Was vom Tage übrigblieb ...

Euer Filmtagebuch, Kommentare zu Filmen, Reviews

Moderator: jogiwan

Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 3445
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Tony Arzenta – Tödlicher Hass (Duccio Tessari, 1973) 8/10

Bild

Tony Arzenta ist ein Top-Killer der Familie Gusto, und Tony Arzenta ist außerdem auch ein sehr liebevoller Familienvater. Und gerade weil ihm seine Familie sehr am Herzen liegt will er aus dem Geschäft aussteigen. Sein väterlicher Freund Gusto hätte damit nur wenig Probleme, aber Gustos Partner müssen auch zustimmen – und die wollen nicht! Zu groß scheint ihnen das Risiko, dass Arzenta plaudert. Um dieses Risiko auszuschließen soll er mit einer Bombe ins Jenseits geschickt werden, doch die Bombe trifft aus Versehen Arzentas Frau und Sohn, und er selbst muss dabei auch noch zuschauen. Nun ja, viele Jahre als eiskalter Killer einer Mafiafamilie schulen einen Mann vor allem in einem: Gnadenlos zu töten. Arzenta reist quer durch Europa, um die Bosse der großen Familien auszulöschen.

So weit der Inhalt, und so weit klingt das auch irgendwie relativ vorhersehbar. Es ist klar, dass die Bombe die Familie treffen wird, und es ist klar, dass Arzenta die Blutwurst macht. Aber auf das Wie kommt es an, und da könnte man sich verschiedene Möglichkeiten ausmalen.

Eine Option wäre zum Beispiel, dass Delon ununterbrochen mit der Knarre in der Hand den Keoma macht, halb Europa in Schutt und Asche legt, und der Zuschauer vor lauter Geknalle irgendwann selig einschläft.
Regisseur Duccio Tessari wählt einen anderen Weg. Ruhige Momente, Dialoge voller Nachdenklichkeit, und einen Killer, der im Angesicht seiner eigenen Rache keine Lust mehr hat zum sinnlosen Töten. Umso heftiger bricht dann die Brutalität in die (filmische) Wirklichkeit, bahnen sich Hass und Spaß am Töten ihren Weg. Das Martyrium von Tony Arzentas Freunden ist schrecklich mitanzusehen, und das miese Lachen der Folterknechte umso mehr. Schmierige, boshafte Menschen die hässliche Dinge tun. Allein der Killer der während Arzentas Abwesenheit auf Sandra aufpasst – Was für ein widerliches Stück Mensch! Und was für eine herausragende Leistung des Schauspielers!!

Wenn ich dann auf der OFDB sehe, dass der von mir sehr geschätzte Matthias Merkelbach den Film als Noir einordnet, beginnen bei mir die Gedanken loszurennen. Warum soll TONY ARZENTA ein Noir sein? Ein Mann, der durch das Schicksal von allem getrennt wird was ihn zum Menschen macht, und der eine einsame Rache in der Unterwelt auszuüben hat. Der prinzipiell erstmal ein böser Mensch ist, ein Killer, und damit im klassischen Sinne nicht als „Held“ dienen kann, bekommt unsere Sympathie und unser Mitleid, und schenkt uns als Zuschauer im Gegenzug so manch memorablen Augenblick, wenn er in der Unterwelt aufräumt. Dass Alain Delon dabei rein prinzipiell nur seine Standardrolle als Auftragsmörder abliefert? Dass die Nebenfiguren oft dem Klischee entsprechen? Geschenkt, und vor allem lassen uns die Schauspieler solche Gedanken ganz schnell vergessen. Bis in die kleinen Nebenrollen exquisit besetzt, ist TONY ARZENTA gleichzeitig ein Genrefilm und Schauspielerkino wie man es immer wieder gerne sieht. Alain Delon als Tony Arzenta, gequält und getrieben, sich vor sich selbst ekelnd und doch keinen Ausweg mehr wissend. Carla Gravina als Sandra, die ihm beisteht, der er beisteht, und die für ihn schlimmste Dinge bereit ist auszuhalten. Giancarlo Sbragia als Tonys Freund Luca Dennino, heimlicher König der Kopenhagener Unterwelt und möglicherweise Mittler zwischen Tony und den Bossen. Richard Conte als Tonys Boss und Freund Gusto, der über den Mord an Tonys Familie genauso schockiert ist wie Tony, aber aus anderen Gründen. Seine Mit-Bosse sind Roger Hanin, Anton Diffring und Lino Troisi – Eine miese Fresse nach der anderen, und was für großartige Schauspieler, selbst wenn sie nur ihr Standardrepertoire abrufen.

Ja, TONY ARZENTA ist ein Noir Film. Ein Mann, dem sein eigenes Schicksal aus der Hand genommen wird, der zu Dingen gezwungen wird, die er nie tun wollte, und deren Ablauf ihm zunehmend entgleiten. Ein Mann der Böses tut, und dem doch unsere Sympathien gehören. Dazu eine Kamera (Silvano Ippoliti!), die nie den Menschen in den Mittelpunkt stellt, sondern seine Umwelt. Die die Menschen an den Rand des Bildes stellt und sie damit als Kreaturen darstellt, die über ihr eigenes Schicksal nicht frei entscheiden können, sondern immer von außen gesteuert werden. Da ist dieser Moment, wenn Tony in das Zimmer seines ermordeten Sohnes geht - Die Leere und Kargheit dieses Raumes spiegelt sein eigenes Seelenleben wieder, und Tony wird von seinen Gefühlen genauso überwältigt wie der Zuschauer. Solche Momente hat es viele, und sie heben TONY ARZENTA aus dem Mittelmaß heraus und zaubern ein besonderes Stück Film aus dieser wohlbekannten Geschichte. Einen Film voller Melancholie und Brutalität, voller Nihilismus und Gefühl, der mit einer guten Geschichte und herausragenden Schauspielern aufwarten kann. „Tödlicher Hass ist kein Meisterstück, doch allemal ein Werk klassischen europäischen Erzählkinos, wie es heute kaum noch zu finden ist.“ schreibt Matthias Merkelbach, und diesem Fazit ist nichts hinzuzufügen.
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 3445
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Sie töten aus Lust (Félix Rotaeta, 1987) 4/10

Bild

Antonio Banderas und Mathieu Carrière zusammen in einem Film. Und nicht einmal ein Omnibusfilm, oder eine gemeinsame Szene, nein, sondern tatsächlich die beiden gleichberechtigten Hauptrollen! Und als weibliche Dreingabe noch Victoria Abril, die so viele europäische Exploiter und Arthouse-Filme der späten 70er und frühen 80er durch ihre Anwesenheit veredelt hat, und später dann bei Pedro Almodóvar Stammschauspielerin wurde. Wow, was für ein cineastisches Fest! Wirklich?

