La Goulve - Mario Mercier (1972)

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Salvatore Baccaro
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La Goulve - Mario Mercier (1972)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: La Goulve

Produktionsland: Frankreich 1972

Regie: Mario Mercier

Darsteller: Hervé Hendrickx, César Torres, Anne Varèze, Marie-Ange Saint Clair, Maïka Simon
Es gibt wohl nur zwei Wege, wie man sich Mario Merciers LA GOULVE aus dem Jahre 1972 annähern kann: 1) Man zeigt sich überfordert, ermüdet, regelrecht abgestoßen von seiner fehlenden Kohärenz, der mangelnden Dramaturgie, dem ostentativ zur Schau getragenen non-narrativen Ansatz. 2) Man fühlt sich hineingesogen in den halluzinogenen Rausch, den der Film zu evozieren versteht, gerade weil er sich nicht mit herkömmlichen Erzählstrukturen, mit inhaltlicher Kohärenz oder einer ausgefeilten Dramaturgie abgibt, sondern sich allein auf die Suggestionskraft seiner Bilder verlässt.

Die Familie des kleinen Raymonds ist durch Morde und Selbstmorde dezimiert worden. Da es heißt, ein Unglücksstern stünde über ihm, wird der Bub regelmäßig von seinen Schulkameraden und anderen Dorfkindern verprügelt. Eines Tages treiben es seine Feinde dabei so weit, dass er verletzt und bewusstlos am Wegesrand liegenbleibt. Erwachend findet sich unser Held in der Hütte von Axel wieder, einem Greis, der in der ganzen Gegend als Zauberer verschrien ist, dessen Gesellschaft man am besten meiden solle. Raymond indes ist faszinierend von der Hexenküche, von den vielen Zaubertränken und Phiolen, vor allem aber von dem Bildnis einer schönen Frau. Wer dies sei?, fragt der Bengel seinen neuen Freund, worauf Axel antwortet, das sei ein übernatürliches weibliches Wesen namens Goulve. Ob sie denn wirklich so grausam sei wie sie auf dem Bild wirke?, will Raymond weiter wissen, worauf Axel ihn beruhigt: Nein, nur ihre Gegner würden ihre unbändige Wut zu spüren bekommen.

Es gibt wahrscheinlich zwei Dinge, die man Mario Merciers LA GOULVE vorwerfen kann, je nachdem, ob man sich für Lesart 1) oder für Lesart 2) entscheidet: A) Dass der Film seine anfänglich zumindest zaghaft aufgedröselte Storyline doch besser konsequent hätte fortführen sollen, mit Figuren, die einen etwas angehen, mit psychologisch motivierten Handlungen, mit Ereignissen, die sich logisch verketten: Dann hätte aus LA GOULVE vielleicht kein guter, aber doch ein halbwegs erträglicher Film werden können. B) Dass der Film sich für ein Werk, das dezidiert die Verbildlichung eines magischen Rausches, einer außer Kontrolle geratenen Beschwörung jenseitiger Mächte, einer surrealistisch-psychedelischen Orgie der Gemütszustände sein will, nachdem es seine anfänglichen narrativen Elemente glücklicherweise schnell über Bord geworfen hat, ästhetisch-technisch doch im Hintertreffen vor seinem überschäumenden Inhalt bleibt: Aus LA GOULVE hätte vielleicht ein Meisterwerk werden können, wenn Mercier den Mut für noch extravagantere Kamerawinkel, für einen noch assoziativeren Schnitt, für noch frenetischere und bedrohlichere Klavier- und Synthie-Klänge gehabt hätte.

