L'auberge rouge - Jean Epstein (1923)

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Salvatore Baccaro
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L'auberge rouge - Jean Epstein (1923)

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Originaltitel: L'auberge rouge

Produktionsland: Frankreich 1923

Regie: Jean Epstein

Darsteller: Gina Manès, Léon Mathot, Jacques Christiany, Jean-David Évremond, Robert Tourneur, Marcelle Schmitt


Im Jahre 1825 lädt ein Pariser Bankier Freunde und Bekannte zum Bankett. Zu den Gästen zählt auch ein deutscher Kaufmann namens Hermann, der in der besseren Gesellschaft offenbar den Ruf genießt, ein begnadeter Erzähler schauriger Geschichten zu sein. Folgerichtig bittet ihn die Tochter des Gastgebers, nachdem sich die versammelte Mannschaft die Bäuche vollgeschlagen hat, eine seiner Anekdoten zum Besten zu geben. Hermann lässt sich nicht lange bitten und entführt seine Zuhörerschaft ins Jahr 1799: In Europa tobt der Zweite Koalitionskrieg und zwei Freunde – der eine heißt Prosper Magnan, den Namen des andern hat Hermann vergessen – kehren auf dem Weg zum Militärregiment, wo sie ihren Kriegsdienst leisten sollen, in einem süddeutschen Gasthaus, eben der titelgebenden „Roten Herberge“, ein. Diese ist jedoch bereits randvoll mit Gästen, weshalb der Wirt die beiden Freunde bittet, ihr Gemach mit einem Handelsreisenden zu teilen, der freimütig im Schankraum den kostbaren Schmuck herumzeigt, mit dem er unterwegs ist. Obwohl eine Wahrsagerin ihm beim Kartelegen prophezeit hat, seine weitere Vita sei mit solchen unliebsamen Dingen wie Verbrechen und Mord bestückt, reift in Prosper der Plan, den dritten Zimmergenossen, wenn alle eingeschlafen sind, zu meucheln und sich mit den Juwelen aus dem Staub zu machen. In letzter Sekunde jedoch lässt er den Arm mit dem Dolch sinken, der bereits den Brustkorb des Händlers anvisiert hat, und verkriecht sich erschüttert von der eigenen Skrupellosigkeit in die Federn. Ein schönes Erwachen gibt es nicht für Prosper, im Gegenteil: Beim Aufstehen findet er den Handelsreisenden in seinem eigenen Blut vor; sowohl von seinen Handelsgütern wie von seinem Freund fehlt jedwede Spur. Prosper wird des Mordes angeklagt, im Eilverfahren abgeurteilt, und als die Tochter des Wirts, die ein Auge auf unseren Freund geworfen hat, zu seiner Hilfe eilen möchte, um den begründeten Verdacht zu äußern, sein Weggefährte sei der eigentliche Mörder, liegt Prosper bereits von Kugeln zersiebt auf dem Feld. Hermann selbst hat die Geschichte Prospers von eben dieser Tochter des Besitzers der „Roten Herberge“ gehört. Immer wieder wird seine Erzählung von Impressionen der Tischgesellschaft unterbrochen. Ein gewisser Monsieur Taillefer ist es, der sich zunehmend auffällig verhält, regelrecht mitgenommen von Hermanns Vortrag wirkt. In einem jungen Mann, bei dem es sich um den Verlobten von Taillefers Tochter handelt, keimt ein schrecklicher Verdacht: Könnte es nicht sein, dass sein Schwiegervater in spe eben jener ruchlose Geselle ist, der vor vielen Jahren einen arglosen Handelsreisenden ermordet und seinen engen Freund Prosper wissentlich ans Messer geliefert hat? Beim Kartenspiel versucht er, Taillefer auf den Zahn zu fühlen, und vor allem herauszubekommen, in welchem Regiment er 1799 gedient hat…

1923 inszeniert Jean Epstein, der später zu einem der zentralen Akteure des sogenannten französischen Stummfilmimpressionismus werden sollte, nach einer 1830er Novelle von Honoré Balzac sein Spielfilm-Debüt in Eigenregie. Zum Vertrag mit Pathé verholfen hat ihm Jean Benoît-Lévy, mit dem zusammen Epstein zuvor bereits als Co-Regisseur ein Biopic über Louis Pasteur drehen durfte. Vieles, was auch Epsteins folgende Pathé-Werke wie COEUR FIDÈLE oder LA BELLE NIVERNAISE auszeichnen wird, ist auch in L’AUBERGE ROUGE bereits en nuce angelegt: Extreme Close-UPs, ungewöhnlich für einen kommerziellen Spielfilm der frühen 20er; schräge Kameraperspektiven; assoziativ-metaphorische Überblendungen – das alles aber wohlgemerkt wohldosiert eingesetzt, und niemals so, dass L’AUBERGE ROUGE nicht vordergründig ein unterhaltsamer Kostümfilm mit düsteren Obertönen sein würde, der mit seiner um Mord und Totschlag, Schuld und Sühne, Schicksal und Vorbestimmung kreisenden Story tatsächlich einige Parallelen zu Epsteins wohl berühmtestem Film, der Poe-Adaption LA CHUTE DE LA MAISON USHER, aufweist, und mit der Szene, in der eine Wahrsagerin dem Helden der Binnenerzählung, Prosper, eine scheußliche Zukunft voraussagt, für einen kurzen Moment gar in waschechtem Genre-Gewässer badet. Ansonsten speist L’AUBERGE ROUGE seinen besonderen Reiz daraus, dass Rahmen- und Binnenhandlung parallel zueinander erzählt werden: Ständig wirft uns die kühne Montage jäh aus den Ereignissen des Jahres 1799 in die des Jahres 1830, wobei die Mienen der gebannt Hermanns Geschichte lauschenden Tischgesellschaft nahezu metareflexiv die Ereignisse von dessen Anekdote kommentieren – was soweit führt, dass sich im Finale beide Erzählstränge auf dramatische Weise miteinander verknüpfen. Auch wenn Epsteins Debüt durchaus seine narrativen und technisch-ästhetischen Meriten hat und man die Handschrift des künftigen Meisters bei genauem Hinsehen bereits zart erkennen kann, zählt L’AUBERGE ROUGE aber sicherlich nicht zu den Großtaten dieses begnadeten Filmpoeten, sondern trägt eher den Charakter einer wichtigen Fingerübung, in der der damals gerade mal Mittzwanziger erstmals seine Fühler nach einer revolutionären Bildsprache ausstreckt, ohne sich noch großartig über die Konventionen des Kinos seiner Zeit hinauszulehnen, (wie er das, was sein Frühwerk betrifft, vor allem in COEUR FIDÈLE tun wird - von reinen Avantgardefilmen wie LA CHUTE DE LA MAISON USHER oder LA GLACE À TROIS FACES ganz zu schweigen.)
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