Luis und Andrés treffen sich eher zufällig. Bei einem Auftragsmord, für den sie beide als Killer angeheuert wurden, erledigen sie gleichzeitig eine unliebsame Zeugin. Beide mit der gleichen Präzision, und beide mit der gleichen Kaltschnäuzigkeit. Als sie sich kurz darauf zufällig wiedertreffen entsteht schnell eine Freundschaft zwischen den Männern, denn sie erkennen sich im jeweils anderen wieder: Beide sind innerlich leer, sind auf der Suche nach Sinn, leben inhaltsleer vor sich hin und verzweifeln an ihrer Situation. Luis hat Bock auf Leben, vögelt gelegentlich mit der schnuckeligen La Merche, und weiß eigentlich nicht so recht was er will. Hauptsache leben! Andrés ist Mathematikprofessor und verlobt mit der ältlich wirkenden Ana, die ihn mit ihren Ansprüchen und noch viel mehr mit ihrer dominanten Freundin Luisa einfach nur nervt. Mal ein Fick mit einer Studentin, und ansonsten nur das innerliche Kopfschütteln über Ana und über die Mütter der beiden. Dies, und der Rest ist Leere.

Die Männer treffen sich zum Schießen. Und sie erkennen, dass ihnen das Spaß macht. Dass dies ihrem Leben Sinn gibt. Schnell werden aus Scheiben Menschen – Luis und Andrés entführen Leute und richten diese geradezu hin. Die Studentin die mehr will von Andrés? Schuss! Die nervenaufreibende Ana? Schuss! Ein paar betrunkene Mädels die mit den gutaussehenden Männern ins Bett wollen? Und Schuss! Dumm nur, dass wenn Menschen verschwinden, deren Angehörige und die Polizei auf den Plan treten.

Die Handlung klingt nicht uninteressant. Sie klingt nach Filmen wie MENSCHENFEIND oder nach spanischen Nihilismus-Dramen wie HUNTING GROUND, mit viel Blut und krasser Aussage. Eine Symbiose aus Genrefilm und Kunstkino. Und dann noch mit diesen Schauspielern, was kann da schon schief gehen?

Nun ja, es hat seinen Grund, warum SIE TÖTEN AUS LUST eher unbekannt ist. An den Schauspielern liegt es nicht, das darf ich feststellen, aber die Inszenierung ist so dermaßen trocken und langweilig, dass das Interesse an dem Film im Laufe der knapp 90 Minuten fast unweigerlich flöten geht. Da hat es Szenen die wie von Pedro Almodóvar gedreht wirken, mit nervigen Menschen, deren uninteressanten Problemchen, und alle reden durcheinander und überbieten sich gegenseitig in ihrem Lärmen und ihrem idiotischen Verhalten. Nebendarsteller am Rande des Nervenzusammenbruchs. Dann wieder die spröden Bilder der Männerfreundschaft, die über gemeinsames Schießen und Whiskytrinken definiert wird, ohne dabei aber inhaltlich in die Tiefe zu gehen. Und zu guter Letzt die Momente des Tötens, die in ihrer Direktheit teilweise sehr verstörend wirken und durchaus unter die Haut gehen können. So, Bilderzyklus beendet, jetzt kommt wieder Almodóvar. Der Auftritt des Kommissars ist wie eine groteske Fernsehshow aufgemacht und entsprechend beeindruckend, passt aber wiederum so gar nicht zu dem Rest des Films. Vor allem, weil der Kommissar auch alles andere als ein Idiot ist. Dann werden wieder Beziehungsprobleme zwischen Luis und La Merche gewälzt, Luis schaut Antonio Banderas-like in die Kamera, es wird Whisky getrunken, und gemeinsam fährt man wieder zum Töten. Auftritt Luisa, die dann wieder diesen Anflug von Skurrilität ins Spiel bringt, undsoweiterundsofort.

Ein gewiefter Regisseur drückt so einem Puzzle sehr wohl seinen Stempel auf und kann aus so unterschiedlichen Ansätzen auch problemlos ein schmackhaftes Mahl zaubern. Félix Rotaeta, der in der OFDB mit ganzen drei Filmen gelistet wird, von denen dieses der zweite (und letzte Kinofilm) ist, ist kein gewiefter Regisseur! Ich möchte ihm in aller Höflichkeit die Erfahrung absprechen, aus einer heterogenen Story ein homogenes Ganzes zu gestalten, und einen roten Faden in etwas einzuweben, was ohne diesen Faden schnell in eine verwirrende und/oder langweilig werdende Szenenabfolge mündet. Denn genau so funktioniert SIE TÖTEN AUS LUST: Szenen werden hintereinander gestellt, es gibt auch Zusammenhänge, aber es ergibt sich kein zwingendes Sujet, keine überzeugende Einheit, ja nicht einmal ein spannendes Konglomerat verschiedener Einflüsse. Wir sehen zwei Männern zu, wie sie mit versteinerten Gesichtern und ohne äußerliche Regungen in die Hölle fahren, und dies in einem filmischen Rahmen, der zum Gähnen oder zur Beschäftigung mit dem Handy einlädt. Schade, Thema verfehlt.
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 3445
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Verachtung (Christoffer Boe, 2018) 7/10

Bild

Nach dem unbefriedigenden Vorgänger ERLÖSUNG durfte nun in der Reihe der Mørck-Verfilmungen der nächste Regisseur ran, und das lässt vermuten, dass ich wohl offensichtlich nicht der Einzige war, der ERLÖSUNG als eher schwach auf der Brust empfand. Nun also VERACHTUNG, und man darf prinzipiell gespannt sein, wie lange sich die einfallslosen deutschen Titel noch an dem Erfolg der Millennium-Trilogie VERGEBUNG, VERDAMMNIS und VERBLENDUNG anhängen wollen …

