Fièvre - Louis Delluc (1921)

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Salvatore Baccaro
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Fièvre - Louis Delluc (1921)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Fièvre

Produktionsland: Frankreich 1921

Regie: Louis Delluc

Darsteller: Ève Francis, Edmond Van Daële, Gaston Modot, George Footit, Yvonne Aurel, Andrew Brunelle, Solange Sicard


Eine Hafenbar in Marseille: Hier versammeln sich die Ausgestoßenen der Gesellschaft, gestrandete Matrosen, verbandelt nicht mehr mit der See, sondern mit ihrem Schnapsglas, im Suff versumpfte Intellektuelle, die sich in den schummrigen Kneipenecken ihren schwermütigen Gedanken hingeben, leichte Mädchen, darauf aus, den benebelten Gästen noch den einen oder andern Groschen aus den löchrigen Taschen zu zupfen. Betrieben wird die Schenke von Topinelli. Der ist mit Sarah verheiratet. Allzu rosig läuft das Eheleben nicht. Sarah hat Topinelli eher aus pragmatischen Gründen geehelicht, als dass ihr dieser Schritt von ihrem Herz diktiert worden wäre. Topinelli wiederum sieht Sarahs Flirtleidenschaft überhaupt nicht gern: Kaum ein feuchtfröhlicher Abend, an dem sie den Seemännern nicht schöne Augen macht. Nur einmal hat sie geliebt, vor vielen Jahren. Militis hieß ihr Angebeteter, der sie verließ, um gen Asien einzuschiffen. Seitdem hat sie kein Sterbenswörtchen mehr von ihm gehört. Als Topinell ihr den Hof machte, hat sie sich nicht widersetzt. Obwohl sie für ihren Mann eher Verachtung empfindet als irgendeine Form wenigstens freundschaftlichen Respekts.

Als Sarah gerade mit einem unattraktiven Büroangestellten flirtet, fallen die allabendlichen Matrosenmeuten in die Kneipe ein – und unter diesen befindet sich ausgerechnet der sehnsüchtig erwartete Militis, im Schlepptau eine Orientalin, die er in der Ferne zur Frau genommen hat. Die sich daraus ergebende Konstellation – Sarah ist auf die Orientalin eifersüchtig, möchte Militis zurückgewinnen; dem Büroangestellte ist Militis ein Dorn im Auge, weswegen er Topinelli auf dessen Bekanntschaft mit Sarah aufmerksam macht; Topinelli lässt die Fäuste spiegeln, um Sarahs ehemaligen Liebhaber in seine Schranken zu verweisen – führt unweigerlich zur Katastrophe: Als am Ende des Films die Polizei die Kneipe stürmt, gleicht sie einem Schlachtfeld voller verletzter und toter Menschen…

Obwohl Louis Delluc nicht älter als 33 geworden ist, hat er uns nicht nur mehrere Romane und filmtheoretische Schriften hinterlassen, in denen er als einer der Ersten überhaupt das Kino zur Kunstform ausruft, sondern auch einen Korpus von sieben Filmen, von denen wiederum leider nur knapp die Hälfte den Zahn der Zeit überdauerten. Im Umfeld des französischen Filmimpressionismus befindet sich Delluc bis zu seinem frühen Tod 1924 in Gesellschaft von Kino-Poeten wie Germaine Dulac, Jean Epstein, Marcel L’Herbier – und legt mit seinem bekanntesten Film, dem 45minütigen FIÈVRE, wie ich mich gestern einmal mehr überzeugte, ein Glanzstück nicht nur dieser Phase der französischen Filmgeschichte vor.

