Die Unsterbliche - Alain Robbe-Grillet (1963)

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Maulwurf
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Die Unsterbliche - Alain Robbe-Grillet (1963)

Beitrag von Maulwurf »

 
Die Unsterbliche
L’Immortelle
Frankreich / Italien / Türkei 1963
Regie: Alain Robbe-Grillet
Françoise Brion, Jacques Doniol-Valcroze, Guido Celano, Sezer Sezin, Ulvi Uraz, Belkis Mutlu, Catherine Blisson, Catherine Robbe-Grillet


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André ist jung und schüchtern, er spricht kein türkisch, hat aber in der Nähe von Istanbul eine Stelle als Lehrer angenommen. André lernt Lale kennen, das bedeutet Tulpe. Lale ist alles was er sich jemals gewünscht hat, auch wenn sie sich Leila nennt. Lale ist schön, auch wenn sie Lucille heißt. Lale ist klug. Lucille spricht mehrere Sprachen. Lale ist voller Geheimnisse. Leila verbringt die Tage mit André, und doch fällt ihm bei aller Verliebtheit auf, dass immer ein sonnenbebrillter Mann mit zwei Dobermännern in ihrer Nähe ist. Und dass jeder Mann und jede Frau sie zu kennen scheint, unter welchem Namen auch immer. Und dass Lucille seine Berührungen nur akzeptiert, wenn sie unter sich sind. Wenn niemand zuschauen kann. Dann, und nur dann, gibt Lale sich ihm bedingungslos hin.
Leila zeigt André Istanbul. Die Moscheen, die Schiffe, die Frauen zu den Sultanen bringen, wo sie versklavt werden. Glaubt dies nicht! Es ist alles nur ein Traum. Nichts ist wahr.
Und eines Tages ist die schöne rothaarige Frau nicht mehr da. Tot. Tot? Kann ein Traum sterben? Oder lebt er weiter? Unter einem anderen Namen, in einer anderen Gestalt vielleicht. Wie eine Vision, die sich auf unstete Art weiterentwickelt und zu etwas wird, was vorher nicht da war. Und hinterher nicht mehr da sein wird. Wenn doch alles ein Traum ist, ist dann auch die Frau ein Traum?

Die Straßen Istanbuls sind mit Häusern bestanden die gar nicht existieren. Eine Frau die in einer Moschee betet, obwohl sie das gar nicht dürfte. Die Frau spricht türkisch, aber nur das Touristentürkisch. Und Französisch. Und griechisch. Die Frau kennt die Gedichte des Sultans Selim. Welches Sultans? Das ist nicht wichtig, sie hießen alle gleich, und ihre Gedichte handeln von Rosen und von Frauen und von Schiffen und von Palästen …

Ist Lale real? Ist Lale ein Wunschbild Andrés? Ist das nicht eigentlich völlig unerheblich? In einer Stadt, die aus Träumen und aus Geschichte(n) besteht, in der sich eine uralte Historie mit einer ewigen Lust am Fabulieren verbindet, wer kann da noch wissen wo die Visionen beginnen und eine, wie auch immer geartete, Realität endet? Wo die tief empfundene Weiblichkeit Leilas an ihre physischen Grenzen stößt, die wie ein sonnenbebrillter Aufpasser aussehen könnte. Oder wie ein Fischhändler. Oder wie ein kleiner Junge. Oder wie ein Straßenverkäufer. Wie eine Märchenprinzessin reitet Lucille in ihrem großen weißen Auto in die Stadt der Träume und entführt den kleinen Mann in eine Welt jenseits von Hier. Und Alain Robbe-Grillet, der Regisseur dieser Träume, findet dafür genau die passenden Bilder. Mal steht die Zeit, und nur André bewegt sich noch. Mal rennt sie, und in einer Szene, wenn André meint dass er seine Lale, das bedeutet Tulpe, dass er sie wiedergefunden hat, drängeln sich die Menschen um ihn und er kann sich keinen Zentimeter mehr bewegen. Ein Traum … Vielleicht?

Allerspätestens in der letzten halben Stunde des Films verlassen wir dann die gewohnten narrativen Pfade und betreten den Lost Highway in Richtung des Mulholland Drives, um das Inland Empire Robbe-Grillets zu betreten. Es gibt keine Geschichte mehr und keine Erzählung, die Geländer an den schwammigen Rändern der Narration lösen sich in Nebel auf und Protagonist und Zuschauer fallen in ein Meer, bestehend aus Träumen, Fantasien und Einbildungen. Nichts ist wahr. Außer dass es hier tatsächlich jemand geschafft hat, einem Traum eine zelluloide Gestalt zu geben. Und der Prinzessin dieses Traums gleich mit.

DIE UNSTERBLICHE ist becircend. Ist verstörend. Ist verträumt. DIE UNSTERBLICHE ist kein Film, den man in herkömmliche Muster pressen und mit gewohnten Kriterien beurteilen könnte. Michel Gondry könnte das vielleicht, und David Lynch ganz sicher. Alle anderen müssen sich dieser leichten und in der Hitze der sommerlichen Stadt sirrenden Fantasie hingeben und mit den Bildern und der Träumen mitschwimmen. Davon träumen, mit Lale, dieser Tulpe, im kühlen Schatten im hohen Gras zu liegen und den Zikaden zuzuhören, während die Schiffe auf dem Bosporus Frauen zu den Sultanen bringen …

DIE UNSTERBLICHE ist so anders als alles, was man 60 Jahre später mit dem Begriff Film verbindet, dass sich die Realität tatsächlich aufzulösen beginnt. Zumindest scheint sie an den Außenseiten faserig und durchlässig zu werden. War da gerade etwas? Sicher nur ein Traum …

7/10
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