Eine Woche wird Assad noch im Sonderdezernat Q dabei sein, und Mørck tut absolut alles, um den Abschied leichter zu gestalten. Dieses Mal ist er ganz besonders ekelhaft zu seinem Umfeld, nicht nur zu Assad und Rose, sondern auch zu Zeugen oder Menschen die er „nur“ befragen soll. Bloß, viele befragen kann er zu Beginn des Falles nicht: In einer Wohnung wird ein zugemauerter Raum gefunden, und in diesem Raum sitzen drei Tote um einen Tisch. Aufrecht. Bei Essen und Trinken. Gefesselt. Und mumifiziert. Parallel dazu erfahren wir die Geschichte der jungen Nete Hermanns, die 1961 von ihrem Vater in ein Erziehungsheim für junge Mädchen abgeschoben wurde, und dort die Hölle auf Erden erlebt hat. Wir erfahren natürlich auch sehr schnell, dass das Erziehungsheim und die Toten am Tisch zusammengehören, aber wie, das ist nicht wirklich einfach zu klären. Und kostet viele Leben.

Irgendwie ist es schade, dass die Fülle des Materials aus den Mørck -Romanen in den Verfilmungen auf der Strecke bleibt. So gut die Filme eigentlich sind, an die Romane kommen sie einfach nicht ran. Die horizontalen Handlungen über Assads Herkunft und Roses Psychosen bleiben in den Filmen komplett außen vor, was zugunsten einer stringenten Thrillerhandlung möglicherweise auch ganz gut so ist. Denn damit ist VERACHTUNG als Film ein guter und straighter Thriller geworden, der sich in der Struktur am Roman orientiert, auf Nebenhandlungen verzichtet, und damit erstklassig Spannung aufbauen kann. Der Zuschauer erfährt abschnittsweise die Wahrheit über die Geschichte von vor 60 Jahren und gleichzeitig den Fortgang der Ermittlungen in der Gegenwart. Da er aber durch die Ausflüge nach damals immer einen Wissensvorsprung vor den Ermittlern hat, und schnell ahnt wie der Hase läuft, geht es eigentlich nicht darum WER hier mordet, und schon gar nicht WARUM, sondern WIE der wahre Mörder vorgeht um der Polizei zu entkommen. Die Geschütze, die von den Bösewichten dabei aufgefahren werden, sind schon deutlich größeren Kalibers als bisher, und das gesamte Dezernat Q muss dieses Mal Federn lassen. Spannend!

Dazu passend ist es tiefster Winter in Kopenhagen, es schneit oder ist Nacht oder beides, und diese kalte Stimmung, gemischt mit der im wahrsten Sinne eisigen Atmosphäre in dem Erziehungsheim, untermalt das Erkalten der menschlichen Beziehungen auf das Intensivste. Auf der einen Seite zerstreiten sich Mørck und Assad, und auf der anderen Seite gleicht das Leben der jungen Nete dem Suchen nach Schutz inmitten eines Bombenhagels. Nicht mehr um das Miteinander geht es, sondern nur noch um das nackte Überleben in einer Welt die nur aus Tod besteht.

Und von daher ist gerade bei diesem Film das Jammern um die verlorengegangenen Inhalte der Romane ein Jammern auf sehr hohem Niveau, denn VERACHTUNG ist tatsächlich gute und dunkle Thrillerkunst aus Skandinavien, die ordentlich unterhält und dabei einige richtig widerliche Szenen zum Gruseln bereithält. Spannend, gruselig, atmosphärisch – Klare Empfehlung meinerseits!
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 3445
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

The Boys from Brazil (Franklin J. Schaffner, 1978) 7/10

Bild

In Paraguay findet ein Treffen der alten weißen Männer statt, der Ewiggestrigen. Diejenigen Deutschen die überlebt haben und sich eine neue Existenz aufgebaut haben, sowie ein paar von den Jungen, die sich dieser Faszination des Bösen mit Haut und Haaren verschrieben haben. SS-Offiziere, Gestapo-Männer, und als Anführer dieser Meute Er: Dr. Josef Mengele, der unter anderem in Auschwitz medizinische Experimente an lebenden Menschen betrieb. Sein Plan ist es, in den kommenden zweieinhalb Jahren 94 Männer in der ganzen Welt zu töten, die dann gerade 65 Jahre alt sind. Der Sinn und Zweck dieser Übung? Ist vorerst im Dunklen, aber die Männer im Raum sind begeistert dabei und schwärmen in die Welt aus, den Tod zu bringen.
Einer aber lauscht von draußen mit und kontaktiert Esra Lieberman in Wien, einen alten Nazijäger. Und auch wenn Lieberman zuerst skeptisch ist, so gibt es doch Vorkommnisse, die ihn zum Nachdenken bringen. Er spricht mit den Witwen der ersten Opfer und kommt allmählich auf die Spur Mengeles. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt: Ein über 70-jähriger Mann gegen einen fanatischen Nationalsozialisten …

Auch wenn der Film in der heutigen Zeit einiges von seinem Schrecken verloren hat, ganz einfach deswegen, weil die Entwicklungen der letzten 40 Jahre die grausige Message des Films überholt haben, trotzdem sollte man von THE BOYS FROM BRAZIL im Vorfeld nicht allzu viel wissen, um von den Ereignissen so richtig mitgerissen werden zu können. Ja, zugegeben, die Jagd scheint oft behäbig zu sein, und einem alten Mann zuzusehen, wie er versucht die Welt im Schneckentempo zu retten, kommt heutigen Sehgewohnheiten überhaupt nicht entgegen. Es gibt keine Explosionen, keine stylischen Schusswechsel und niemanden mit Superkräften. Stattdessen sehen wir zu, wie ein zweifelnder alter Mann versucht, den Plan eines anderen alten Mannes zu verhindern. Die wenigen jüngeren Darsteller sind allesamt Nebendarsteller und können tatsächlich nur wenig bewegen, hier bestimmen noch alte weiße Männer den Lauf der Welt. Alte weiße Männer und ihre verqueren Vorstellungen von Tod und Leben. Fast wie im wirklichen Leben, aber nur fast …

