigen Alltagsleben, die die Katastrophe des Tsunamis und des auseinanderbrechenden Atomkraftwerks überlebt haben, und sich jetzt allmählich in den Zustand des Verfalls begeben. Und zwischen den „Kulissen“ eben diese Reste von Menschen, die wie Geister durch etwas gehen, das einmal ihr Zuhause war. Die letzte Auslieferung Suzukis zeigt dann nicht einmal mehr die Menschen sondern tatsächlich nur noch deren Eindrücke. Wie Seelen, die auf ewig ihr Menschsein feiern und Dinge wiederholen die ihr Leben geprägt haben. Geburt und Tod, Geburtstagsglück und Schreckensnachricht, Familienleben und zufriedener Rückzug.

Bild Bild

Bild Bild

Wie wohltuend ist es da doch stattdessen, zurück auf das Raumschiff zu kommen. Das innen den Charme einer sowjetischen Wohnküche aus den 50er-Jahren hat, und außen aussieht wie eine Mischung aus dem kleinen japanischen Teehaus und der Hütte der Baba Yaga. Das ein Steuerrad neben dem Schaltpult hat, und dessen Zentraleinheit aussieht wie ein altmodisches Röhrenradio. Motten flattern hinter der Abdeckung der Neonröhre, und überall sind Kabel und Schläuche. Nein, unter Science Fiction stellt sich der moderne Filmfan, sozialisiert mit STAR TREK und ALIEN, definitiv etwas anderes vor.

Ich persönlich, und das ist meine ganz eigene Meinung, habe mir auch etwas anderes vorgestellt. Ich hatte Mühe den Film durchzuhalten, und habe oft und regelmäßig auf die Uhr geschaut. THE WHISPERING STAR ist großes philosophisches Erzählkino in der Tradition eines, sagen wir, STALKER, und die wunderschöne Ehefrau von Regisseur Sion Sono, Megumi Kagurazaka, bringt mit ihrem ausdrucksstarken Gesicht und ihrer Persönlichkeit den Film in einen sicheren Hafen. Aber ich weiß genau, warum ich mich immer um 2001 – ODYSSEE IM WELTRAUM gedrückt habe. THE WHISPERING STAR ist, in der richtigen Stimmung genossen, ein wundervoller Film, der viele Fragen aufwirft, und sowohl mit seiner herausragenden Schwarzweiss-Fotografie und den träumerischen Bildern wie auch mit den angeschnittenen Gedanken lange im Kopf des Zuschauers für Bewegung sorgen kann. In der falschen Stimmung allerdings kann er unglaublich langweilig sein. Und ich war in der falschen Stimmung. Entschuldigung …

Bild Bild

Bild Bild
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 2776
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo (Uli Edel, 1981) 7/10

Irgendwo in den Tiefen des Internets begraben.jpg
Irgendwo in den Tiefen des Internets begraben.jpg (7.4 KiB) 26 mal betrachtet

Das Buch Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo habe ich damals gelesen. Damals, das müsste so 1979 rum gewesen sein, auf der Höhe der, ich nenne es jetzt mal so, Popularitätswelle, als die Artikelserie im Stern lief, und das Buch danach sämtliche Bestsellerlisten Deutschlands im Sturm nahm. Weder dem Buch noch dem Bericht konnte man damals entkommen, und selbstverständlich waren die eigenen Eltern, ich war gerade 13 und damit im gleichen Alter wie Christiane F. in ihrer Erzählung, an vorderster Front und schenkten mir das Buch vor einem Urlaub als Lektüre. Also las ich das Buch. Und las es wieder. Und wieder. Insgesamt habe ich Christiane F. fünfmal gelesen, womit es in meiner persönlichen Rangliste gleichauf mit Tolkiens Der Herr der Ringe und Kästners Das fliegende Klassenzimmer steht.

