Cosmos - Andrzej Zulawski (2015)

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Salvatore Baccaro
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Cosmos - Andrzej Zulawski (2015)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Cosmos

Produktionsland: Frankreich 2015

Regie: Andrzej Zulawski

Darsteller: Jonathan Genet, Victoria Guerra, Johan Libéreau, Jean-Francois Balmer, Sabine Azéma


Als ich im Februar 2016 nach Berlin fahre, um mir Andrzej Zulawskis COSMOS anzuschauen, befinde ich mich in einer der wohl emotional turbulentesten Phasen meines Lebens: Meine Beziehung zu einer alleinerziehenden Mutter, die sich wegen ihrer Liebe zu mir aus ihrer unglücklichen Ehe gelöst hat, gleicht einer aufreibenden und zermürbenden Achterbahnfahrt zwischen olympischen Höhen und Hades-Tiefen; kurz bevor ich die Tickets für COSMOS kaufe, sind wir darin übereingekommen, unserer Geschichte erst einmal eine Schreibblockade aufzuerlegen; in Berlin komme ich bei einem Freund unter, der gerade eben aus der Psychiatrie entlassen worden ist, und Probleme damit hat, den Kopf in den Nacken zu legen und den Himmel zu betrachten, aus Angst, das Firmament könne auf ihn herunterfallen oder ihn verschlucken; in Berlin treffe ich eine Ex-Freundin von vor Jahren wieder, wegen der ich einst gar den Versuch unternahm, nach Berlin zu ziehen – (ein Unterfangen, das nach einer Woche in dieser lärmenden, mich völlig überfordernden Stadt kläglich scheiterte) -, und mit der ich seinerzeit ganze Nächte damit zubrachte, das Oeuvre Andrzej Zulawskis zu erkunden: Bei der Premiere von COSMOS auf der „Woche der Kritik“ in den Hackeschen Höfen sehen wir uns nach fast sechs Jahren erstmals wieder; es kommt, wie es kommen muss, wir landen bei ihr und im Bett, und das, obwohl sie mittlerweile selbst verlobt ist, und als ich nach Braunschweig zurückkehre, komme ich mir, beladen und überladen mit Gefühlen, die zu groß sind, als dass ich sie überhaupt komplett vom Scheitel bis zur Sohle erfassen könnte, selbst vor wie eine Figur aus einem Zulawski-Film.

Zu diesem Zeitpunkt ist Andrzej Zulawskis Status als derjenige Künstler, dessen Werk meinem Herzen am nächsten liegt, seit meiner Erstsichtung von POSSESSION mit Sechzehn ungebrochen. Zulawski hat mit NA SREBRNYM GLOBIE meinen liebsten Science-Fiction-Film inszeniert. Zulawski hat mit DIABEL mein liebstes Kostümdrama inszeniert. Zulawski hat mit LA NOTE BLEUE mein liebstes Biopic inszeniert. Zulawski hat mit L’IMPORTANT C’EST D’AIMER mein liebstes Melodrama inszeniert. Zulawski hat mit L’AMOUR BRAQUE meinen liebsten Gangsterfilm inszeniert. Zulawski hat mit POSSESSION meinen liebsten Horrorfilm, mein liebstes Ehedrama, meinen liebsten Berlinfilm, meinen liebsten Agententhriller, ach was, meinen liebsten Film überhaupt inszeniert. Schon lange vorm Februar 2016 habe ich mit Misstrauen die Gerüchte verfolgt, die in diversen Internetforen über ein Comeback Zulawskis kursierten. Dass Zulawski nach fünfzehnjähriger Abstinenz – sein vorerst letztes Werk erscheint 2000 mit LA FIDELITÉ – überhaupt noch einmal auf dem Regiestuhl Platz nimmt, glaube ich tatsächlich erst, als ich mir online die Tickets für COSMOS kaufen kann. Im Zug nach Berlin bin ich aufgeregt wie ein Teenie, der sein Pop-Idol leibhaftig sehen wird: Dabei ist Zulawski nicht mal live vor Ort; es wird „nur“ sein neuster Film gezeigt; aber was male ich mir nicht alles aus, was mich hinter dem Titel COSMOS erwarten wird. Im Zug nach Berlin bin ich aufgeregt, als würde ich einen noch ungeöffneten Brief im Schoß halten, den mir jemand, mit dem ich einst exzessive sinn- und herzbewegende Korrespondenz betrieben habe, nach langjährigem Schweigen geschrieben hat: Was wird wohl darin stehen? Auf jeden Fall umwerfen wird es mich.