Aber spannenderweise ist es gerade diese Behäbigkeit, die den Film sein Fleisch gibt. Der Schrecken, der mit der allmählichen Aufdeckung des Masterplans einhergeht, bekommt alle Zeit der Welt, sich so richtig unter der Hirnschale einzunisten, und die seit dem Film eingetretene technologische Entwicklung macht im Nachhinein, beim Nachdenken über die stellenweise etwas fantastisch daherkommende Handlung, erst richtig Angst. Plötzlich ist das filmische Szenario vielleicht gar nicht mehr so abwegig. Und die Herrschaft der alten weißen Männer auch nicht mehr …

Wenn man sich auf das Tempo des Films einlässt, wenn man akzeptieren kann, dass die Hauptfiguren keine gutaussehenden jungen Männer mit überragenden Kampffähigkeiten sind, wenn man das etwas von der Zeit überholte Szenario als gegeben ansieht, dann ist THE BOYS FROM BRAZIL tatsächlich ein ganz feiner und spannender Thriller, der mit einer morbiden Atmosphäre und jeder Menge großartiger Schauspieler punkten kann. Und der eine widerliche Schreckensvision vor dem Zuschauer ausbreitet, die hoffentlich niemals Wirklichkeit werden wird …
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 3445
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Jojo Rabbit (Taika Waititi, 2019) 8/10

Bild

Im Frühling 1945 lebt der 10-jährige Johannes Betzler, genannt Jojo, im kleinen deutschen Örtchen Falkenheim. Der Krieg scheint so weit weg zu sein, und Jojo ist ja so begeistert vom Führer und von Uniformen und vom Dritten Reich überhaupt. Wie alle 10-jährigen Jungens in dieser Zeit. Und wie so viele Jungs dieses Alters hat er auch einen unsichtbaren Freund – Adolf! Ja genau, den Adolf, der ihm Tipps und Tricks verrät, der ihn moralisch unterstützt, und der ihn nach Rückschlägen wieder aufrichtet. Wie im Jugendlager, in dem Jojo ein Kaninchen töten soll, was er aber nicht kann, und womit er sich zum Gespött der zäh-wie-Leder-und-hart-wie-Kruppstahl-Kameraden macht. Adolf macht ihm wieder Mut, Adolf richtet Jojo auf, und gibt ihm die Energie einfach loszurennen, dem referierenden Hauptmann eine Handgranate aus der Hand zu reißen, diese zu werfen – Und sie nach dem Abprallen an einem Baum direkt wieder vor die Füße zu bekommen. Danach ist Jojo gehbehindert und nicht mehr so hübsch wie früher, aber er lebt noch. Und seine Mutter, die alleinerziehende Rosie, liebt ihn immer noch.

Rosie. Rosie ist Jojos beste Freundin. Sie ist Jojos Vertraute, seine Motivatorin, seine Psychiaterin, und im Gegensatz zu Adolf auch aus Fleisch und Blut. Aber Rosie hat auch ihre Geheimnisse, und als Jojo eines davon entdeckt wird sein Weltbild nachhaltig erschüttert: Hinter der Wand, unter dem Dach, lebt versteckt ein jüdisches Mädchen. Das gar nicht aussieht wie ein Werwolf. Und beim Schlafen auch nicht an der Decke hängt, aber nach deren eigenen Aussage sind Käsebrote tödlich für Juden. Jojo bittet das Mädchen, Elsa, ihm alles über Juden zu erzählen, damit er ein Buch schreiben kann, das er dann dem Führer schenken will. Denn es ist gar nicht so einfach Juden zu erkennen, die schauen ja genauso aus wie alle …

Mehr mag ich nicht erzählen. Da passiert noch so unglaublich viel, und das Wissen über die Ereignisse könnte einem den Spaß verderben. Häh, was? Spaß? Spaß in einem Film über einen 10-jährigen in den letzten Tagen des Dritten Reichs? Ja, Spaß! Keine teutonisch-gelehrte Verbiestertheit, sondern ein lockerer und spielerischer Umgang mit den Erlebnissen von Jojo, konsequent aus der Sicht eines kleinen Jungen erzählt. Der lässige und dabei doch so unglaublich frustrierte Hauptmann K? Die Gestapomänner? Das jüdische Mädchen, das ihm sein Fahrtenmesser geklaut hat? Sein zweitbester Freund Yorki, denn der beste Freund muss ja Adolf Hitler sein? Ja, alles dies atmet den Geist eines abenteuerlichen und dabei doch hochgradig gefährlichen Lebens. Alles außerhalb der Wohnungstüre ist gefährlich, und dafür muss man sich erst bereit machen! Wie halt das Leben mit 10 Jahren so ist …

Der Film beginnt mit einer kongenialen Schnittorgie, bei der Riefenstahl-Bilder von Hitlerauftritten mit (deutschsprachigen) Beatles-Liedern und schreienden Teenies hinterlegt werden, und er endet mit dem Kriegsende genauso passend mit der deutschen Fassung von David Bowies Heroes. Alles dazwischen ist eine Achterbahnfahrt der Gefühle, ein ständiges Auf und Ab der Ereignisse, und das Lachen bleibt dem Zuschauer mindestens genauso oft im Hals stecken wie das Grauen überhandnimmt. Es gibt urkomische Momente, es gibt nacktes Entsetzen, und wie im Leben liegt das eine direkt neben dem anderen. Nazis sind nicht per se dämonisch und finster, sondern sie sind oft genug Menschen wie Du und ich. Sie sind Mitläufer in einem Regime, das alle, die nicht für das Regime waren, gnadenlos ausgemerzt hat. Und deren Sympathisanten gleich mit, was in JOJO RABBIT auch nicht ausgeblendet wird. Trotzdem werden hier Menschen porträtiert, keine Teufel, und allein dies macht JOJO RABBIT so absolut sehenswert. Neben dem schier unglaublichen Ideenreichtum natürlich. Und neben diesem Füllhorn an Gefühlen, die das Drehbuch über Charakteren und Zuschauern ausschüttet …
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 3445
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Teufel im Leib (Marco Bellocchio, 1986) 3/10

Bild

Andrea, Sohn aus sehr gutem Hause, verliebt sich kurz vor dem Abitur in eine schöne Fremde. Er folgt ihr und erfährt, dass die Fremde in einer Beziehung steht zu dem Terroristen Giacomo Puccini, der gerade in Untersuchungshaft sitzt, und als Kronzeuge gegen seine früheren Kameraden aussagt: Die schöne Fremde, Giulia, ist Puccinis Verlobte. Andrea spricht Giulia an, und natürlich es kommt wie es kommen muss: Eine Ruderpartie, ein erster zarter Kuss, ein Besuch Andreas in derjenigen Wohnung die Puccini seiner Zukünftigen eingerichtet hat, und wo das Hindernis Schwiegermutter erfolgreich überwunden wird, der erste Sex, der zweite Sex, Dauersex … Und dann kommt der Tag, an dem der Schwiegertiger die Wahrheit über das Verhältnis herausfindet und Andreas Vater, einen berühmten Psychoanalytiker, informiert. Und es kommt der Tag, an dem Puccini aus dem Gefängnis entlassen wird und seine Giulia heiraten will.

