La cigarette - Germaine Dulac (1919)

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Salvatore Baccaro
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La cigarette - Germaine Dulac (1919)

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Originaltitel: La cigarette

Produktionsland: Frankreich 1919

Regie: Germaine Dulac

Cast: Andrée Brabant, Genevieve Williams, Gabriel Signoret, Jules Raucourt


Ein alternder Pariser Archäologe und Museumsdirektor erhält einen ganz besonderen Schatz für die von ihm betreute Sammlung antiker Artefakte: Die Mumie einer altägyptischen Prinzessin, deren Körper zu Lebzeiten einer der verführerischsten des gesamten Pharaonenreichs gewesen sein soll. Seinen Reizen verfiel seinerzeit nicht nur der amtierende Regent des Nilstaates, der die Prinzessin zu seiner Herzensdame ernennt, auch andere Männer sind nicht vor der Schönheit der Dame gefeit gewesen, wobei die junge Frau allerdings nicht im Traum daran dachte, Rücksicht auf die Gefühle ihres älteren Ehemanns zu nehmen und, laut Überlieferung, von Bett zu Bett schlüpfte. Gebrochenen Herzens entschied der Pharao sich für eine reichlich eigenwillige Art der Selbsttötung: Er soll seinen Dienern befohlen, ein vergiftetes Gericht zuzubereiten und ließ es mit anderen Ingredienzien seiner Küche vermengen, sodass er nicht wusste, zu welchem Zeitpunkt er seinen letzten Bissen tat. Genau dies wiederholt auch unser Held in der Gegenwart, der in einer ganz ähnlichen Beziehungskonstellation lebt: Die Angetraute des Archäologen nämlich ist Jahrzehnte jünger, besucht gerne Bälle, flirtet mit gleichaltrigen Männern, beklagt sich immer öfter, dass ihr Gatte wiederum seine Nase einzig in alte Folianten steckt und eher mit seiner Bibliothek verheiratet scheint. Mehr und mehr keimt in diesem der Verdacht, seine Liebste könne ihn bereits seit geraumer Zeit hintergehen, - und die Geschichte von der ägyptischen Prinzessin ist der letzte Tropfen, der noch fehlt, um seine Mutmaßungen zur Obsession werden zu lassen. Bald sieht er in jedem Bekannten seiner Frau einen potenziellen Ehebrecher, und stets, wenn die junge Frau sich ins Nachtleben stürzt, imaginiert er sie in heißer Umarmung mit einem Nebenbuhler. So möchte und kann er nicht weiterleben, - weshalb er sich ein Beispiel am Pharao nimmt und in eine seiner Zigaretten ein letales Gift injiziert; diese würfelt er sodann mit einem Haufen weiterer Glimmstängel zusammen; Höhepunkt der Selbstqual soll es sein, niemals Gewissheit zu haben, wann er die letzte Zigarette seines Lebens anzündet, diejenige, die sein Leben beenden wird…

Germaine Dulac zählt zu den wichtigsten Filmpionierinnen. Bekannt ist die 1882 in Amiens geborene Regisseurin vor allem für ihre Experimentalfilme aus der zweiten Hälfte der 20er Jahre – namentlich: LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN von 1928, dem das Verdienst zukommt, noch ein Jahr vor UN CHIEN ANDALOU ein surrealistisches Feuerwerk auf der Leinwand abzubrennen. Auch den (großartigen!) LA SOURIANTE MADAME BEUDET, ein avantgardistisch angehauchtes Ehemelodram, trifft man öfter, wenn man nach Klassikern dezidiert feministischen Kinos fahndet. Nachdem sich Dulac Ende der 20er, Anfang der 30er vollends vom narrativen Film verabschiedete und beispielweise mit der Juxtaposition von Bild und Ton experimentierte, verlegt sie sich im weiteren Verlauf ihrer Karriere auf Gaumont-Wochenschauen, wo sie vorrangig sozialkritische Themen beackert. Als eins ihrer Frühwerke ist LA CIGARETTE noch relativ weit von der überbordenden Symbolik, den wilden Montagen, den fragmentarischen Handlungsfetzen ihrer Experimentalfilme entfernt. Stattdessen entpuppt sich der gerade mal einstündige Streifen als relativ konventionell inszeniertes Drama, das mir aber vor allem aufgrund seiner Affinität für Mumien bestens behagt hat: Wie das Drehbuch von Jacques de Baroncelli eine altägyptische Liebestragödie mit einer modernen Ehekrise koppelt, das erinnert mich stark an spätere Horrorstreifen à la Karl Freunds THE MUMMY, - nur eben ohne phantastische Elemente, vielmehr mit einem Grausen, das nach innen, in die Psyche unseres Helden, verlagert wird. Je mehr sich der Museumsdirektor mit der Prinzessinnenmumie umgibt, sie alsbald gar unter einem fadenscheinigen Vorwand zu sich nach Hause transportieren lässt, wo sie nunmehr sein Arbeitszimmer dominiert, desto weiter verstrickt er sich auch in die peinigenden Phantasien, seine lebensfreudige Gattin würde ihm seit geraumer Zeit schon Hörner aufsetzen. Der Angriff der Vergangenheit auf die Gegenwart ist freilich ein arg melodramatischer, der dann auch wenig überraschend in einem beinahe kitschigen Happy End mündet, - trotzdem würde ich LA CIGARETTE in jeder Kinomumien-Retrospektive seinen festen Platz zugestehen, zumal die weibliche Mumie auch wirklich wundervoll gestaltet worden ist und der Film die vielleicht merkwürdigste Art aufbietet, sich zu suizidieren, die mir jemals untergekommen ist…
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