Der Produzent Paulo Branco ist anwesend, hält eine kleine Ansprache. Andrzej wäre gerne gekommen, sei aber erkrankt, und lasse sich entschuldigen, sagt er. Als das Festival endet – am 18. Februar – ist Zulawski bereits seit einem Tag tot, gestorben an einem Krebsleiden, das der Öffentlichkeit scheinbar bewusst vorenthalten wurde – vielleicht, damit das Wissen, ein sterbenskranker Regisseur habe COSMOS quasi als sein Testament gedreht, die Premiere nicht überschattet? Dass Zulawski angesichts des drohenden Todes noch einmal den Wunsch verspürt hat, einen Spielfilm zu realisieren, oder aber während der Dreharbeiten von der eigenen Endlichkeit eingeholt worden ist, und COSMOS somit als ein Abschied vom Kino betrachtet werden muss, macht es für mich nicht einfacher, mit meinen Sichtungseindrücken zurande zu kommen: Möglicherweise sind meine Vorfreude, meine Erwartungshaltung zu hoch gewesen; möglicherweise hat mich die spezielle Sichtungssituation abgelenkt, eingekeilt zwischen meiner zugleich so fremd und vertraut wirkenden Ex-Freundin und meinem Freund, der darauf bestand, obwohl er es unter fremden Menschen kaum aushält, doch mit ins Kino zu kommen; möglicherweise bin ich einfach selbst zu verstrickt gewesen in zwischenmenschliche Eskapaden, um die zwischenmenschlichen Eskapaden von Zulawskis Helden auf der Leinwand allzu dicht an mich heranzulassen. Aber Fakt ist, dass ich die Hackeschen Höfe mit einem Bauch voll Enttäuschung verlasse – eine Enttäuschung, die ich noch nicht artikulieren kann, und die dann auch in den Folgetagen nicht richtig artikuliert wird, weil mich andere, bereits geschilderte Dinge in Anspruch nehmen, und, tja, weil COSMOS etwas tut, was bislang kein anderer Zulawski-Film getan hat: Er beginnt zu verblassen, meine Erinnerung gibt seine Bilder freiwillig her, sodass es mir bereits eine Woche später vorkommt, die einhundert Minuten Laufzeit hätten einzig und allein aus zwei, drei Szenen bestanden, einmal abgesehen davon, dass ich eine Story oder eine Botschaft niemals hätte wiedergeben können.

Auch deshalb schiebe ich die Zweitsichtung von COSMOS lange vor mir her. Ich schaue mir zum dreißigsten Mal LA FEMME PUBLIQUE an, zum zwanzigsten Mal SZAMANKA, zum zehnten Mal BORIS GODOUNOV. Aber um COSMOS schleiche ich herum wie eine Katze, die argwöhnt, dass ihre Milch vergiftet sein könnte. Dann fällt mir die Blu-Ray des Films in die Hände, und dann auch noch ein Blu-Ray-Player, und meine Ausflüchte kommen mir auf einmal albern vor: Wer sagt denn, dass mich COSMOS denn nicht jetzt auf dem genau richtigen Fuß erwischen wird, und mir Welten eröffnet, für die mein jüngeres Selbst von vor fast fünf Jahren noch gar nicht zugänglich gewesen ist? Nun, das sagt niemand. Trotzdem ändert auch unser zweiter Kontakt nicht viel daran, dass ich mich für COSMOS nicht so erwärmen kann wie für Zulawskis restliche Filme. Immerhin aber kann ich anschließend endlich Worte dafür finden, was für Faktoren es sind, die einen solchen Keil zwischen Zulawskis Schwanensang und mein Fanboytum treiben.

