La vache qui rumine - Georges Rey (1969)

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Salvatore Baccaro
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La vache qui rumine - Georges Rey (1969)

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Vache.jpg
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Originaltitel: La vache qui rumine

Produktionsland: Frankreich 1969

Regie: Georges Rey

Cast: Eine grübelnde Kuh auf einer Wiese


La vache qui rit. Die Kuh, die lacht. Dieses Tier gehört in Frankreich in fast jede gutbestückte nicht-veganen Küche: Von der runden Käseverpackung sonnenstrahlt uns eine braunfellige Kuh entgegen, mit Ringen an den Öhrchen und einer sattgrünen Landschaft hinter sich, in der wohl jeder gerne mal ein paar Grashalme rupfen würde. Die Realität sieht freilich in den meisten Fällen anders aus: Ein verschwindend geringer Teil der zur Milchproduktion gehaltenen Kühe dürfte in ihrem Leben einmal Gelegenheit haben, unbekümmert über eine Bergwiese zu streifen, und dass eine Milchkuh in der industriell organisierten Agrarwirtschaft besonders viele Gründe zu dem ausgelassenen Gelächter hat, das die Comic-Variante auf der Käsepackung anstimmt, kann ich mir ebenfalls nicht vorstellen…

Dabei geht die lachende Kuh eigentlich auf ein Stück pfiffiger Kriegspropaganda zurück: Im Ersten Weltkrieg bemalt der Illustrator Benjamin Rabier Militärfahrzeuge mit dem Konterfei des kichernden Rindviehs, um sich über die deutschen Gegner lustig zu machen. La vache qui rit, das klingt ausgesprochen ganz ähnlich wie Wachkyrie: Die Walküren, die das Kaiserreich Wilhelms zum Schlachtfeldsieg führen soll, sind in Wirklichkeit bloß gackernde Paarhufer. Léon Bel, seines Zeichens Käsefabrikant aus dem Jura-Département, ist derart angetan von den Zeichnungen seines Kriegskameraden, das er die lachende Kuh zum Werbeträger kürt. In einer Zeit, als Käse zumeist noch handwerklich verfertigt wird und sich die moderne Supermarkt-Kultur noch nicht etabliert hat, stellt Bels Marketingstunt eine Innovation dar: Zunächst ist die Comic-Kuh lediglich als Lockmittel gedacht, um Kinder für den Käse zu begeistern; bald kennt sie in Frankreich der überwiegende Teil der Bevölkerung.

Dass sich LA VACHE QUI RUMINE, eine Arbeit des 1942 in Lyon geborenen Experimentalfilmemachers Georges Rey aus dem Jahre 1969, auf den berühmten Käse bezieht, liegt auf der Hand. Ursprünglich ist der exakt 2 Minuten und 46 Sekunden dauernde Loop als Teil eines Triptychons gedacht gewesen, das nicht im klassischen Kinokontext, sondern im Rahmen von Galerieausstellungen aufgeführt werden sollte. Die beiden anderen Teilen sind genauso lang, heißen L’HOMME NU und LA SOURCE DE LA LOIRE, und zeigen genau das, was sie im Titel führen: Ersterer einen splitterfasernackten Mann in Rückenansicht, der weitgehend regungslos in einer Art White Cube herumsteht; zweiterer die Quelle des Flusses Loire in Großaufnahme, ein winziges Löchlein, aus dem mühsam Tröpfchen für Tröpfchen sickert, derart nah gefilmt, dass ich im ersten Moment ernsthaft glaubte, ich würde ein weibliches Geschlechtsteil oder einen Anus sehen.

Auch LA VACHE QUI RUMINE hält erstmal keine Überraschungen bereit: Da ist eine Kuh, gebannt auf schwarzweißes 16mm-Filmmaterial, die auf einer Weide herumliegt, und, wie es im Titel heißt, über Dinge nachgrübelt. Ihre Vorderläufe sind nach hinten geklappt; gemächlich kauend bewegt sie den Kopf langsam hin und her; ihre Ohren wechseln manchmal die Richtung, in die sie lauschen; ihr Schatten fällt aufs Gras; einmal guckt sie für ein paar Sekunden direkt in die Kamera, als würde sie jetzt erst bemerken, dass da ein Objektiv auf sie gerichtet ist, misst diesem Umstand aber anscheinend wenig Bedeutung bei, denn einen Moment später hat sie sich schon wieder abgewendet und hängt weiter ihren Gedanken nach.

