Laster und Tugend - Roger Vadim (1963)

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Maulwurf
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Laster und Tugend - Roger Vadim (1963)

Beitrag von Maulwurf »

Laster und Tugend
Le vice et la virtu
Frankreich/Italien 1963
Regie: Roger Vadim
Annie Girardot, Catherine Deneuve, Robert Hossein, O.E. Hasse, Philippe Lemaire, Serge Marquand, Luciana Paluzzi, Valeria Ciangottini, Georges Poujouly, Michel de Ré, Paul Gégauff, Jean- Pierre Honoré


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Italo-Cinema (Gerald Kuklinski)

Dekadenz in ihrer reinsten Form: Draußen tobt der Krieg, und drinnen haben sich die Offiziere einen Ort des Lasters und des Vergnügens aufgebaut. Inmitten eines künstlichen Planschbeckens steht ein Boxring, die Frauen sind alle leicht bekleidet, eine Kapelle spielt, und zu trinken gibt es Champagner. Der hedonistische General von Bamberg hat hier das Sagen, doch als die Männer der SS auftreten ist auch seine Zeit gekommen – Der SS-Oberst Schöndorf tötet von Bamberg und nimmt sich dessen französische Geliebte. Diese, Juliette, ist eine Hure, und das weiß sie auch. Sie macht für jeden die Beine breit, der ihr Luxus und ein gutes Leben ermöglicht. Ihre Schwester Justine ist da anders – Ihr wurde von den Stufen der Kirche weg der Ehemann von den Nazis entführt, für den sie sich ihre Unschuld bewahrt hatte. Von Bambergs Tod bringt das ganze fragile Gleichgewicht ins Schwanken: Juliette und Schöndorf gehen nach Berlin, und Justine wird in die Kommanderie gebracht – Ein Schloss in Tirol, in dem junge und schöne Mädchen zu Vergnügungszwecken gehalten werden. Doch auch hier rückt der Krieg immer näher …

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VICE AND VIRTUE kann man sich von zwei Seiten nähern. Auf der einen Seite ist der Film natürlich eine von vielen Verfilmungen des klassischen de Sade-Stoffes, wenngleich es auch die erste ist. Und bei dem, um an der offiziellen Zensur vorbeizukommen, keinerlei Referenzen auf das literarische Original vorkommen. Gerade mal die Namen Juliette und Justine werden genannt, und wer ein wenig genauer hinschaut erkennt schnell, wo Pier Paolo Pasolini sich für seine 120 TAGE VON SODOM hat inspirieren lassen. Trotz einer, im de Sade’schen Sinne, ungenauen Charakterisierung, gar eines Tausches der Rollen gegen Ende, ist VICE AND VIRTUE eindeutig ein de Sade, und grundlegende Bosheit und substantielle Verderbtheit durchziehen das gesamte Ambiente. Filmhistorisch hochinteressant, vor allem auch mit der starken Besetzung, als Literaturverfilmung spannend anzusehen, wie ein Werk, in dem es um Sex und Demütigung geht, im Jahr 1963 umgesetzt wurde.

Die andere Seite aber ist diejenige, die ich persönlich als viel intensiver empfand. Der Franzose Roger Vadim, Jahrgang 1928, der bei einem Massaker der SS seinen besten Freund verloren hatte, rechnet gnadenlos mit den Deutschen und den mit ihnen verbandelten Französinnen ab. Zumindest im Film habe ich selten eine so verwahrloste und dem bedingungslosen Vergnügen ergebene Saubande gesehen (im wirklichen Leben musste ich neben sowas mal wohnen …). Die deutschen Offiziere werden als rücksichtslose Hedonisten gezeichnet: Saufen, Feste feiern, rumhuren, und Strafen verteilen. Der Gewinner beim Boxkampf bekommt alle Frauen die er haben will, ja die Frauen kämpfen sogar noch darum von ihm bestiegen werden zu dürfen, und alles wird unaufhörlich mit Champagner begossen. Um den Bestand des Reiches zu gewährleisten wird zwischen den Vergnügungen auch gerne mal ein wenig gefoltert, und auch der Tod ist nie wirklich weit weg. Schöndorf (Robert Hossein) ist das Paradebeispiel eines de Sade’schen Jüngers. Seine Gefühle sind unter einer dicken Schicht Sendungsbewusstsein verborgen, und seine Mission ist es, den Tod zu bringen. Nachdem er lange von Freundschaft geschwafelt hat tötet er von Bamberg, er foltert Juliettes früheren Geliebten Höch und zwingt sie zuzusehen, und sogar sein Vertrauter Hans muss Angst haben vor ihm. Nur Juliette (Annie Girardot) hat keine Angst, sie weiß dass sie eine Verlorene ist. Eine Französin, die für die Besatzer die Beine breit macht, und nur für die Sieger da ist. Schon während des Niedergangs von von Bamberg wendet sie sich Schöndorf zu, denn der ist der Stärkere. Der Wolf, das Alphatier. Von Bamberg ist nur ein alter Mann, dem Tode geweiht. Und Juliette weiß auch, dass sie in diesem Land und in dieser Zeit keine Aussichten hat wieder in ein normales Leben zurückzukehren. Sie weiß, was ihre Landsleute mit Kollaborateuren machen werden …

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Wie anders ist doch Justine (Catherine Deneuve) dagegen anzusehen. Rein wie die Unschuld, wie die Tugend (franz.: Vertu), schwebt sie in ihrer weißen Toga über den Rasen, und hat nicht einmal ansatzweise den Realitätssinn oder die Befürchtungen ihrer Freundin Nummer 88 (Luciana Paluzzi) im Kopf. Justine ist wie ein Engel in der Hölle, und eine Hölle ist es in der sie sich bewegt. Gleich, ob es die Gestapo ist die ihren Ehemann von den Stufen der Kirche weg verhaftet, oder ob es eingestreute dokumentarische Bilder des Krieges sind, welche teilweise schrecklich anzuschauen sind und eine absolut lebensfeindliche Umgebung darstellen. Die dazugehörige Bildsprache Vadims ist hochartifiziell und spannend: Wo Juliette sich aufhält ist oft Rauch zu sehen. Der Qualm der brennenden Hölle? Immerhin zeigt Vadim sehr deutlich das Ende des Tausendjährigen Reiches, das wohl offensichtlich an allen Ecken und Enden brennt. Auch setzt Vadim oft Spiegel ein, eine lange Sequenz, in der Schöndorf sein Vertrauen zu Juliette und gleichzeitig seine Abgründigkeit beweist, ist sogar komplett über verkehrtherum stehende Spiegel gedreht. Eine verkehrte Welt die Vadim da zeigt, in der die Verderbten und Bösen das Sagen haben, wenn sie ihre dreckigen Geschäfte untereinander abschließen.

Auf den ersten Eindruck ist VICE AND VIRTUE ein etwas ambivalentes Filmvergnügen, in dem vieles nicht so recht zusammenpassen mag. Wo die einzelnen Bestandteile der Geschichten oft bruchstückhaft und rudimentär wirken. Aber beim Reüssieren fällt auf, wie geschickt Vadim die einzelnen Puzzlestücke aneinandersteckt, und wie viel Gedanken er sich gemacht hat um diese Abrechnung mit einem finsteren Kapitel Geschichte. VICE AND VIRTUE ist kein einfacher Film, und er hat seine Schwächen und seine Längen. Aber er beschäftigt, er fordert zur Diskussion heraus, und als gelungenes Mittelstück zwischen Arthouse und de Sade, zwischen Anspruch und Verderben, ist er hochgradig sehenswert.

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7/10
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