COSMOS ist die Verfilmung eines gleichnamigen Romans des polnischen Autors Witold Gombrowicz. Gelesen habe ich das 1965 veröffentlichte Werk nicht, und auch sonst nichts von Gombrowicz. Inwieweit sich Zulawski an die Vorlage hält, inwieweit er sich von ihr entfernt, inwieweit er sie einer fundamentalen metareflexiven Umwälzung unterzieht, wie er es beispielweise mit Romanen Dostojewskijs sowohl in LA FEMME PUBLIQUE wie in L’AMOUR BRAQUE getan hat, kann ich nicht beurteilen. Die Grundkonstellation jedenfalls lautet wie folgt: Zwei Freunde – Witold (sic!) und Fuchs – ziehen sich von ihren Verpflichtungen – (Witold paukt gerade für sein Juraexamen; Fuchs ist federführend in der Modebranche tätig) – aus der Pariser Hauptstadt an die portugiesische Küste zurück, wo sie eine Handvoll Wochen nutzen wollen, sich von ihrem Alltagsstress zu erholen. Unterkunft findet man in einer Pension, die von dem exzentrischen Ehepaar Woytis geführt wird. Ebenfalls unterm gleichen Dach untergebracht sind deren Tochter Lena, ihr Verlobter Lucien sowie das Dienstmädchen Catherette, eine ehemalige Nonne. Statt für seine Prüfung zu büffeln, verliert sich Witold bald nicht nur in den erotischen und intellektuellen Reizen Lenas, sondern wird auch von einem Vögelchen in Beschlag genommen, das er erhängt unweit des Wohnhauses im Dickicht findet, und das, als er es am nächsten Tag Fuchs zeigen will, spurlos verschwunden ist, dann aber kurze Zeit später doch wieder an der vorherigen Stelle baumelt. Die seltsamen Phänomene häufen sich: Kleine Holzstückchen schwingen aufgeknüpft in Baumwipfeln, und auch die Hauskatze endet mit einer Schlinge um den Hals. Selbst wenn ich an dieser Stelle mehr über den reinen Inhalt von COSMOS verraten wollen würde, es würde mir schlicht nicht einfallen, wie ich das anstellen sollte. Im Grunde setzt sich Zulawskis Film aus episodischen Szenen zusammen, in denen die Figuren – ähnlich wie in L’AMOUR BRAQUE oder MES NUITS SONT PLUS BELLES QUE VOS JOURS – primär mittels literarischer Zitate, poetischer Wortspielereien oder unverblümtem Nonsens miteinander kommunizieren: Abgesehen von den beiden erwähnten Werken hat sich Zulawski zuvor nie so weit von naturalistischen Dialogen entfernt wie hier. Wenn schon das gesprochene Wort größtenteils ein Buch mit sieben Siegeln ist – gedroppt werden im Minutentakt Titel von Filmklassikern, Anspielungen auf Sartre oder Dostojewskij, blumige Umschreibungen des eigenen Gefühlslebens –, erhofft man sich wenigstens von der diese hermetischen Sätze voranbringenden Handlung etwas Klarheit im selbstreflexiven Geflecht. Doch weit gefehlt: COSMOS etabliert seine Grundkonstellation, um sie während nahezu der gesamten Laufzeit lediglich horizontal weiter auszugestalten, und nicht etwa vertikal fortzuentwickeln. Anders gesagt: In COSMOS wartet man vergebens auf überraschende dramatische Wendungen, komplexe Handlungsvolten, irgendeine psychologisch nachvollziehbare Progression der Figuren – was an sich ebenfalls an MES NUITS SONT PLUS BELLES QUE VOS JOURS erinnert: Wo dort jedoch der Verfall einer logischen Sprache quasi Sujet des Films ist, könnte ich bei COSMOS nicht mal abschließend sagen, wovon der Film denn nun eigentlich handelt: Witold und Fuchs unternehmen einen Ausflug zum Strand, um über Pasolini zu debattieren; Witold beobachtet heimlich Lucien und Lena beim Beischlaf; in langen Tiraden vermittelt der Pensionsvater seine konfuse Lebensphilosophie; Witold wird von Träumen heimgesucht, in denen Catherette und Lena sich küssen und die entstellte Lippe des Dienstmädchens auf Wanderschaft zu gehen scheint; schließlich packt die komplette Familie nebst den Pensionsgästen ihre Siebensachen und fährt für ein paar Tage in ein Ferienhaus ans Meer, wo dann auch noch ein Priester die Gesellschaft komplettiert. Über weite Strecken könnte man COSMOS gerade aufgrund seines inhaltlichen Leerlaufs, seiner malerischen Aufnahmen von Klippen und Küsten, seiner exorbitanten Geschwätzigkeit für einen Film aus der Feder Eric Rohmers halten.