Jahre ziehen ins Land, Axel stirbt, Raymond beerbt seine Zauberkräfte. Mit Frauen jedoch steht der inzwischen zum Jüngling Herangewachsene auf Kriegsfuß. Oder, besser gesagt: Agnès, ein Mädchen aus dem Dorf, mit dem er sich manchmal zum Umherschweifen durch die Natur trifft, übergießt ihn aufgrund seiner Schüchternheit, ja regelrechten Verklemmtheit, regelmäßig mit Spott und Häme, provoziert ihn beim Nacktbaden mit ihren Brüsten, verlacht ihn, wenn er es nicht wagt, ebenfalls aus den Kleidern zu schlüpfen und zu ihr ins Nass zu hüpfen. Als dann auch noch seine Cousine Nadine zu Besuch kommt, die Raymond scheinbar seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hat, brechen sich lang unterdrückte Triebe und seelische Verletzungen unseres Helden ungezügelt Bahn. Dass er die Goulve beschwört, ist nur der Auftakt für eine ganze Serie von befremdlichen Vorgängen: Agnès beschleicht auf einmal die Leidenschaft, ihr Geschlechtsteil an Baumstämmen reiben zu müssen; Nadine findet sich, nachdem sie vor der Goulve in den Wald geflohen ist, als Gefangene Raymonds in dessen Keller wieder; ein Mann, bei dem es sich möglicherweise um einen von Raymonds ehemaligen Peinigern handelt, irrt ziellos durchs Unterholz, stürzt in eine Grube, wird von argen Halluzinationen und Wachträumen malträtiert; Raymond wiederum verschmilzt wortwörtlich mit der Goulve, wechselt fortan sein Geschlecht in Sekundenschnelle.

Dass LA GOULVE nach seiner Kino-Premiere niemals auf einem Heimmedien erschienen ist, dafür kursieren diverse Gründe im Netz. So soll die Katholische Kirche gegen die satanische Symbiose aus Schwarzmagie und Sexualität gewettert und dafür gesorgt haben, dass der Film schnell aus dem Verkehr gezogen wurde. Auch seien die zeitgenössischen Kritiker und Filmjournalisten entweder aus ästhetischer oder aus moralischer Sicht (oder beidem) so wenig begeistert von Merciers Werk gewesen, dass sie es kurzerhand entweder totschwiegen oder mit übler Mundpropaganda überzogen, und somit zum desaströsen Kassenmisserfolg beitrugen. Ebenfalls wird kolportiert, eine der Darstellerinen sei bei Ansicht des fertigen Films ob der Dinge, die sie da so alles vor der Kameralinse veranstaltet, derart entsetzt gewesen, dass sie rechtlich gegen die Verbreitung dieses Schandflecks innerhalb ihrer Filmographie vorgegangen sei. Nicht zuletzt scheint Mario Mercier selbst unzufrieden zumindest mit der Fassung, in der der Film letztlich die Lichtspielhäuser enterte. In einem Interview lässt er verlautbaren, dass Produzent Bebi Fontana sich unerlaubterweise an LA GOULVE zu schaffen gemacht, sprich, den Film um die eine oder andere Passage bereinigt habe, deren Fehlen wiederum für Mercier das Gesamtwerk ruiniere, - (wobei ich mich frage, was denn das für Szenen gewesen sein sollen, die Fontanas glattbügelnden Schnitt zum Opfer fielen, um das Werk vermeintlich massenkompatibler zu gestalten, wo doch das heute vorliegende Endergebnis noch immer jedem unvorbereiteten Betrachter die Kinnlade aushebeln dürfte.) Wie dem auch sei, ist LA GOULVE ein noch obskureres Stück französischen Hexen-Kinos als Merciers Nachfolgeprojekt LA PAPESSE, der im direkten Vergleich dann auch einen ganz sanften Hauch konventioneller und goutierbarer wirkt als die frei flottierenden Phantasmagorien, die einen in LA GOULVE wahlweise bedrängen oder beglücken.