Prisma-online.de resümiert TEUFEL IM LEIB sehr nüchtern: Im Großen und Ganzen regiert die pure Ödnis. (1) Punkt. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen! Man könnte sich nun die Seele aus dem teuflischen Leib schreiben und konstatieren, dass das Geschwafel in dem Film wirklich nur für ganz Hartgesottene taugt, und spätestens sobald der Vater ins Spiel kommt die Dialoge (richtiger: Monologe) so schwurbelig werden, dass selbst deutsche Programmfilmer vor Neid erbleichen könnten. Oder dass eine junge und gutaussehende Frau ganz natürlich den Mann liebt der ihren Vater ermordet hat, und jahrelang keusch auf dessen Rückkehr aus dem Gefängnis wartet. Um es mit Robert Fripp zu sagen: Bollocks!
Auf der anderen Seite ist dann da Maruschka Detmers, die ganz offensichtliche Geliebte des Kameramanns. Oder wenigstens der Kamera. Gefühlt minutenlang konzentriert sich das Bild auf das schöne und ausdrucksstarke Gesicht Detmers‘, und man kann ihren Gefühlen, ihren Stimmungsschwankungen, ihren Gedanken intensiv beiwohnen und ihr Gefühlsleben erforschen. Maruschka Detmers war, das kann man in diesem Film deutlich sehen, eine begnadete Schauspielerin, die mit ihrer Natürlichkeit und ihrer Ausstrahlung so manchen Film vor allem der 90er veredelt und mit einem Glanz versehen hätte, den dieser so überhaupt nicht verdient hätte. Und was macht Maruschka Detmers stattdessen? Sie bläst ihrem Filmpartner vor laufender Kamera einen und landet, filmisch gesehen, in der Gosse. Was für eine Verschwendung an Talent!!

Denn auch hier ist sie der eigentliche Star, um den sich alles rankt. Eine junge und lebenslustige Frau, die das Leben sucht, die Lust hat auf Abenteuer und auf Sex, auf Lachen und auf Spaß haben – Wenn sich Giulia in der Discothek die Seele aus dem (teuflischen) Leib tanzt ist diese Lust genauso deutlich zu spüren wie in dem Moment, wo sie ihren Puccini im Gefängnis besucht, der ihr ein völlig idiotisches Gedicht vorliest, und sie ihm derweil einen runterholt. Off-Screen allerdings. Trotzdem, die Richtung ist klar: Giulia will LEBEN. Und in den kalten und leeren Räumen ihrer Wohnung lebt sie ein kaltes und leeres Leben, das mit den Besuchen der Schwiegermutter kalte und leere Höhepunkte erfährt. Ihre Liebe zu dem klugen Andrea ist mehr als verständlich, aber halt leider auch kalt und leer inszeniert. Was ich sagen will ist dies: Der Zeitgeist der 80er ließ eine wilde und sich erotisch überschlagende Handlung wahrscheinlich nicht zu, es musste halt unbedingt nüchtern und kalt sein. Und leer. Was der Geschichte ausgesprochen abträglich ist, und sie zu einem langweiligen und öden Schauspiel verkommen lässt.

Die Romanvorlage von TEUFEL IM LEIB setzt während des Ersten Weltkriegs die Frau eines Frontsoldaten in die Beziehung, was die Verfilmung von 1946 ebenfalls macht. Aus dieser Beziehung ist damals ein Skandal erwachsen: Die Frau eines verdienten Frontkämpfers, der die Heimat verteidigt, im Liebesspiel mit einem Halbwüchsigen! Ein Eklat!! Regisseur Bellocchio hat diese skandalöse Beziehung ausgetauscht und ein Verhältnis einer Frau zum Attentäter ihres Vaters aufgebaut – So what? Ist das realistisch? Ist das skandalös? Oder in irgendeiner Weise aufregend? Nein, ist es nicht. Ein paar wenige Jahre nach dem Ende der Bombenattentate in Italien hatte sich auch hier das Interesse an einer Aufarbeitung gelegt, andere Themen hatten die Schlagzeilen besetzt, und prinzipiell hat ein früherer Terrorist in seiner Sprengkraft halt einfach nicht die Wirkung eines Soldaten während eines vaterländischen Kriegs, vor allem nicht aus der einstigen, meist eher patriotisch gefärbten, Sicht. Da hat sich Bellochio mit seiner bewussten Inszenierung eines Skandals ganz einfach verrechnet. Und heute, mit fast 40 Jahren Abstand, wirkt diese Verbindung noch müder als sie sowieso schon ist …

Maruschka Detmers war eine herausragende Schauspielerin, und ihr beim Spielen zuzusehen kann als Belohnung im Leben eines Filmfans verstanden werden. Aber alles andere an dem Film, von der arty-farty Musik über die vorsätzliche Langeweile der Handlung und den dümmlichen Dialogen sind verschwendete Lebenszeit. „Im Großen und Ganzen regiert die Ödnis.“ So ist es! Und wer wissen will wie Amour Fou wirklich geht, der sollte sich den im gleichen Jahr entstandenen BETTY BLUE – 37,2 GRAD AM MORGEN anschauen. DAS ist richtig gutes, erotisches, wildes, lebensfrohes, tragisches, spannendes Kino …

(1) https://www.prisma.de/filme/Teufel-im-Leib,291601
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 3445
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Privilege (Peter Watkins, 1967) 6/10

Irgendwo in den Tiefen des Internets begraben.jpg
Irgendwo in den Tiefen des Internets begraben.jpg (7.4 KiB) 138 mal betrachtet