LA VACHE QUI RUMINE ist für mich – zumal als Loop betrachtet – der ultimative Meditationsfilm: Das, was Georges Rey behauptet, das die Kuh da tut – nämlich über Gott und die Welt nachsinnen –, springt automatisch auf mich über. Die Kuh ist schön, es ist schön, dass in diesem Kurzfilm nichts passiert, es ist schön, dass er kein Anfang und kein Ende hat, und als ungebremste Schlaufe bis in alle Ewigkeit so weiterlaufen könnte. Diese Kuh lacht definitiv nicht, wirkt eher nachdenklich, eine schwarzweißgefleckte Philosophin, die vielleicht die ethischen Probleme wälzt, die es mit sich bringt, dass ihre Artgenossinnen möglicherweise nur einen Steinwurf entfernt in lichtlosen Massenställen ihr Dasein fristen, während eine Comic-Replik derselben uns von Produkten entgegenfeixt, die aus der Milch entstanden sind, von der sie ihre längst im Schlachthaus geendeten Jungen hätten ernähren wollen.

Der Referenzrahmen von Reys Film ist freilich noch weiter gespannt als bis zu französischen Industriekäsen. Man kann an Marcel Duchamps Ready-Mades denken: So wie Duchamp, noch im Dada-Modus, in den 1910ern einfach ein Urinal in eine New Yorker Kunstgalerie pflanzte und erklärte, das Pissoir sei nun ART™, weil es sich im Umfeld von ART™ befinde, sammelt Rey mit seiner Kamera eine an sich völlig banale Alltagsimpression – eine Kuh auf einer Weide; puh, wie oft hat man das schon gesehen?! –, und adelt sie dadurch, dass er sie in eine Kunstausstellung integriert. Eine implizite Kritik am kommerzialisierten Kunstbetrieb schwingt da mit: Wenn ALLES Kunst sein kann, ist dann nicht am Ende nichts mehr KUNST? Ein Urinal in eine Galerie schaffen, das hätte ich auch gekonnt! Eine Kuh filmen, ebenso! Wo ist da das Handwerk, das Talent, das Geschick? LA VACHE QUI RUMINE transformieren primär die Parameter, mit denen der Film rezipiert wird, zum Kunstfilm; ohne diese wäre es ein kurzes Video, das Patentante und Patenonkel bei der letzten Landpartie geschossen haben.

Ins Positive gewendet kann man sich aber auch an Andy Warhols SCREEN TESTS erinnert fühlen: Gemäß Warhols Credo, jeder und jede könne ein STAR™ sein, versammelt er bekannte und (noch) unbekannte Persönlichkeiten vor seiner Kamera, impft seinen Modellen ein, sie sollen einfach so sein, wie sie sind, verlässt den Raum, lässt sie mit dem Apparat allein, kehrt erst zurück, als der Analogfilm voll ist. Warum aber in den Grenzen bleiben, die uns der Speziesismus setzt?, scheint Reys Film zu fragen: Wenn alle zu Stars werden können, wieso nicht eine Kuh auf einer Weide? Schaut, wie photogen sie ist, wie graziös sie kaut, wie bezaubernd ihr Fell fällt. Auch hier: Wenn ALLES Kunst ist, kann dann überhaupt noch etwas KUNST sein? Bei Duchamp läuft diese (rhetorische) Frage auf die Entwertung des herkömmlichen Verständnisses von Kunst hinaus, bei Warhol auf eine Verzauberung der Welt, die zu einem Ort wird, an dem jedes Lebewesen, selbst die grübelndste Kuh, für fünf Minuten zum schillernden Mittelpunkt werden kann, um den sich alles dreht.

Wie in Warhols Serienproduktion von Siebdrucken, bei denen die Frage nach Original und Reproduktion obsolet wird, hat übrigens auch die lachende Kuh von Léon Bel schnell Imitatoren gefunden: 1926 beispielweise wollen die Gebrüder Grosjean auf den Erfolgszug aufspringen und bringen einen Käse heraus, der mit einer ernsten Kuh, einer vache sérieuse, wirbt - und werden prompt von Bels Firma verklagt. Das Spiel mit Doppelgängereien ist allerdings schon in der Illustration der vache qui rit selbst angelegt: Ihre Ohrringe nämlich sind offenkundig weitere Käseverpackungen mit ihrem eigenen Antlitz. Als klassische Mise en Abyme enthält das Bild also wiederum Bilder von sich selbst, die wiederum sich selbst als Bild beinhalten, und immer so weiter, bis das (menschliche) Auge bricht. Vielleicht geht es im Kopf von Reys Kuh gar nicht so deprimiert zu und sie grübelt in Wirklichkeit über derlei Dinge nach, wer weiß.
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Re: La vache qui rumine - Georges Rey (1969)

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