Jean Rollin, Kenneth Anger, Bruno Gantillon mögen Namen sein, die einem bei der Sichtung von LA GOULVE unwillkürlich in den Kopf schießen, - nur um sofort wieder daraus zu verschwinden, da Mercier einen durchweg eigenen (und eigenartigen) Stil besitzt, mit dem er sich vortastet in die Welt des Okkulten, der er selbst auch zeitlebens aktiv verpflichtet gewesen zu sein scheint, und für deren akkurate Bebilderung er gar einen Esoterik-Guru namens Claude Déplac als Experten zu den Dreharbeiten hinzuholte. Dabei schwankt LA GOULVE, wie schon die von mir oben skizzierten beiden diametral entgegengesetzten Standpunkte zum Film anklingen lassen, ziemlich virtuos und vage zwischen narrativem Kino und purem Experimentalfilm, zwischen Genre-Film und ausladender Performance-Kunst, zwischen Momenten, die atmosphärischer kaum sein könnten, und welchen, bei denen man an seinem Verstand zweifelt: Ein Huhn wird geopfert und sein Blut in einem Kelch aufgefangen; eine Frau verletzt sich selbst mit einer Rasierklinge an Oberschenkel und Hals, worauf die Wunden sich wie von Zauberhand gleich wieder schließen; ebenso tanzt eine Frau, die sich offenkundig in einen Trancezustand verabschiedet hat, inmitten zahlloser sich windender Schlangen; ein Mann reißt sich sein Gesicht vom Kopf, um darunter eine Maske zu entblößen; aus Frauenfingern schießen Blitze, magische Kugeln kommen zum Einsatz und unheimliche Lichter, die über Dachfirsten blinken.

Wer wegen des englischen Verleihtitels EROTIC WITCHCRAFT indes einen schwülen Softporno erwartet, der dürfte enttäuscht heillos enttäuscht sein. Wo LA PAPESSE nämlich recht anstandslos in den SM-Keller hinabsteigt, zeigt sich LA GOULVE weitaus desinteressiert an entkleideten Frauenkörpern, (obwohl diese freilich auch nicht zu kurz kommen), sondern legt seine Emphase deutlich auf den zweiten Aspekt: Die Hexenkunst. Wie authentisch all die Riten und kultischen Handlungen und Beschwörungen, die Mercier uns pausenlos vorführen lässt, nun tatsächlich sind, mag ich nicht zu entscheiden. Was ich weiß, ist aber, dass selbst meine obige Inhaltsangabe auf vagen Stelzen steht bei einem Film, in dem nicht nur die Grenzen von Vernunft und Verstand permanent ausgehobelt werden, sondern offenbar auch Geschlechter und Individuen zu völlig fluiden Größen dahinschmelzen.

Das Problem mit einem Film wie LA GOULVE ist natürlich folgendes: Man sieht ihn in einer Fassung, die völlig anders geartet ist als die, in die er ursprünglich vor sein Publikum getreten ist, nämlich nicht als 35mm-Kopie auf der großen Leinwand, sondern als Digifile, bei dem offenbar eine bereits ziemlich farbstichige Kopie von der großen Leinwand abgefilmt worden ist, - was dem Film zwar einerseits den Charme vergilbter Folianten verleiht, die einem in den versteckteren Katakombennischen einer Okkult-Bibliothek in die Finger rutschen, und die man nach anfänglichem Schaudern dann doch aufzuschlagen wagt, jedoch andererseits verhindert, dass man sich eine abschließende Meinung über ihn zu bilden imstande ist, die nicht beeinträchtigt wäre von den unvorteilhaften Sichtungsbedingungen.

So viel kann ich aber sagen: Meine Lesart wäre eher die Nummer 2). In einer wunderbaren Szene beispielweise wird Raymond von einer Gruppe Friedhofsgärtner verspottet. Einer von ihnen holt einen Frosch aus dem Edreich heraus, wo ein frisches Grab entstehen soll. Plötzlich ist die Kamera selbst verbuddelt in der Grube und der Frosch wird von der Schippe herab direkt auf ihre Linse gekippt. Solche kruden Ideen, die hätte ich mir dann doch noch mehr gewünscht. Ja, ich weiß, ich bin unersättlich...

Eine wahre Unverschämtheit übrigens ist es, was Danny Shipka in "Perverse Titillation", seinem Buch über das Exploitation-Kino Frankreichs, Spaniens und Italiens über LA GOULVE schreibt: "Shot with no budget and utilizing amateur actors who happily cavort in the nude, the film plays like a French version of an Ed Wood film, clumsily handling the sexual fulfillment angle, and resembling an amateur high school production complete with topless models."
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