Wieso liest man so ein Buch fünfmal? Vor allem innerhalb von geschätzt 10 Jahren oder weniger? Ist die Schilderung der absoluten Selbstzerstörung nicht abstoßend genug? Oder ist die eigene Demütigung der Erzählerin am Ende sogar anziehend? Nun, zum einen ist trotz der drastischen und eindringlichen Schilderung sicher eine gewisse Identifikation da gewesen. Die damalige eigene Scene in der relativ kleinen Stadt, obwohl bei weitem nicht so extrem im Drogenkonsum, konnte in der persönlichen Sicht mit den dort dargestellten Personen durchaus gleichgestellt werden. Die Worte, die man dort bei den seltsam aussehenden Leuten lernte, waren stark. Waren anders. Großstädtisch und abgeklärt. Die Eltern verstanden einen nicht mehr. Was ebenfalls stark war. Die Faszination einer Welt ohne Erwachsene und mit Regeln, die man nach einem gewissen Muster scheinbar durchaus selber bestimmen konnte, war da und ließ mich jahrzehntelang nicht mehr los. Es ist kein Traumleben das in diesem Buch geschildert wird, ganz bestimmt nicht. Aber es schildert unglaublich anschaulich eine Parallelwelt voller Farben und Glücksmomente, die es in unserer Stadt damals jedenfalls so nicht gab. Zumindest nicht für uns. Eine gewisse Anziehung war also auf jeden Fall gegeben. Und gleichzeitig war ich 13 oder 14 oder 15 – Also noch viel zu jung für Discos wie das Sound. Geheime Orte voller geheimer Rituale, die mich Jahre später selber wesentlich geprägt haben, aber in dieser Zeit vor allem unglaublich verlockend waren ...
Und gleichzeitig glaube ich auch, dass später, als wir in die große Stadt umgezogen waren, mich dieses Buch durchaus davon abgehalten hat, komplett in die Scheiße zu rutschen. Unbewusst zwar, aber Möglichkeiten hätte ich genug gehabt. Anderen ging es genauso, aber bei denen war entweder das Buch nicht im Schläfenlappen eingebrannt, oder die Gravitation war größer als der Ekel. Wer weiß …

Kürzlich gab es nun also den Film. Mehr als 40 Jahre nach seinem Entstehen habe ich WIR KINDER VOM BAHNHOG ZOO tatsächlich das erste Mal gesehen! Und was soll ich sagen – Der Film ist eine riesige gottverdammte Zeitreise! Wäre ja schließlich bei einem Film aus dem Jahr 1981 auch merkwürdig, wenn dem nicht so wäre. Aber die Bilder sind nach den vielen vergangenen Jahren und den vielen bunten Entwicklungen teilweise wie ein Schock. Die Klamotten, die Gesichter, wie sich die Jugendlichen geben und wie sie sich ausdrücken, das Grau in den Städten, die Musik, und überhaupt das ganze Außenrum. Heute sind die Städte erheblich bunter geworden, und vor allem auch erheblich grüner. Das kann man sich mittlerweile gar nicht mehr vorstellen, dass die Städte in Deutschland damals so grau waren, und nur durch die altmodischen Neonreklamen und die bunten Autos aufgehübscht wurden. Der Punk, der genau in dieser Zeit hochkam, hat das Grau, den Beton und das Neon dann zum Stilmittel erklärt, aber bis dahin war das Leben in den Städten – Grau. Keine Bäume, jede Menge Hochhäuser, viel Verkehr (ja, damals schon, zumindest tagsüber), und da ist man in verwaschenen Jeans mit Schlag, in Stiefeletten und mit grünem Parka durchgelaufen auf der Suche nach einem kleinen Stückchen Glück. Oder Farbe. Oder beidem. Drogen waren eine Möglichkeit an beides zu kommen, und ich habe in meinem Leben mehr als einen Freund und viele Bekannte an Drogen verloren. WIR KINDER VOM BAHNHOF ZOO zeigt mit seinen Bildern von der Gropiusstadt und der Berliner Innenstadt genau diese Suche genau dieser Menschen, die damals unterwegs waren. Fast könnte man Gänsehaut bekommen bei so viel Authentizität. Klar, der Film ist aus dieser Zeit, aber er verschönt nichts und er hält auch nichts unter dem Deckel. Der Film zeigt eine Jugend in Deutschland, die damals gar nicht so ungewöhnlich war. Selbstverständlich gab es auch andere, die Angepassten und die Strebsamen, aber die hat man nicht gesehen. Gesehen hat man die Freaks und die Punks, die Drogenabhängigen und die Ausgestoßenen. Diese Jugendlichen prägten ab etwa der Mitte der 70er-Jahre die Stadtbilder und sie prägten, so ganz nebenher, auch die Leben der nachfolgenden Generationen. Denn ich glaube nicht, dass ich der einzige war, der von den coolen Typen und dem lässigen Gehabe auf dem großen Platz in der Stadtmitte so angezogen wurde. Vielleicht ging es zuerst auch nur ums Zuschauen, ums Dabeisein, bis man dann mit der Scene irgendwann eins wurde …