Diesen Eindruck stützt ebenfalls, dass Zulawski seine beiden entscheidenden Trademarks – die Hysterie der Darsteller; die Hysterie von Kamera/Montage – in COSMOS auf ein Minimum runtergefahren hat. Als sei Zulawski altersmilde geworden, unterbietet COSMOS noch den bereits sehr konventionellen LA FIDELITÈ, was die technisch-ästhetischen sowie schauspielerischen Exzesse betrifft, die Zulawskis Oeuvre seit seinem Debut TRZECIA CZESC NOCY auszeichnen und ihm eine singuläre Stellung innerhalb der Filmgeschichte sichern. Üblicherweise sind die Körper von Zulawskis Figuren Flächen, auf denen sich ihre Emotionen ungezügelt ausagieren. Anders als beispielweise Tarkowskij oder Bresson sperrt er die Leidenschaften nicht hinter unbeweglichen Mienen ein, sondern exorziert sie fortwährend, - was dann in solchen wahnsinnigen Orgien kulminiert wie beispielweise der berühmt-berüchtigten U-Bahn-Szene in POSSESSION. In COSMOS wirken die Figuren eher liebenswert skurril: Sicher, der Pensionsvater redet etwas zu viel, und die Pensionsmutter erstarrt in Momenten seelischer Aufregung mitten in ihren Bewegungen, und Witold unterhält ein eigenartiges Verhältnis zu den Objekten seiner Umwelt. Dennoch: Selbst, wenn Witold-Darsteller Jonathan Genet einmal mit Donald-Duck-Stimme mitten in die Kameralinse spricht, oder sich ein anderes Mal händeweise Salat in den Mund stopft, dann wirkt das im unaufgeregten Flow, den der Film an den Tag legt, tatsächlich eher wie der Einbruch manieristischer Spielereien, mit denen Zulawski auf die eigene Vergangenheit verweisen möchte. Auch die Kamera und der Schnitt könnten kaum zahmer sein. Vorbei ist die Zeit der entfesselten Handkamera wie in DIABEL oder POSSESSION; vorbei ist aber auch die Zeit der eleganten Plansequenzen wie in BORIS GOUDONOV oder LA NOTE BLEUE. Oft bleibt die Kamera statisch; die Montage ist größtenteils funktional, wirft nur manchmal zum Beispiel unerwartete Großaufnahmen von Gesichtern in den homogenen Schnittfluss, wenn diese etwas beiseite murmeln, als wollten sie sich ans Publikum wenden. Rein kamera- und montagetechnisch ist COSMOS – bis auf einige wenige schrulligen Einfälle – nun wirklich kein Streifen, der sich vom Gros moderner französischer Arthouse-Filme abheben würde, so wie auch die Darsteller sich kaum einmal in Regionen vorwagen, wo sie jene schmerzhafte, jedoch vor allem auch kathartische Ekstase und Intensität erreichen würden, wie sie jeden Film Zulawskis zumindest bis SZAMANKA mal mehr, mal weniger prägt. Sehr leid tut es mir übrigens, wie stark mir der Score von Zulawskis altem Weggefährten Andrzej Korzynski missfällt: Wenn Korzynski, der den Großteil von Zulawskis Regiearbeiten zumeist kongenial vertont hat, auf dramatische Streicher setzt, gehe ich ja noch d’accord. Die Titelmelodie mit ihren Flamenco-Gitarren, der dezenten Elektronik und dem kitschigen Klavier hört sich für mich allerdings, mit Verlaub, nicht viel anders an als etwas, das auch eine Fahrstuhlfahrt beschallen könnte.

