Die Unbekannte - Giuseppe Tornatore

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Moderator: jogiwan

untot
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Re: Die Unbekannte - Giuseppe Tornatore

Beitrag von untot »

Huch, hab hierzu noch garnix geschrieben, wunderbarer Thriller, da die Sichtung aber nun schon ne Weile zurück liegt und ich ein Gedächtnis hab wie ein Demenzpatient, hab ich jetzt nicht mehr soooo viele Einzelheiten im Kopf.
Ich hab die Story aber als sehr stimmig und spannend im Hinterkopf.

7,5/10
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buxtebrawler
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Re: Die Unbekannte - Giuseppe Tornatore

Beitrag von buxtebrawler »

„Die Unbekannte“ des italienischen Autorenfilmers und Oscar-Preisträger Giuseppe Tornatore („Der Zauber von Malèna“) aus dem Jahre 2006 vermengt klassische Drama-Elemente mit reichlichen Thriller-Versatzstücken. Irena (Kseniya Rappoport, „Die Schaukel – Kacheli“) zieht aus der Ukraine nach Norditalien und versucht, dort Fuß zu fassen. Sie bemüht sich um eine Anstellung aus Haushälterin beim wohlhabenden Ehepaar Adacher und baut eine enge Beziehung zu dessen kleiner Tochter Tea (Clara Dossena) auf. Doch warum sollte es ausgerechnet diese Familie sein? Und was hat es mit Irenas Vergangenheit auf sich, die sie Stück für Stück einzuholen droht?

„Die Unbekannte“ setzt sich gleich mit einer ganzen Reihe von Themen auseinander, als da wären die Probleme von auf sich allein gestellten Immigrantinnen, Zwangsprostitution, Menschenhandel und Kindesadoptionen – sowie das individuelle Schicksal einer ums Leben kämpfenden, starken Frau. Nach bester Italo-Thriller-Manier konstruiert Tornatore eine komplexe Geschichte, die sich erst nach und nach dem Zuschauer zu verstehen gibt, der sorgfältig mit immer neuen Informationen versorgt wird, bis sich im dramatischen Ende alles zu einem großen Puzzle zusammensetzt. Dabei wurde intelligent genug vorgegangen, dass auch tatsächlich alles einen stimmigen Sinn ergibt, statt als reines Mittel zum Zweck die aberwitzigsten Wendungen zu etablieren. Ebenfalls ganz in Landestraditionen stehen dabei die visuellen Stilmittel Tornatores, der ganz selbstverständlich nackte Haut ebenso mit der Kamera einfängt wie insbesondere im sozialdramatischen Kontext verstörende Gewaltausbrüche. Was manch Zuschauer als exploitative Ausschlachtung betrachten und zum Naserümpfen verleiten dürfte, erachte ich schlichtweg als ungeschönte Ehrlichkeit dem Publikum gegenüber, die auch den einen oder anderen Euro-Drama-Muffel aufhorchen lassen sollte. Zu keinem Zeitpunkt verkommt „Die Unbekannte“ zu einem übertriebenem Melodram oder zu einem Alibi für den Appell an niedere Instinkte; Tornatore findet gekonnt seinen Platz zwischen beiden Extremen.

Die Handlung, über die ich an dieser Stelle möglichst keine spoilerverdächtigen Details verraten möchte, erzählt dabei eben keine alltägliche, lediglich etwas aus den Fugen geratene Situation oder durch eine Verkettung unglücklicher Umstände entstandene Geschichte, sondern bedient sich als Ausgangspunkt der Missstände eines für viele Zuschauer sicherlich weitestgehend unbekannten ehemaligen Ostblock-Staats, um davon ausgehend eine mit zahlreichen Überraschungen und Aha-Momenten versehene Dramaturgie zu entwickeln. Aus Sicht Irenas, einer attraktiven Frau mittleren Alters, verfolgt man das Geschehen und wird immer wieder mit Rückblenden aus Irenas Vergangenheit konfrontiert, die sie in Form eines tiefliegenden Traumas wie eine zentnerschwere Last, aber auch als Motivator mit sich herumschleppt. Wer aufgrund aller Konstruktion den Realismus des letztlich tieftraurigen und oder vielmehr weil keine wirklichen Lösungen anbietenden Films anzweifelt, mag in Bezug auf manch Detail recht haben; ein sensibles Publikum jedoch wird abstrahieren und sich an das Gefühl erinnern, wenn einmal selbst alles über einem zusammenbrach, weil man sich in eine 100%ig sicher geglaubte Sache verrannt hatte. Damit verfügt die „Die Unbekannte“ über die Spannung eines Thrillers, ist aber gleichsam in der Lage, gar zu Tränen zu rühren – ganz gleich, welchen persönlichen Zugang man zur vordergründigen Thematik hat.