Es ist menschlich, sich an dem Untergang anderer zu ergötzen. Damit haben sich Generationen sogenannter Journalisten ihre Brötchen verdient, und die Schlangen von Schaulustigen an jedem noch so läppischen Autounfall sprechen die gleiche Sprache. Was aber den Film WIR KINDER VOM BAHNHOF ZOO vor allem auszeichnet ist, dass er sich genau diesem Voyeurismus verschließt. Es gibt keine unappetitlichen Sexszenen zu sehen, Natja Brunckhorst ist nur einmal kurz von hinten nackt zu sehen, und es gibt generell überhaupt keine exploitativen Momente. Es gibt Spritzen die in Armen stecken, es gibt Tote, und es gibt einen Entzug, und das sind sehr wohl alles Szenen die damals genauso wie heute abschrecken und unter die Haut gehen. Dafür ist die Liebesszene zwischen Christiane und Detlev so zart und liebevoll gefilmt, dass sie wirklich berührt, und für einen kurzen Moment sogar die Zeit stillstehen könnte für das glückliche unglückliche Pärchen. Aber aus Christianes Erfahrungen auf dem Babystrich wird kein exploitatives Kapital geschlagen, genauso wenig wie etwa aus dem Tod Axels. Die Kamera sieht entweder weg oder ist betont unaufdringlich, fast als ob sie peinlich berührt sei. Der daraus entstehende Respekt gegenüber den dargestellten Personen dürfte wohl der Hauptgrund sein, warum CHRISTIANE F. damals so erfolgreich war, und auch heute noch so berührt. Obwohl wir sehr nahe bei den Charakteren sind, und das Schicksal etwa von Babsi als Deutschlands (damaliger) jüngster Drogentoter sehr nahe geht, wird das Thema nicht sensationell ausgeschlachtet. Es findet keine Fleischbeschau statt, in keinster Weise, und das gibt dem Film seinen Realismus und seinen Ernst, auch über 40 Jahre nach seinem Entstehen. Was bleibt ist ein auf grausige Art faszinierender Gang durch eine andere Zeit und eine andere Welt, die einmal diejenige war die ich striff. In der andere gelebt haben. Und aus der einige, die ich kannte, nicht mehr zurückgekommen sind.

Für den Zuschauer steht die Zeit trotz dieser eingefrorenen Momentaufnahme nicht still, und stellenweise ist das Zusehen schon sehr hart. Die abschließende Kamerafahrt durch den Gang auf dem Bahnhof Zoo, bei der die Gesichter der Junkies ohne Kommentar in Großaufnahme abgefahren werden und ihr Leben als Schlaglicht gezeigt wird, das greift die Substanz genauso an wie die Schicksale von Christianes Freunden Alex und Bernd, die ohne die Drogen supernette und normale Jugendliche hätten sein können. Die Lebensdaten im Abspann versetzen dem Zuschauer dann noch den letzten Schlag, und dies sind Dinge, die man dann auch erst einmal verdauen muss. Erinnerungen an vergangene Freunde oder gar Geliebte kommen hoch. Lebt die eine noch? Von dem anderen weiß ich dass er tot ist. CHRISTIANE F. weckt diese Erinnerungen und macht nachdenklich. Wie kann man seine eigenen Kinder von Drogen fernhalten, wenn deren unglaubliche Faszination stärker ist als alles andere? Vielleicht sind die Bilder dieses Films sogar eine Möglichkeit, aber ob ein 40 Jahre alter Film bei den heutigen Jugendlichen noch diese Wirkung haben kann, das vermag ich nicht zu sagen. Bei mir altem Sack hatte er auf jeden Fall eine sehr durchschlagende Wirkung …
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
Antworten