Messer im Herz - Yann Gonzalez (2018)

Moderator: jogiwan

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Salvatore Baccaro
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Re: Messer im Herz - Yann Gonzalez (2018)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Nach der alptraumhaften Begegnung mit dem neusten Streich der Onetti-Brüder, dem nun wirklich hundsmiserablen ABRAKADABRA, hatte ich mir eigentlich geschworen, für lange Zeit die Finger von sogenannten „Neo-Gialli“ zu lassen. Gemeinhin kann man anhand dieses Genres ja, meiner Meinung nach, zwei unterschiedliche Herangehensweisen an die Wiederbelebung historischer Erzählformen, Ästhetiken, Techniken des Kinos unterscheiden: 1) Der Weg der Abstraktion: Das ursprüngliche Konzept des Giallo wird per Überaffirmation derart auf die Spitze getrieben, dass eine zwangsläufige Subversion und damit Neujustierung der vertrauten Elemente die Folge ist, siehe: Peter Stricklands BERBERIAN SOUND STUDIO, oder Catttet/Forzanis AMER oder auch LUZ von Tilman Singer – alles Filme, bei denen es nicht schwerfällt, die Inspiration bei Argento, Bava oder Fulci aufzuspüren, die aber bei diesen Referenzen nicht stehenbleiben, sondern sie lediglich als Ausgangsbasis für ganz eigene Abenteuer benutzen. 2) Der Weg des Epigonentums: Das ursprüngliche Konzept des Giallo wird derart sklavisch befolgt, dass man den Eindruck haben könnte, in eine Zeitkapsel geraten zu sein, und einen Schlüssellochblick direkt in ein Artefakt von Anno Dazumal zu werfen – eben genau das, was die Onettis scheinbar mit ABRAKADABRA erreichen wollten: Filme für Leute, die einem neuen Gericht selbst dann noch skeptisch gegenüberstehen, wenn in ihm ein paar vertraute Zutaten verrührt worden sind.

Wie so oft, wenn ich mir etwas vornehme, durchkreuze ich die eigene Agenda nur kurze Zeit später selbst. Also finde ich mich fast vor Zapfenstreich des Jahres in einem Screening von UN COUTEAU DANS LE COEUR aus dem Jahre 2018 wieder, der, laut unserem Bux, (der wiederum „Cinema“ zitiert), „eine Mischung aus Psycho-Thriller, Erotikdrama und Neo-Giallo im "Tenebrae"-Stil, mit Vanessa Paradis (!) als Porno-Produzentin“ sein soll. Das Sichtungsergebnis verrate ich schon jetzt: UN COUTEAU DANS LE COEUR ist einer der besten Neo-Gialli, der jemals meinen Weg gekreuzt haben, und dabei eine kuriose Mischung aus den beiden oben so sorgfältig voneinander separierten Vorgehensweisen, wenn man diesem wundervollen Genre als zeitgenössischer Filmschaffender huldigen möchte. Woran liegt das? Ich habe gleich drei Antworten auf die Frage, und weil ich nicht zu viel (oder besser: so gut wie gar nichts) vom Plot verraten möchte, liste ich die nun in aller gebotener Abstraktion auf. Wichtig ist sowieso nur, dass ihr euch den Film anschaut: Bald!, am besten: Sofort!