OK, vergessen wir mal für einen Moment, dass es jemals einen Film namens THE WALL gegeben hat. Tun wir so, als ob die immerhin 15 Jahre später entstandene Geschichte des Rocksängers Pink und seines Selbsthasses niemals existierte, und gehen wir an PRIVILEG ganz unvoreingenommen heran. Was sehen wir? Wir sehen die Geschichte des Popsängers Steven Shorter, der von der britischen Regierung dafür verwendet wird, die aufmüpfigen Jugendlichen dieser Zeit unter Kontrolle zu halten. Steven wird als Idol aufgebaut, als Messias der Pop-Musik, und seine Botschaft heißt Freude und Frieden. In deutschen Begriffen wären das wohl Ruhe und Ordnung. Steven war auch einmal im Gefängnis, und das, was er dort erlebt hat, spielt er in seiner Bühnenperformance nach: Die Schläge, die Misshandlungen der Polizei, die Einsamkeit, das Ausgeliefertsein … Sein Publikum geht mit, leidet mit ihm, und als Steven die Bühne verlässt stürmt das Publikum auf die Polizisten auf der Bühne los und will diese in Fetzen reißen …

Steven Shorter ist ein Idol. Für die Jugend und für jeden. Er ist so groß wie der Messias, und er wird auch als Messias aufgebaut. Die Erzbischöfe von Essex, Cornwall, Surrey und Hersham tun sich zusammen, um die Christian Crusade Week zu initiieren, mit der der Glaube im Land wieder gestärkt werden soll, und Steven Shorter ist ihre Galionsfigur. Stevens Leben zwischen dem Dreh von Werbefilmchen und öffentlichen Auftritten in Steven Shorter-Discotheken oder Steven Shorter-Einkaufsmeilen zehrt ihn aus, frisst ihn auf, und lässt nur eine Hülle zurück. Der Personal Manager, der A&R-Mann der Plattenfirma, der Musikproduzent, jeder denkt einzig an Steven Shorters Karriere. Und wie sie ihm selber finanziell am besten nutzen kann. Einzig die Malerin Vanessa, die Steven eine Zeitlang in seinem „Alltag“ begleitet, hat Verständnis für ihn und versucht, ihn in eine andere Richtung zu drängen: Raus aus diesem Hamsterrad, wieder zu sich selbst finden, ein Individuum sein. Keine gute Idee, denn der politische und soziale Frieden im Land hängt längst von Steven Shorter ab …

Was für grandiose Bilder, wenn die Christian Crusade Week im National Stadium beginnt, Nebelschwaden über den Rasen ziehen, Pfadfinder aus dem ganzen Land zu christlicher Musik marschieren, und Reverend Tate sich ekstatisch geifernd an die Massen wendet um den wahren Glauben zu beschwören. Hinter ihm ein gigantisches Plakat von Steven Shorter, dessen eines Auge dabei immer zu sehen ist. Die Band, die dann das Lied von Steven singt, grüßt die Masse mit dem deutschen Gruß, und der Kommentator sieht das Ganze im Off trocken als großartige Veranstaltung.

Dies, und der unglaubliche Auftritt Stevens zu Beginn, wenn er von den Polizisten übelst geschlagen wird und den Fans im Publikum dabei die Tränen herunterlaufen, dies ist ganz ganz großes Kino! Steven streckt die mit Handschellen gefesselten Hände aus einem Käfig und singt „Set me free“, und die Gänsehaut frisst sich erbarmungslos die Seele hinauf. Diese Momente gehen unter die Haut, nicht nur in ihrer optischen Opulenz, sondern auch als ätzendes und boshaftes Statement über die Macht der Medien. Damals genauso wie heute.

Leider kann der Rest des Films mit diesen starken Momenten nicht so recht mithalten. Wir lernen nach und nach den personellen Umkreis Stevens kennen, eine unglaublich verkommene Mischpoke an geld- und machtgierigen Gestalten, und wir lauschen den Gesprächen zwischen Steven und Vanessa, in denen Vanessa versucht Hilfe anzubieten an einen Menschen, der innendrin schon längst nicht mehr existiert. Aber diese Augenblicke ziehen sich oft etwas hin – Dass die Welt aus egoistischen Arschlöchern besteht wissen wir längst, und dass das Musikbusiness da keine Ausnahme macht ist auch nichts Neues. Wenn Steven auf einer Party des Labelchefs heiße Schokolade bestellt, weil er trotzig wie ein zorniges Kind keinen Wein will, dann bestellen die Opportunisten in der Runde eben alle heiße Schokolade, und Steven sieht sich in seinem Versuch, seine Individualität zu beweisen, an der opportunen Masse gescheitert. Aber gerade in solchen Momenten fehlt der Biss der beiden großen, bereits beschriebenen Szenen, ist die Auflösung handzahm und unaufregend. Watkins‘ anderer starker Film, STRAFPARK, hat diesen Biss, und auch wenn beide Filme in ihrer Gesamtheit als Mockumentaries angelegt sind, mit Wackelkamera und Off-Kommentator, mit eingestreuten Interviewschnipseln und kommentierten Szenen aus einem öffentlichen Leben, so ist STRAFPARK insgesamt einfach aggressiver und damit auch treffsicherer in seiner Aussage. PRIVILEG mag in vielen Momente nicht so recht zuschnappen und verpasst die Chancen großer Bosheit, was den Film zwar nicht schlecht macht, aber dann doch wieder die Bilder und die Eindrücke des jüngeren Bruders THE WALL hochkommen lässt. Etwas schade um die verpassten Chancen, aber nichtsdestotrotz eindrucksvolle Kinomagie mit starkem Gänsehautcharakter.

Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 3445
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Wenn die Musik nicht wär‘ (Carmine Gallone, 1935) 8/10

Irgendwo in den Tiefen des Internets begraben.jpg
Irgendwo in den Tiefen des Internets begraben.jpg (7.4 KiB) 90 mal betrachtet

Im Berlin des Jahres 1880 gibt der erfolglose Klaviervirtuose Florian Mayr, mit Y, Unterricht im Hause des Konsul Burmeester. Dummerweise ist Thekla, die hübsche Tochter des Hauses so untalentiert, dass er ihr eines Tages einen Klaps auf die Hände gibt. Tja, das war es dann mit dem Einkommen als Klavierlehrer. Sein Nachfolger, der Aufschneider Kusjmitsch von Prschitschkin, ist mehr an der Heirat mit Thekla interessiert, sieht diese doch gut aus und gehört vor allem einer reichen Familie an. Thekla allerdings findet Kusjmitsch ausgesprochen unausstehlich, ganz im Gegensatz zur Mama, die schnell Hochzeitspläne zwischen den beiden schmiedet. Dabei ist Thekla doch so schrecklich in den Florian Mayr, mit Y, verliebt …
Der macht mittlerweile die Bekanntschaft mit Ilonka Badacz, ihres Zeichens Meisterschülerin bei Franz Liszt, und bekommt dadurch die Möglichkeit, im Hause Tockenburg dem großen Meister vorspielen zu dürfen. Dumm nur, dass es statt eines Klavierkonzertes von Mayr einen Satz heiße Ohren für Kusjmitsch gibt: Dieser und Florian prügeln sich nämlich, weswegen die Sache mit dem Klaviererfolg erst mal gegessen ist. Ilonka Badacz aber hat sich in den Florian verknallt und schafft es, dass dieser Schüler (und Sekretär) bei Meister Liszt wird. Wo eines Tages auch wieder Kusjmitsch auftaucht, die Noten für die Hochzeit mit Thekla vor sich her tragend. Eigentlich, ja eigentlich will der Florian ja die Thekla, und eigentlich will die Thekla ja nur den Florian. Aber sie sind halt beide so stolz. Und Theklas Mutter ist so stur. Und die Ilonka … Und der Meister Liszt … Ach, wenn halt nur die Musik nicht wär‘ …

WENN DIE MUSIK NICHT WÄR' ist einfach so dermaßen heiter und beschwingt, ist lustig, hat schöne Musik und großartige Schauspieler, und besteht einfach aus unglaublich vielen amüsanten Episoden, da kommen dann solche Inhaltsangaben fast wie von selbst zustande. Der eigentlich viel zu alte Paul Hörbiger beweist als Mayr mit Y auf köstlichste sein komisches Talent, Karin Hardt als Thekla ist zuckersüß und sehr sexy, und Louis Rainer als Franz Liszt könnte mit seiner Ausstrahlung fast Conrad Veidt in den Schatten stellen. Fast. Aber die absolute Überraschung ist Sybille Schmitz, die energisch, frech und sehr komisch ganz gegen ihr sonstiges Image besetzt wurde, und als scharfe Ungarin den gleichen Elan an den Tag legt wie Liselotte Pulver es viele Jahre später in ICH DENKE OFT AN PIROSCHKA tun wird: Ein Energiebündel, bestehend aus Unverschämtheit, Frechheit, Eigennutz, Paprika und Schönheit. Wo ist die elegante und distanzierte Dame von Welt, die man bei Sybille Schmitz sonst so oft sah? Wo die weltentfernte Dame aus gutem Haus? Hier durfte sich die Schmitz mal so richtig austoben, und das tut dem Film ungemein gut. Der Schmitz'sche Schwung, die bayerische Schlitzohrigkeit von Paul Hörbiger (der hier als Österreicher tatsächlich einen Bayern mit ganz leichtem Akzent spielt), und die erotische Unschuld der Hardt, das passt alles so herrlich zusammen, dass man die mehr als holprige Geschichte der letzten 20 Filmminuten gerne verzeiht.

Wir reden hier halt von einem Musiklustspiel aus der Mitte der 1930er-Jahre, was von den meisten Menschen heutzutage als Schund angesehen wird. Ich für meinen Teil bin froh, dass ich diesen Film sehen durfte, stellt er doch die meisten der ach so hochgelobten Filme eines Hans Moser oder eines Theo Lingen mit seiner Lockerheit und seinem natürlichen Witz locker in den Schatten. Schwere Empfehlung für eine längst überfällige Wiederentdeckung.
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
Benutzeravatar
Maulwurf
Beiträge: 3445
Registriert: Mo 12. Okt 2020, 18:11
Wohnort: Im finsteren Tal

Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Training Day (Antoine Fuqua, 2001) 8/10

Bild

Polizeifilme waren schon zu allen Zeiten beliebt, und sind beileibe keine Erfindung unserer Tage. Aber seit den 70ern und 80ern des letzten Jahrhunderts kommt es mir vor, als ob neben den bekannten Cop vs. Thug-Filmen mit guten Partnern, flotten Sprüchen und harter Action noch ein Subgenre dazugekommen ist. Eines, das sich der Abbildung der Wirklichkeit im Rahmen eines Polizeithrillers verschrieben hat, und den Finger auf Missstände legen möchte, ohne dabei eine spannende Narration zu vergessen. Filme wie BRENNPUNKT BROOKYLN oder FORT APACHE zeigen eine unbedingte Realität, die mit edelmütigen Ganoven und schönen und halbseidenen Damen nichts mehr zu tun hat. Hier regiert ausschließlich der persönliche Vorteil, und der Spruch aus dem Film SONNE UND BETON, „Der Klügere tritt nach“, ist hier bittere Wahrheit, denn dieser Tritt kann das Überleben sichern. Ein DARK BLUE – DIE FARBE DER KORRUPTION ist bei aller Hollwood’schen Buddy-haftigkeit ein Blick in ein Los Angeles, in welches sich keiner von uns verwöhnten Mitteleuropäern jemals wünscht, ganz zu schweigen von der härteren Variante COLORS – FARBEN DER GEWALT. Der hat vor allem einen sehr ruhigen und manchmal fast langweilig zu nennenden Fortgang, und überzeugt erst während der Laufzeit durch die Darstellung von Elend und Slum, von Kriminalität und einem Leben im Schatten, das sich niemals und auf keinen Fall in die Sonne bewegen wird. Für keinen der Charaktere, gleich auf welcher Seite des Gesetzes.

