Kandisha - Alexandre Bustillo, Julien Maury (2020)

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Salvatore Baccaro
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Kandisha - Alexandre Bustillo, Julien Maury (2020)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Kandisha

Produktionsland: Frankreich 2020

Regie: Alexandre Bustillo, Julien Maury

Cast: Mathilde Lamusse, Suzy Bemba, Samarcande Saadi, Mériem Sarolie, Walid Afkir, Félix Glaux-Delporto, Sandor Funtek, Nassim Lyes


Für seinen fünften Langfilm bedient sich das französische Regie-Duo Julien Maury und Alexandre Bustillo, das 2007 mit À L’INTÉRIEUR einen der wichtigsten und wüstesten Streifen der neueren französischen Terrorkino-Welle ablieferte, bei einer genuin nordmarokkanischen Legende: Aisha Kandisha ist der Name eines weiblichen Dschinns, der es bevorzugt darauf abgesehen hat, Vertreter des männlichen Geschlechts zu molestieren. Die ruhelose Seele einer Frau, die im 16. Jahrhundert etliche Portugiesen verführt und ermordet haben soll, kann mittels einer Prise Hokuspokus, bei dem ein Pentagramm und das fünfmalige Aussprechen ihres Namens ausreichend sind, beschworen werden, wenn Geschlechtsgenossinnen Ärger mit ihren Lebenspartnern oder Ehemänner haben. Dann aber verschwindet das ziegen- oder eselshufige Burkagespenst erst wieder, wenn es nicht nur dasjenige Mannsbild um die Ecke gebracht hat, wegen dem sie gerufen worden ist, - auch müssen fünf weitere Männer aus dem näheren Umkreis ihrer Beschwörerin dranglauben.

Versetzt werden die Grundzüge dieses Schauermärchens ins Frankreich des frühen 21. Jahrhunderts, konkret: In die Banlieues von Paris, wo die drei heranwachsenden Freundinnen Amélie, Morjana und Bintou ihre Sommerferien mit den üblichen Teenagerproblemen und -hobbys verbringen. Man ergötzt sich an tagesaktuellem Hip Hop; man treibt sich nachts in leerstehenden Gebäuden herum, um deren Wände mit Graffiti zu verschönern; man streitet sich mit den Eltern, wenn deren empfindlichen Näschen gerochen haben, dass man heimlich in seinem Zimmer einen Joint geraucht hat; man windet sich wie ein Aal, sobald einem bewusst wird, dass das Leben nicht ewig so weitergehen wird, sondern in naher Zukunft solche Dinge wie Ausbildung oder Studium auf einen warten; natürlich kämpft man auch mit unerfüllter Liebe oder, wie im Falle Amélies, mit einem Ex-Freund, der einfach nicht einsehen will, dass die Beziehung zu Grabe getragen worden ist. Tatsächlich belässt es Farid nicht nur dabei, Amélies Freunde zu bitten, ein gutes Wort für ihn einzulegen, und seiner Verflossenen auf Schritt und Tritt zu folgen: Eines Abends, als Amélie ihm unmissverständlich klarzumachen versucht, dass sie ihn wegen seines aggressiven Auftretens nicht mal mehr mit der Kneifzange anfassen wird, brennen bei ihm sämtliche Sicherungen durch, er verprügelt Amélie, unternimmt gar Anstalten, sie auf einem Haufen Müllsäcke zu vergewaltigen; nur durch einen gezielten Tritt in Farids Weichteile gelingt es Amélie, ihrem Ex zu entkommen. Unter Tränen zusammenbrechend in der heimischen Badewanne erinnert Amélie sich sodann an die Geschichte von Aisha Kandisha, die ihr ihre marokkanischstämmige Freundin Morjana kürzlich erzählt hat: Mit ihrem Blut schmiert sie ein Pentagramm an die Wandfliesen und flüstert fünfmal den Namen der Ziegendämonin, damit diese Farid die Leviten liest. Genau das geschieht dann auch: Noch in derselben Nacht kommt Farid unter die Räder eines PKWs. Was zunächst nach einem Unfall aussieht, erscheint Amélie mehr und mehr wie eine Intervention des Geistes, den sie unüberlegterweise herbeigerufen hat, - zumal sich in den folgenden Tagen weitere Suizide in ihrem Freundes- und Bekanntenumfeld häufen, und jedes Mal sind es Männer, die sich unmotiviert in Lagerfeuer schmeißen oder aber ohne nachvollziehbare Gründe aus Hochhausfenstern stürzen. Für Amélie, Bintou und Morjana steht bald fest: Kandisha befindet sich auf Massakertour und arbeitet sich dabei immer näher an diejenigen Männer heran, die den drei Mädchen am nächsten stehen, namentlich: ihre Väter und ihre Brüder. Einzig ein exkommunizierter Imam, dessen Fachgebiet das Exorzisieren von Dämonen ist, scheint noch helfen zu können, um dem Morden Einhalt zu gebieten...