1) Zwar operiert UN COUTEAU DANS LE COEUR ganz offensichtlich mit etlichen Stilmitteln des Giallo – ein behandschuhter Killer; kunstvolle und kunstblutvolle Morde, die sich mehr ausnehmen wie Ballette denn wie Schlachtfeste; ein einprägsamer Soundtrack der Elektro-Band M83; voyeuristisch blickende Augen als Symbol der dem Film immanenten Schaulust –, zuallererst würde ich ihn aber als Exponenten des Queer Cinema einordnen: UN COUTEAU DANS LE COEUR ist angesiedelt im Kosmos des Spät-70er-Porno-Paris, konkret: der Homo-Porno-Szene – ein Schauplatzwahl, die weniger geschmackvollen Regisseuren als Gonzalez sicherlich zu allerhand Zoten und Plakativismen verleitet hätten. Was Gonzalez daraus macht, ist jedoch bar sowohl jeder Skandalisierung des zeigefreudigen Treibens wie auch jeder Glorifizierung. Nein, völlig selbstverständlich hantiert der Film mit dem Milieu aus lesbischen Pornoregisseurinnen, Drag Queens, Toy Boys. Was UN COUTEAU DANS LE COEUR so sehr adelt, ist, dass der Film es gar nicht für nötig hält, sein Figurenensemble, seinen Schauplatz, seine ganze Bandbreite an gesellschaftlich marginalisierten Gruppen, Themen, Handlungen irgendwie rechtfertigen zu wollen. Es ist, als würden wir einen beliebigen Streifen des klassischen Hollywoods schauen: Niemand fühlt sich bemüßigt, großartige Worte darüber zu verlieren, weshalb wir uns in einer heteronormativen Welt befinden, in der alles am Ende auf den Hafen der Ehe, Kinderglück, Hausfrauentugend und Männlichkeitserprobung hinausläuft. Da wird nichts erklärt, nichts kontextualisiert, nicht mal für irgendetwas um Verständnis geworben, weil es schlicht nicht nötig ist.

2) Damit einhergeht, dass Gonzalez jede einzelne seiner Figuren ernstnimmt: Es sind keine Schablonen, keine austauschbaren Genre-Zitate, keine bloßen Funktionsträger, mit denen wir es zu tun haben. Nein, überall schlummert Tiefe, und wenn sie nur in einem Blick, einer Geste, einem beiläufig fallengelassenen Satz besteht. In einer Szene macht unsere Heldin die Bekanntschaft einer Frau, die zusammen mit ihrem Vater eine Herberge irgendwo in der Pampa betreibt. Für den Plot eher redundant ist eine Szene, in der unsere Heldin dieser Frau ihren Flachmann anbietet. Später bittet sie deren Vater, sie solle seiner Tochter zukünftig den Alkohol verwehren, denn: Schon einmal habe sie zu viel getrunken, und da seien ihr ganz komische Ideen gekommen, nämlich ihn allein zu lassen und auszuziehen und ein eigenes Leben zu beginnen. Was für eine Lebenstragödie hat Gonzalez allein in dieser kurzen Dialogszene versteckt! Oder aber ein Jüngling, der von unserer Heldin quasi vom Straßenrand weg als Pornodarsteller rekrutiert wird, und der völlig verzückt in einem Blue-Movie-Theater sich selbst auf der Leinwand anhimmelt: Ist das nicht wirklich die bessere Alternative zu einer ganz ähnlichen Szene mit Margot Robbie in Tarantinos ONCE UPON A TIME IN HOLLYWOOD? Oder aber der dickliche Mann am Porno-Set, der nur dazu da ist, erschlaffende Darsteller mit seinem Mund wieder aufzurichten, und der antwortet, als man ihn fragt, wie viel er denn für den Job bekomme: Oh, ich wohne doch noch bei meiner Mutter, ich brauche nichts. Oder, überhaupt, Vanessa Paradis in der Hauptrolle, dieses liebenswerte Wrack auf zwei Beinen, ständig betrunken, am Rande der Eskalation, aber auch zutiefst verzweifelt und verletzlich, dass man sie wahlweise in den Arm nehmen oder sie ohrfeigen möchte, um sie wachzurütteln. Völlig unabhängig von der filigran und spannend entwickelten Krimihandlung ist UN COUTEAU DANS LE COEUR angereichert mit Figuren, deren Geschicke mir ehrlich am Herzen liegen.