TRAINING DAY schließt an diese Filme an. Wir begleiten den jungen Cop Jake Hoyt, der sich bei der Drogenfahndung beworben hat, beim ersten Tag an der Seite seines mutmaßlich neuen Chefs, Harris Alonzo. Bewährt er sich an diesem Tag, darf er raus aus dem Streifendienst und an die richtig großen Dinger ran. Ehrgeizig ist er ja, aber ist er auch hart genug? Alonzo ist kein normaler Cop, und schon gar kein normaler Detective. Fortwährend provoziert er Jack, fordert ihn heraus, trampelt auf der Psyche Jacks herum. Sein Auto ist sein Büro, und damit cruist er durch LA, nimmt Drogenkonsumente hops (was nichts anderes bedeutet, als dass er ihnen seine Knarre an den Kopf hält, laute Sprüche ablässt, deren Geld und Dope klaut, und ihnen das Versprechen abnimmt, dass sie sich hier nie wieder blicken lassen), verteilt mitunter beschlagnahmte Gaben milde an die Ärmsten, und trinkt einen mit dem Drogendealer Roger. Das klingt jetzt nicht wirklich spektakulär, aber Alonzo hat halt eine andere Auffassung von Polizeidienst: Er verbrüdert sich mit Gangs und mit Dealern und dringt so ganz tief in die Drogenstrukturen der Stadt ein. Zu tief? Jake richtet seine Pistole auf ein paar arme Dope-Käufer. Jake verprügelt zwei Vergewaltiger und wird Zeuge, was Alonso mit den beiden macht (er lässt sie nämlich laufen!). Er raucht Angeldust. Er trinkt morgens um 10 seinen ersten 300-Dollar-Whiskey. Und er erschießt einen unbewaffneten Mann. Nein, das tut er nicht, das macht Alonzo. Aber Jake soll dafür seinen Greenhorn-Kopf hinhalten.

Die Welt, in der Alonzo und Jake sich bewegen, ist gnadenlos. Jede Schwäche des Cops wird sofort und gnadenlos aufgedeckt und ausgenützt. Jake wird ermahnt, niemals seinen Ehering im Dienst zu tragen, weil der Pöbel damit einen Ansatzpunkt hat ihm seine Würde zu nehmen. In den Schmutz der Straße zu stoßen. Und vergnügt auf ihn einzuschlagen. Alonzo lässt so etwas nicht mit sich machen, Alonzo ist ein Wolf. Er heult wie ein Wolf, er kämpft wie ein Wolf, und er weigert sich ein Schaf zu sein, solange er ein Wolf sein kann. Ist Jake auch ein Wolf? Ist er hart genug?

Ich sehe schon, ich lande immer wieder bei Alonzo, denn der ist die eigentliche Hauptfigur des Films. Jake ist ein junger Cop, der in einen Hexenkessel voller Abschaum blickt, den er niemals verstehen oder gar bändigen wird. Aber Alonzo, der ist der Richtige für so etwas. Er ist der Größte, der Stärkste, der Macker, und selbst wenn am Ende eine Pistole auf ihn gerichtet ist und seine vorgeblichen Kumpels sich vereint gegen ihn wenden, selbst dann rotzt er dem Mob noch seine Verachtung entgegen. Denzel Washington gibt alles, und seine Persönlichkeit und seine Ausstrahlung beherrschen den Film in jeder Sekunde. Wie mag der Schauspieler sich auf diese Rolle vorbereitet haben? Acht Wochen Leben im Slum und jeden Tag persönlich einen Bandenkrieg vom Zaun brechen?

Der andere große Darsteller ist die Stadt Los Angeles. So viel Dreck, so viel Verkommenheit, und die Viertel, die am respektabelsten aussehen tun das nur, weil die von den Homies auch am schärfsten kontrolliert werden. Gemeinsam mit Jake reisen wir in diese unsichtbare Welt, nicht so künstlich aufgeblasen wie in 8MM, und schon gar nicht so comichaft und übertrieben wie in ZWEI STAHLHARTE PROFIS. Aus jedem Meter Zelluloid schreit uns hier das wirkliche Leben entgegen, zeigt sich die Realität einer Stadt, die längst von der Kriminalität beherrscht wird, und in der die Cops nur die Möglichkeit haben zurückzuschlagen (was dann in den Fällen, wo sie den Falschen erwischen und alternativ entsetzlich über die Stränge schlagen, von der Presse breit ausgeschlachtet wird), oder unterzugehen. Oder eben mitzumachen beim großen Business, und abzusahnen wo es nur geht. Dass Alonzo seine Finger im Geschäft drin hat ist klar, aber wie tief drin steckt der Mann wirklich? Die Gerüchte, dass es wohl offensichtlich am letzten Wochenende Stunk mit ein paar Russen gab, die jetzt seinen Kopf wollen, diese Geschichten werden nur bruchstückhaft erklärt, und ergeben erst nach und nach ein vollständiges Bild. Nie wissen wir mehr als Jake, und warum er jetzt in der Wohnung dieses Dealers sitzt, zuschauen muss wie der Mann eiskalt von den Cops ermordet wird, und er dafür die Verantwortung zu übernehmen hat, das erschließt sich weder Jake noch uns vollständig. Wir haben zwar das Gefühl(!) dass Alonzo Recht hat mit seiner Einstellung, aber dass sein Vorgehen irgendwie falsch wirkt spüren wir ebenfalls. Doch wirklich wissen geht anders.

Und halt immer wieder Denzel Washington. Alonzo. Er beherrscht den Film, er beherrscht die Stadt, er beherrscht sein kleines Team, und er wird auch Jake beherrschen. Und wenn Jake nicht mitmacht, oder wenn er zu schwach ist, dann wird Jake wieder Streife fahren. Oder im Knast landen. Oder tot sein.

TRAINING DAY ist ruhig erzählt und lässt seinen großartigen Schauspielern viel Raum zum Spielen. Umso brachialer bricht dann die Gewalt in die Ruhe ein, raubt uns und den Charakteren den Atem, lässt uns schaudern. Erzählt wie ein Film aus der klassischen Phase der Traum-Fabrik, mit einem entspannten Beginn und einer sich nur allmählich steigernden Intensität, ist das Ende dann überraschenderweise merkwürdig un-Hollywoodesk. Die Geschichte endet einfach irgendwie, und auch dies ist Realismus: Kein eleganter Kugelhagel Woo’schen Ausmaßes, keine Cop-Partner die aus ihren 80-schüssigen Riesenwummen alle Bösen der Stadt im Alleingang beseitigen, keine brennenden Viertel die im Breitwandformat unter randalierendem Gangster-Rappern zusammenbrechen, sondern stattdessen bittere und schmerzhafte Realität. Und ein großartiger Film!!
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
Antworten