Das wäre alles freilich noch gar keine Katastrophe, wenn COSMOS mich denn wenigstens irgendwie für seine Figuren oder seine Geschichte einnehmen würde. Dass er das nicht tut, hat vielleicht damit zu tun, dass Zulawski sich diesmal nicht nebenbei der Dekonstruktion etablierter Genre-Formeln widmet. Was seine Filme neben den surrealen Storys, den um ihr Leben spielenden Darstellern, der virtuosen Kameraführung und Montage sowie dem Willen, so viele Themen in einem Film unterzubringen wie möglich, für mich so groß macht, ist gerade der Umstand, dass er sich mit fast jedem seiner Werke ein bestimmtes Genre vorknöpft, um es sozusagen beiläufig zu erkunden, zu sezieren, neu zusammenzusetzen – und zwar ungleich weniger prätentiös als der reife Godard zum Beispiel. Auch wenn die Figuren ausnahmslos hysterisch herumschreien, doppeldeutigen Unfug brabbeln, sich aufführen wie im Drogenrausch – dass L’AMOUR BRAQUE einen genre-kundigen Zuschauer doch auf vertrautem Terrain abholt, liegt daran, dass Zulawski in diesem Rausch der derangierten Sinne nichtsdestotrotz den Standards des Gangsterfilms folgt, und wenn er sie auch fortwährend von den Füßen auf den Kopf stellt. Genau eine solche Grundierung fehlt COSMOS: Dem Titel entsprechend entwirft Zulawski ein eigenes, eigenwilliges, eigenartiges, selbstbezüglich um sich selbst kreisendes Universum, in dem eine etwaige Geschichte gar nicht die Chance erhält, sich zu konstituieren, verstreut fliegen die Splitter umher, derart disparat, dass es selbst mir, der ich erprobt bin, mir aus narrativen Fragmenten eine Story zusammenzuzimmern, schwerfällt, daraus irgendeine Form von rotem Faden zu destillieren. Bezeichnend ist, dass Zulawski seinen Film mit gleich zwei Enden versehen hat, die wir parallel präsentiert bekommen: Einmal verlässt Witold gemeinsam mit Lena die Pension ihrer Eltern; einmal ist er allein, als er sich von Fuchs verabschiedet. Bezeichnend ist auch, dass in der Pension Witoly pausenlos der Fernsehapparat flimmert. Zu sehen sind ausnahmslos Dokumentarbilder aus Krisengebieten: Bürgerkriege, hungernde Kinder, ökologische Katastrophe. Immer wieder sendet das TV seine aktuellen Schreckensmeldungen in den Äther, während unser Figurenensemble den Fernsehschirm keines Blickes würdigt und beim Abendessen stattdessen seine weltfremden, kryptischen Phasen hinausposaunt. Wäre es zu weit gegriffen, in solchen Momenten zu vermuten, dass COSMOS die Kritik an seiner eigenen weltfernen Agenda gleich auf einem Silbertablett mitliefert?

Meine Kritik wiederum bleibt bestehen, so sehr ich den Subtext von COSMOS auch abklopfe auf übersehene Meriten: Emotional hat mich Zulawskis letzter Film nicht erreicht; technisch-ästhetisch fand ich ihn überraschend gleichförmig; seine Story wirkt in ihren besten Momenten wie eine Rohmer-Pastiche, in ihren schlechtesten wie eine zusammenhanglose Sammlung von Zitaten, Handlungsversatzstücken, dadaistischen Stilblüten. Kurzum: Ich werde zu COSMOS im Laufe meines Lebens wohl noch seltener zurückkehren als zu Zulawskis vorletztem Streifen LA FIDELITÈ. Was die Wehmut ein bisschen dämpft, ist dabei die Gewissheit, dass dieser Mann mich mit seinen restlichen elf Langfilmen zwischen 1971 und 1996 zugleich verwundet und verarztet hat wie sonst kein zweiter Filmemacher.

Epilog: Mehrere Monate sind vergangen, seitdem ich den obigen Text getippt – und dann doch nicht gepostet habe. So, als hätte ich intuitiv gewusst, dass da noch etwas fehlt: Wie David Hemmings am Ende von PROFONDO ROSSO – der Mörder ist vermeintlich überführt, die Leinwand könnte schwarz werden, aber, nein, ein Detail wartet noch auf seine Entschlüsselung. Während einer Bahnfahrt vom Norden in den Süden habe ich nicht nur ein Ölgemälde mit zwei Tigern neben mir stehen, sondern im Schoß auch Gombrowiczs KOSMOS-Roman als Taschenbuch vom Fischer Verlag. Schon vom ersten Satz an bin ich entzückt, verwirrt, strapaziert: Wie ein Bewusstseinsstrom à la James Joyce, nur viel verrückter, berichtet der Ich-Erzähler dort von seinen Erlebnissen und Gefühlen, erfindet reihenweise neue Wörter, verwirft zwischenzeitlich korrekte Syntax und Satzzeichen völlig, um seinen Text förmlich herauszuhecheln. Innerhalb zweier Tage habe ich den Roman verschlungen – inzwischen mit Blick auf den Wald, in dem ich meine Kindheit verbrachte, und das Grab meiner Großeltern und diesen seltsamen Felsen, auf dessen Gipfel ein einzelner Baum wächst. Es ist erstaunlich, sage ich mir, wie eng sich Zulawski an die literarische Vorlage hält. Es ist alles da – sogar den POV-Shot aus Sicht eines Geiers, Habichts, Adlers hat er übernommen; selbst kleinste Details wie das Tischbesteck und die Vase, mon Dieu! Alles, was er hinzudichtet, sind die vielen Literatur- und Filmreferenzen – na gut, und zwei wirklich nebensächliche Figuren fielen der Schere zum Opfer. Auf einmal macht alles Sinn: Ich verstehe Gombrowicz in seinem wilden Wortwirbel, bei dem es eigentlich gar nichts zu verstehen gibt – ein weiterer Bruder im Geiste, dieser Pole, der sein halbes Leben in Lateinamerika verbracht hat, und zeitlos schreibt, als hätte er KOSMOS gestern erst zur Druckerei gebracht. Tagelang gehe ich mit dem Text schwanger – bei Wanderungen quer durch den Wald, bei Spaziergängen zum Grab meiner Großeltern, bei halsbrecherischen Klettertouren hinauf auf den Felsen, auf dessen Gipfel ein einziger Baum wächst.