Was seine Genre-Aspekte betrifft, handelt es sich bei KANDISHA um eine weitgehend konventionelle Angelegenheit: Gemäß routinierten Slasher-Prinzips metzelt sich die muslimische Medusa durch die XY-Chromosom-Träger des (überschaubaren) Casts, wobei sich die Morde selbst in ihrer Drastik zunehmend steigern, (und die CGI-Einlagen sich gerade im Finale nicht die eine oder andere trashige Überzeichnung sparen), und obwohl ich per se weiblichen Dämonen mit Ziegenfüßen positiv gegenüberstehe, nimmt es der Antagonistin doch etwas ihre gruslige Wirkung, dass sie, sobald man sie einmal in ihrer vollen Pracht erblickt, einem computergenerierten Satyr zum Verwechseln ähnlich sieht. Auch storytechnisch trumpft das wie üblich von Maury und Bustillo höchstselbst verantwortete Drehbuch mit keinerlei nennenswerten Überraschungen auf: Selbst die (verstörend realistisch anmutende) Opferung eines arglosen Käfigkaninchens und das eine oder andere surreale Einsprengsel während den Beschwörungen Kandishas, (dass die Mädchen meinen, ihre Arme würden von Flammen verzehrt werden; dass plötzlich Schnee inmitten geschlossener Räume zu rieseln beginnt), lehnen sich nicht so weit über Genre-Konventionen hinaus, dass sie in den Verdacht geraten würden, sonderlich originell zu sein.

Viel spannender als den ganzen übernatürlichen Mumpitz fand ich aber sowieso die Art und Weise, wie Maury und Bustillo das soziale Milieu ihrer Heldinnen, die Gruppendynamik innerhalb der Mädchenclique, generell die graue Atmosphäre des migrantisch geprägten städtischen Vororts inszenieren, in dem KANDISHA angesiedelt ist: Obwohl für die (von den Jungschauspielerinnen übrigens überzeugend verkörperten) drei Freundinnen Amélie, Bintou und Morjana ihre Herkunft und Hautfarbe im Grunde, was ihre zwischenmenschliche Verbundenheit, keine Rolle spielt – (Amélie ist eine autochthone Französin; Bintous Familie stammt aus einem nicht näher spezifizierten afrikanischen Land; Morjanas inzwischen verstorbene Eltern sind aus Marokko nach Frankreich emigriert) -, zielen sie in ihren Flachsereien doch beständig mitten ins Herz Politischer Korrektheit: Da wird Amélie schon einmal als „Weißbrot“ tituliert, Morjana wie selbstverständlicher als „Arabermädchen“ bezeichnet und Bintou muss sich anhören, sie sei aufgrund ihrer Ethnie prädestiniert dafür, AIDS zu bekommen, - das alles wohlgemerkt im Rahmen eines juvenilen Spiels, das rassistische Beleidigungen adaptiert, um sie ins Feld kosender, wenn auch derber Wertschätzung zu überführen, (und nicht zufällig fällt einmal auch der augenzwinkernd gemeinte Vorwurf eines der Mädchen an die andern beiden, sie seien „dreckige Rassistinnen“.) Während sich Bintou, Morjana und Amélie ihre divergierende kulturelle und ethnische Hintergründe ständig bewusst machen und dieses Bewusstwerden permanent spielerisch unterwandern und karikieren, wiegen die ökonomischen Unterschiede interessanterweise viel schwerer als der Umstand, dass die Mädchen unterschiedlich pigmentiert sind: Als Amélie Bintou als „Bourgeoise“ neckt, trifft sie das sichtlich; nur weil ihre Eltern über die Jahre genügend gespart hätten, um aus den Hochhausplatten, in denen Morjana und Amélie noch immer wohnen, auszuziehen und sich ein Einfamilienhaus leisten zu können, heiße das doch nicht, dass sie nicht mehr noch immer dasselbe Mädchen aus dem Block sei!