Die Optik und Ausstattung des Films ist ein Genuss, insbesondere immer dann, wenn die Verlorenheit einer gegen die Anonymität der Stadt, ja, des ganzen fremden Landes ankämpfenden Irena spürbar wird, wenn man hin- und hergerissen ist zwischen Respekt für die wie eine Löwin kämpfende Frau, zwischen Entsetzen über auch ihr Gewaltpotential und tiefem Mitleid für ihre geschundene Existenz. Maßgeblich dazu bei trägt, neben einem wie immer die Stimmung der Ereignisse perfekt interpretierenden Soundtrack von Il Maestro Morricone höchstpersönlich, selbstverständlich die Russin Kseniya Rappoport, die eine unheimlich facettenreiche, einwandfreie schauspielerische Leistung zeigt. Ihre anfängliche Verschlossenheit weicht im Laufe der Spielzeit vielen emotionalen Momenten, für die sie ihr Innerstes nach außen zu kehren scheint. Mit der kleinen Clara Dossena in ihrer Rolle steht Rappoport eine begabte und hochgradig niedliche Kinderdarstellerin zur Seite, deren Rolle nicht minder facettenreich an- und von ihr entsprechend ausgelegt sowie von Tornatore fabelhaft in Szene gesetzt wurde. Bei aller Mutter-Kind-ähnlichen Beziehung Irenas und Teas bleibt der Kitsch stets außen vor, die Reaktionen / das Verhalten Teas überwiegend nachvollziehbar und oftmals angenehm betont kindlich statt für ihr Filmalter allzu reif. Andere Nebenrollen verblassen daneben selbstredend, was im Falle Teas eigentlicher Eltern aber bewusst eingesetzter Kniff des Drehbuchs ist. Mutter Valerie Adacher (Claudia Gerini) wirkt auf Irena – und damit auch auf den Zuschauer – zumeist wie eine latente Gefahr, die sowohl die Beziehung zwischen Irena und Tea als auch Irenas bis zum Schluss in seiner Intention unbekannten Plan zu zerstören, zu durchkreuzen droht. Dass auf die Nebenrolle nicht tiefschürfender eingegangen wird, unterstreicht Irenas Tunnelblick, den sie sich angeeignet hat. Irenas ehemaliger Zuhälter ist der typische, klischeehafte Fiesling, wie man ihn erwartet. All diese Charaktere agieren in einer düsteren, tristen Atmosphäre, die nur wenige Farbtupfer bereithält und liebeserfüllte zwischenmenschliche Beziehungen als letzten Zufluchtsort in einer kaputten, ungerechten Welt empfiehlt – um letztlich selbst diese infrage zu stellen und damit mit einem Bein im Pessimismus zu wurzeln.

„Die Unbekannte“ präsentiert sich einem anspruchsvollen Publikum, ohne die einheimische Filmtradition zu verleugnen, und überzeugt auf ganzer Linie, indem er die nötige Balance zwischen Anspruch und Unterhaltung, zwischen inhaltlicher Tiefe und Nachvollziehbarkeit, zwischen Spannung, Dramatik, Sentimentalität und Traurigkeit trifft. Ein überaus gelungener Film, der von einem breiten Publikum entdeckt zu werden gilt – vom nach Ungewöhnlichem suchenden Arthaus-Seher über Italo-Kino-Aficionados bis hin zu einem Mainstream-Publikum, das auch einmal an (verglichen mit dem momentan so angesagten „Blockbuster“-Bombast) leiseren Tönen und ausgewogenem Erzähltempo Gefallen findet. Außen vor bleiben lediglich Scheuklappenträger sowie Ideologen, die aufgrund der Thematik einen politischen Film erwarten.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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horror1966
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Re: Die Unbekannte - Giuseppe Tornatore

Beitrag von horror1966 »

Aufgrund der sehr positiven Meinungen habe ich diesen mir bisher vollkommen unbekannten Film bestellt. Sollte ich eine Enttäuschung erleben, stürme ich mit einer Spezialeinheit das Forum. :rambo: :mrgreen:
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Re: Die Unbekannte - Giuseppe Tornatore

Beitrag von untot »

horror1966 hat geschrieben:Aufgrund der sehr positiven Meinungen habe ich diesen mir bisher vollkommen unbekannten Film bestellt. Sollte ich eine Enttäuschung erleben, stürme ich mit einer Spezialeinheit das Forum. :rambo: :mrgreen:
:o :angst:
Immer diese Brutalitäten hier!!! :opa:
Aber das wird nicht nötig sein, ich denke der wird Dir bestimmt gefallen!! :nick:
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Re: Die Unbekannte - Giuseppe Tornatore

Beitrag von horror1966 »

untot hat geschrieben:
horror1966 hat geschrieben:Aufgrund der sehr positiven Meinungen habe ich diesen mir bisher vollkommen unbekannten Film bestellt. Sollte ich eine Enttäuschung erleben, stürme ich mit einer Spezialeinheit das Forum. :rambo: :mrgreen:
:o :angst:
Immer diese Brutalitäten hier!!! :opa:
Aber das wird nicht nötig sein, ich denke der wird Dir bestimmt gefallen!! :nick:

Da gehe ich auch von aus, denn unsere Kenner hier würden mich nie absichtlich in die Irre laufen lassen :thup:
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Re: Die Unbekannte - Giuseppe Tornatore

Beitrag von buxtebrawler »

horror1966 hat geschrieben:Da gehe ich auch von aus, denn unsere Kenner hier würden mich nie absichtlich in die Irre laufen lassen :thup:
:pfeif: :engel:

Nein, im Ernst: Solange du keinen Giallo erwartest, wirst du mit Sicherheit nicht enttäuscht werden.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: Die Unbekannte - Giuseppe Tornatore

Beitrag von horror1966 »

Auf eine Review habe ich momentan keine Lust, aber dieser Thriller hat mir sehr gut gefallen. Insbesondere das langsame aber stetige Heranführen an die grausame Wahrheit empfand ich als äußerst gelungen. Zudem hat mich auch das Schauspiel der Hauptdarstellerin wirklich beeindruckt, so das ich insgesamt gesehen erstklassig unterhalten wurde.


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buxtebrawler
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Re: Die Unbekannte - Giuseppe Tornatore

Beitrag von buxtebrawler »

horror1966 hat geschrieben:Auf eine Review habe ich momentan keine Lust, aber dieser Thriller hat mir sehr gut gefallen. Insbesondere das langsame aber stetige Heranführen an die grausame Wahrheit empfand ich als äußerst gelungen. Zudem hat mich auch das Schauspiel der Hauptdarstellerin wirklich beeindruckt, so das ich insgesamt gesehen erstklassig unterhalten wurde.
:thup:
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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