Und dann passiert etwas Seltsames: Zulawskis Film beginnt nach mir zu rufen. Szenen fallen mir ein, Dialogfetzen, Gesichtsausdrücke. Ich muss mir den Film einfach nochmal ein drittes Mal anschauen, diesmal gerüstet mit Gombrowiczs Roman und damit einer neuen Perspektive auf den plötzlich gar nicht mehr so zusammenhanglosen Bilderreigen. Ganz am Anfang von LE MÉPRIS bringt Godard die Szene unter, zu der ihn Produzent Carlo Ponti quasi gezwungen hat: Die splitternackte Brigitte Bardot. Er liefert, was verlangt wird, und doch das genau Gegenteil, indem er den Körper der Schauspielerin zerstückelt: Liebst Du meinen Hintern, meine Augen, meine Lippen? Daran muss ich denken, als ich COSMOS immer wieder anklicke, um Bilder für das forumsinterne Screenshot-Quiz aus ihm herauszuschneiden: Der weit aufgerissene Mund von Hauptdarstellerin Victoria Guerra; das erhängte Suppenhuhn am Strommast; der POV-Shot aus der Sicht eines Geiers, Habichts oder Adlers…
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buxtebrawler
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Re: Cosmos - Andrzej Zulawski (2015)

Beitrag von buxtebrawler »

Sehr persönlicher Abriss, Salvatore - und dadurch umso spannender.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
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Arkadin
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Re: Cosmos - Andrzej Zulawski (2015)

Beitrag von Arkadin »

Boah, selten habe ich hier einem Autoren so an den Lippen gehangen, wie Dir eben. Ganz, ganz großartige Auseinandersetzung mit dem Film. Eigentlich viel zu schade für das Internet! So etwas gehört gedruckt! Wundervoll.

Zum Film, der hier auch seit einiger Zeit steht und (wie "La Fidelité") noch einer Sichtung harrt. Da wollte ich -- ähnlich wie Du im zweiten Anlauf - immer auf die richtige Stimmung warten. Ebenfalls ein wenig ängstlich, was mich da erwartet. Gerade weil auch ich die genannten Filme (zumindest die, die ich auch kenne, der eine oder andere fehlt mir noch) sehr liebe und wie Du ein spätes Meisterwerk, ein Testament, ein Abschiedsgeschenk erhoffte. Zulawskis Tod fiel ja mit dem von David Bowie zusammen. Und bei Beiden war vor ihrem unerwartet Sterben dieses Gefühl da: Jetzt passiert hier noch etwas Großes, Wichtiges, Neues, ein neuer Anfang - und dieser Weg wurde durch den Tod so grausam beendet. Bowies überwältigendes "Blackstar" ist für mich der schwarze Monolith. An Zulawski habe ich mich dann nicht mehr rangetraut. Vielleicht ist jetzt - gerade noch Deinem Text hier - die richtige Zeit gekommen.
Früher war mehr Lametta
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Salvatore Baccaro
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Re: Cosmos - Andrzej Zulawski (2015)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Arkadin hat geschrieben: Mo 15. Mär 2021, 11:05 Boah, selten habe ich hier einem Autoren so an den Lippen gehangen, wie Dir eben. Ganz, ganz großartige Auseinandersetzung mit dem Film. Eigentlich viel zu schade für das Internet! So etwas gehört gedruckt! Wundervoll.
Merci. :oops:
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