Ebenso zum Nachdenken anregende Aspekte reißt KANDISHA beim Verhältnis der Mädchen zu ihren Eltern an: Während Morjana eine Vollwaise ist und ihre (männliche) Bezugsperson deshalb allein in ihrem größeren Bruder hat, verhält sich Amélies Mutter in ihrer einzigen Szene auffallend lethargisch, sprich, sie liegt fernsehend auf der Couch herum, wo sie kaum Notiz von Amélie und ihrem kleinen Bruder nimmt; der zugehörige Ehemann wiederum nutzt anscheinend jede sich bietende Gelegenheit, Amélie Vorhaltungen zu machen und seine Tochter in Streitereien zu verwickeln. Liebevoll ist der Umgang Bintous mit ihrem Vater, der sich in einer Fabrik die Knochen kaputtschuftet, um seiner Tochter eine bessere Zukunft bieten zu können, - und auch in dieser Konstellation gilt, dass die Mutter seltsam abwesend ist, namentlich: Obwohl erwähnt wird, dass Bintou eine solche besitzt, taucht sie im gesamten Film kein einziges Mal auf. Ersetzt werden diese toten, unsichtbaren, apathischen Mütter gewissermaßen durch Aisha Kandisha, die nicht nur die Wut unserer Heldinnen gegenüber des Patriarchats kanalisiert, sondern zugleich auch als eine Art strafende, dominante Übermutter auftritt. Letztendlich könnte man den Themenkreis, den KANDISHA eher kurz antippt als wirklich bewusst anpackt auch noch um Subtexte von Neo-Kolonialismus und Fragen nach kultureller Aneignung erweitern, (wodurch KANDISHA in eine Traditionslinie mit ähnlich die Furcht vor den düsteren Geheimnissen des Orients zelebrierenden Klassikern wie Karl Freunds THE MUMMY gehören würde), - nur werden all diese Dinge, wie gesagt, mehr angedeutet als wirklich ausformuliert, was gerade angesichts der knappen Laufzeit von fünfundsiebzig Minuten verwundert, denn hätten sich Maury und Bustillo etwas mehr auf die oben genannten sozialen, ökonomischen, kulturellen Implikationen konzentriert, hätte aus ihrem fünften Langfilm vielleicht mehr werden können als ein recht innovationsarmer, wenn auch optisch ansprechender und technisch kompetent in den Kasten gebrachten Horror-Slasher, der sein Potential, zumindest für meine Begriffe, verschenkt, als handle es sich um abgenutzte Möbel bei einer Haushaltsauflösung: Da verkommen die Banlieues dann doch zur bloßen Kulisse; da handeln die zunächst vielschichtig gezeichneten Heldinnen dann doch wie handelsübliche Horror-Heroinen; da reflektiert der Film seine Entscheidung, eine islamische Dämonin als fundamentale Gefahr des Westens zu instrumentalisieren, höchstens unbewusst...
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