Was FIÈVRE für mich in den Meisterwerkstatus erhebt, ist seine betörende Mischung aus ungeschöntem Realismus – (in seiner Schilderung der Kundschaft der Hafenkneipe erinnert der Film an den literarischen Naturalismus eines Émile Zola, wozu auch passt, dass Delluc den Streifen ursprünglich auf den zola-esquen Titel LA BOUE taufen wollte, was jedoch der Zensurbehörde gehörig gegen den Strich ging) – sowie visuellem Lyrismus – (die malerischen Außenaufnahmen des Marseiller Hafens; das bedeutungsschwangere Symbol einer Blume, die sich letztlich, was ziemlich gut die gesamte Agenda des Films zusammenfasst, als bloßer Plastiktant herausstellt; die Detailaufnahmen von Objekten, Gesichtern, sogar einem Äffchen, das einer der Matrosen als Schoßtier mit sich führt, und das wie ein Indikator für die allmählich hochkochende Stimmung innerhalb der Zeche fungiert: Anfangs lässt es sich noch herzlich liebkosen, später sitzt es schrill kreischend versteckt auf den Deckenbalken); - vor allem aber überwältigt mich immer wieder die ungebremste Wucht, mit der die Handlung unaufhörlich auf die finale Katastrophe zusteuert – eine Wucht, die dadurch begünstigt wird, dass FIÈVRE über nur einen einzigen Schauplatz verfügt und auf eine Weise inszeniert ist, als seien Erzählzeit und erzählte Zeit nahezu deckungsgleich. Es wirkt tatsächlich, als würden wir als stille Beobachter einen Abend lang in Topinellis Kneipe sitzen und zuschauen, wie sich die Protagonisten mehr und mehr in das titelgebende Fieber aus unterdrückten Sehnsüchten und Emotionen hineinsteigern, bis diese unweigerlich zum Ausbruch kommen – und gleich das komplette Interieur der Schenke mit sich reißen.

Diesmal fiel mir auf, dass Dellucs Streifen zusammen mit Gaspar Noes CLIMAX ein vortreffliches Programm abgeben würde, und wie sehr CLIMAX nachgerade wie ein Update von FIÈVRE wirkt: Dieselbe Deckungsgleichheit von Zeit und Raum; ebenfalls eine Gruppe zusammengewürfelter Personen, zwischen denen unausgesprochene Feindschaften, Liebeleien, Eifersüchteleien köcheln; statt bewusstseinserweiternder Drogen wird bei Delluc zwar nur dem Schankwein zugesprochen, doch im Endeffekt läuft auch FIÈVRE auf Polizisten hinaus, die sich in der demolierten Kneipen einem Haufen physisch und psychisch versehrter Menschen gegenübersieht, nachdem Topinelli und Militis sich in einen Faustkampf verwickelt haben, nachdem Sarah die versammelten Prostituierten gegen die Orientalin aufgehetzt hat, worauf diese wie Hyänen über die arglose Frau herfielen; nachdem sich auch die trunkenen Matrosen in den Beziehungskonflikt eingemischt und die halbe Schankstube auseinandergenommen haben.

Müsste ich jemals eine Subversionsgeschichte des stummen Kinos schreiben, käme FIÈVRE darin eine exponierte Stellung zu: Ein Film wie ein Fieberrausch, tatsächlich!
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Salvatore Baccaro
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Re: Fièvre - Louis Delluc (1921)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

https://www.cinematheque.fr/henri/film/48026-fievre-louis-delluc-1921/

Derzeit gemeinfrei auf den ehrenhaften Seiten der Cinémathèque zu besehen - und, ich schwöre euch, das lohnt sich. Leider ohne englische Untertitel, doch meine obige Inhaltsangabe sollte es für's Verständnis der Feinheiten eigentlich tun...

Je länger ich darüber nachdenke desto unbedeutender erscheinen mir ja hofierte Monumental-Epen à la Fritz Langs METROPOLIS für meine persönliche Geschichte des stummen Kinos: Ja, da werden Feuerwerke abgebrannt, en masse. Aber die mich wirklich ergötzenden Funken fliegen chaotisch, alkoholschwanger und begleitet von Äffchengekreisch in einer verwahrlosten Hafenbar Marseilles umher, - eben so, wie sie Delluc in diesem Meisterwerk einzufangen versucht...
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