3) UN COUTEAU DANS LE COUER ist in seinem eigenen Herz aber vor allem eine Selbstreflexion über die Macht der Bilder, die Magie des Kinos, oder besser: verflossener Bilder, verflossenen Kinos, denn, wie gesagt, die Handlung spielt 1979 und die Referenzen erschöpfen sich eben nicht nur bei Argento und Fulci, (dessen wohl schmierigste Szene aus NEW YORK RIPPER – Stichwort: Foot Job – ich mir niemals derart geschmackvoll reinszeniert hätte vorstellen können), sondern zielt vor allem auf die französische Porno-Szene des Goldenen Zeitalters: So ist nicht nur Paradis Charakter einer tatsächlich existenten Pornoregisseurin nachgebildet, sondern in Figurennamen und (fiktiven) Filmtiteln verbergen sich zahllose Querverweise, die für einen Laien auf dem Gebiet, wie mich, kaum zu decodieren sind. Was jedoch relativ leicht verständlich ist: Das wohlüberlegte Türmen von Meta-Ebenen. Ohne den Finaltwist preisgeben zu wollen: UN COUTEAU DANS LE COEUR handelt von Filmen, die dazu gedacht sind, sexuell zu affizieren, von denen aber ein bestimmter rein zufällig über seinen visuell-narrativen Code in einem bestimmten Zuschauer Erinnerungen an einen ganz bestimmten tragischen Vorfall wachruft, die diesen bestimmten Zuschauer zu Morden verführen, die ausnahmslos Menschen treffen, die wiederum an diesem einen bestimmten Film mitgewirkt haben, während zugleich die Regisseurin dieses einen bestimmten Films die Mordtaten als Inspirationsquelle aufgreift, und in ihrem eigenen aktuellen Film verarbeitet. Was ich sagen will: Gonzalez versteht Kino weder als der Realität hinterherhinkend noch als etwas, das die Realität (über)formt. Was Kino ist in UN COUTEAU DANS LE COUER: Ein Möbiusband, in dessen Schlingen Fiktion und Wirklichkeit derart verzahnt sind, dass es eigentlich gar keinen Sinn mehr macht, Distinktionslinien zwischen ihnen zu ziehen. Bonjour Baudrillard!, möchte man rufen, und dann staunen: Da ist endlich einmal ein Neo-Giallo, der kapiert hat, was die Plattitüde wirklich bedeuten könnte: dass man zwischen Traum und Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden vermag. UN COUTEAU DANS LE COEUR bringt das nicht nur pointiert auf den Punkt, indem der Film andauernd zwischen Film und Film-im-Film wechselt, oder indem er seine Schlussszene in einem Kino ansiedelt. Heraussticht für mich vor allem seine schlafwandlerische Coda: So zärtlich hat schon lange kein Film mehr gesagt, dass, wenn es keine Träume mehr geben sollte, es auch keine bittere Realität mehr gibt, die man mit diesen Träumen versüßen muss.

Zu erwähnen, dass mich UN COUTEAU DANS LE COEUR ästhetisch-technisch, schauspielerisch, dramaturgisch, thematisch von den Füßen auf den Kopf gestellt hat, erübrigt sich. Um ehrlich zu sein, habe ich von ABRAKADABRA inzwischen bloß noch verschwommene Bilder im Kopf.
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jogiwan
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Re: Messer im Herz - Yann Gonzalez (2018)

Beitrag von jogiwan »

Wunderbarer Text mit einem eindeutigen Fazit:
Salvatore Baccaro hat geschrieben:Wichtig ist sowieso nur, dass ihr euch den Film anschaut: Bald!, am besten: Sofort!
Mein Lieblingsfilm des Jahres 2019! :nick:
it´s fun to stay at the YMCA!!!



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Salvatore Baccaro
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Re: Messer im Herz - Yann Gonzalez (2018)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

jogiwan hat geschrieben:Mein Lieblingsfilm des Jahres 2019! :nick:
Ein wahrer Ehrenjogi! In meinen Top 10, ach was, Top 5 dürfte der aber auch zu finden sein...
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CamperVan.Helsing
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Re: Messer im Herz - Yann Gonzalez (2018)

Beitrag von CamperVan.Helsing »

Ich pack das mal hier mit rein:

Yann Gonzalez war wohl im Vorfeld der Dreharbeiten von "Messer im Herz" auf einen französischen Gay-Porno von 1980 gestoßen und hat ihn restaurieren lassen. Und der ist nun bei Salzgeber Medien erschienen:

http://salzgeber.de/gleichungmiteinemunbekannten
The more I see
The less I know
About all the things I thought were wrong or right
& carved in stone
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buxtebrawler
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Re: Messer im Herz - Yann Gonzalez (2018)

Beitrag von buxtebrawler »

Feiert heute um 23:05 Uhr auf Arte seine Free-TV-Premiere hierzulande:

20210922_071859.jpg
20210922_071859.jpg (1.5 MiB) 513 mal betrachtet

Quelle: TV Spielfilm
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
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sergio petroni
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Re: Messer im Herz - Yann Gonzalez (2018)

Beitrag von sergio petroni »

Paris in den 1970ern. Wir verfolgen das Liebes- und Berufsleben von Anne Parèze (Vanessa Paradis).
Sie führt eine On-/Off-Beziehung mit Loïs (Kate Moran). Beide arbeiten sie an der Produktion von
Schwulenpornos. Anne als Produzentin, Loïs als Cutterin. Die weiteren Mitarbeiter sind alle männlich.
Eines nachts wird einer der Darsteller auf brutale Weise getötet. Daß es sich um kein zufälliges Verbrechen
handelt, wird klar, als weitere Darsteller aus dem Team umgebracht werden. Doch anstatt sich zu
verkriechen, versucht Anne aus den Schlagzeilen Kapital zu schlagen, und dreht einen Porno
mit Kriminalhandlung. Doch der Killer schlägt weiterhin zu und Anne fühlt sich bemüßigt,
selbst Ermittlungen anzustellen.

"Messer im Herz" ist endlich 'mal wieder ein Film, der mich völlig überrascht hat. Ich hatte zuvor
kaum Informationen (Neo-Giallo, OmU, Paris 1970er, Gaypornos). Nach einem kurzen Einstieg war ich
voll drin in einem eigenen kleinen Kosmos. Wie in klassischen Gialli dient eine Kriminalhandlung
als roter Faden. Daran entlang hangelt sich ein traumartiges Geschehen mit interessanten Figurenkonstellationen,
bei denen keine einzige Person als Füllsel erscheint. Klassischerweise erfolgt die Suche nach
Täter und Motiv durch eine Reise in die Vergangenheit. Hierbei dient der zerrissene Charakter Anne
als Lotse für den Zuschauer. Alleine was Anne (Vanessa Paradis) hier 'rüberbringt, würde
einen ganzen Film tragen. Man möchte sie abwechselnd umarmen und in den Senkel stellen,
ob ihrer Wut- und Gefühlsausbrüche. Dabei kokettiert sie ständig unsicher mit ihrem
Alter und ihrer vermeintlich verblassenden Attraktivität.
Positive Eindrücke allenthalben, nicht zuletzt der kongeniale Elektrosoundtrack.
8,5/10
DrDjangoMD hat geschrieben:„Wohl steht das Haus gezimmert und gefügt, doch ach – es wankt der Grund auf dem wir bauten.“
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jogiwan
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Re: Messer im Herz - Yann Gonzalez (2018)

Beitrag von jogiwan »

falls noch jemand einen stimmigen Weihnachts- oder Silvesterfilm sucht.... ;)

01.jpg
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Reinifilm
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Re: Messer im Herz - Yann Gonzalez (2018)

Beitrag von Reinifilm »

So, endlich auch mal gesehen… neben „Amer“ bisher so ziemlich das Beste, was ich in Sachen Neo-Giallo zu Gesicht bekam. 09/10
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Onkel Joe
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Re: Messer im Herz - Yann Gonzalez (2018)

Beitrag von Onkel Joe »

Reinifilm hat geschrieben: Sa 25. Feb 2023, 01:12 So, endlich auch mal gesehen… neben „Amer“ bisher so ziemlich das Beste, was ich in Sachen Neo-Giallo zu Gesicht bekam. 09/10
:thup:
Wer tanzen will, muss die Musik bezahlen!
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