Der geheimnisvolle Fremde - Karl Adolf von Wachsmann (1844)

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Salvatore Baccaro
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Der geheimnisvolle Fremde - Karl Adolf von Wachsmann (1844)

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Jahrzehntelang geisterte in diversen englischsprachigen Vampir-Anthologien ein Text herum, der unter dem schlichten Titel „The Mysterious Stranger“ firmierte. Der Verfasser ist unbekannt. Angeblich soll es sich um eine Übersetzung aus dem Deutschen handeln. Die erste nachweisbare Veröffentlichung lässt sich auf 1854 datieren. Erst im 20. Jahrhundert lichten sich die Nebel: Tatsächlich diente „The Mysterious Stranger“ eine deutschsprachige Erzählung zur Vorlage, nämlich „Der geheimnisvolle Fremde“ des seinerzeit vielgelesenen und heute vollkommen vergessenen Karl Adolf von Wachsmann (1787-1862), der sich vor allem mit historischer und militaristischer Erzählprosa einen Namen gemacht, jedoch auch für ein außerordentlich beliebtes „Büchlein zur Begleitung für Lust- und Badereisende“ gen Helgoland verantwortlich zeichnete. Obwohl ich mit dem restlichen Oeuvre Wachsmanns kein bisschen vertraut bin, scheint mir, soweit ich die sonstigen Schriften aus seiner Feder überfliege, der erstmals 1844 publizierte „Geheimnisvolle Fremde“ doch ziemlich aus der Reihe zu tanzen, handelt es sich doch um einen waschechten Vampirschocker, ein Amalgam all der Motive und Tropen, die vampiristische Literatur gemeinhin kennzeichnet, einen Blutsauger-Reißer in Reinform, und das, wohlgemerkt, knapp ein halbes Jahrhundert, bevor Bram Stoker den Genre-Meilenstein „Dracula“ (1897) zu Papier bringen wird.

Zu Beginn des knapp hundert Seiten umfassenden Textes befindet sich eine kleine Reisegesellschaft auf dem Weg durch die nächtlichen Krainer Berge. Freiherr von Fahnenberg hat von seinem verstorbenen Bruder ein Gut im fernen Slowenien geerbt, begleitet wird er von seinem Töchterchen Franziska, seinem Neffen Franz, der mehr als bloß ein Auge auf die Cousine geworfen hat, sowie einer entfernteren Verwandten und Busenfreundin Franziskas, Bertha. Ebenfalls mit von der Partie bei der nächtlichen Kutschfahrt ist alsbald jedoch auch ein Rudel Rohrwölfe, dessen unerschrockenes Auftreten auf knurrende Mägen schließen lässt, die die Tiere gerne mit unseren Helden füllen würden. Eine halsbrecherische Verfolgungsjagd zwischen Kutsche und vierbeinigen Räubern führt Fahnenberg und die Seinen zur Burgruine von Klatka, was dem einheimischen Führer partout nicht schmeckt: Dann lieber Fraß der Wölfe werden, statt einen Fuß dort hineinzusetzen, wo es, wie jeder weiß, auf höllischste Weise spukt. Betreten müssen unsere Helden die Ruine dann aber gar nicht: Ein in der Dunkelheit nur schemenhaft auszumachender Mann taucht plötzlich am Wegesrand auf – und es wirkt, als würde sein Erscheinen die wilden Tiere derart erschrecken, dass sie sofort kleinmütig Reißaus nehmen, und Fahnenberg & Co. unbehelligt weiterziehen lassen.

Vier Wochen verstreichen, und Franziska fällt vor Langeweile die Decke auf den Kopf. Ihr Papa ist den ganzen Tag damit beschäftigt, die geerbten Güter in Ordnung zu bringen; Vetter Franz, den sie für einen weibischen Mann hält, mit dem sie nie im Leben anbandeln könnte, geht ihr mit seinen ständigen Avancen auf die Nerven; selbst Freundin Bertha kann sie irgendwann nicht mehr von den öden Tagen ablenken. Die abenteuerlustige junge Frau fordert: Ein Ausflug muss her! Wieso nicht zu jener Burgruine fahren, wo man damals um ein Haarbreit den Wölfen entkommen ist? Schließlich stimmt die restliche Familie ein: Franziska soll ihren Willen haben, zumal die Geschichte, die der greise Gutsverwalter bezüglich der ehemaligen Burg zum Besten gibt, auch das Interesse von Fahnenberg, Franz und Bertha weckt: Einst nämlich soll dort ein finsterer Geselle namens Ezzelin von Klatka gehaust haben, der es mit der Religion nicht ganz ernstnahm und regelmäßig Jungfrauen verschleppte, von denen, nachdem sie ihm in die Hände gefallen waren, nie wieder etwas gehört wurde. Irgendwann reichte es den Bewohnern der umliegenden Dörfer, man formierte einen Mob, und machte Burg und Burgherr dem Erdboden gleich. Der Ausflug findet vollste Zufriedenheit bei Franziska, die, scheint es, stundenlang in den verfallenen Gemächern oder in der bemerkenswert guterhaltenen Familiengruft derer von Klatka umherstreifen könnte. Dabei sind unsere Freunde nicht allein in den Gemäuern: Der Fremde, der ihnen die Wölfe vom Hals hielt, materialisiert sich auf einmal zwischen den verwitterten Stempeln und fasziniert vor allem Franzisak mit seinem dandyhaften Auftreten. Irgendwo zwischen Spott, Arroganz und Vornehmheit pendeln seine Worte, über sich selbst verliert er keine Silbe, erklärt bloß, dass er die Einsamkeit liebe und tatsächlich in diesen Ruinen hause, zeigt sich aber bereit, sein Eremitendasein zumindest kurzzeitig zu verlassen, als Franziska ihm vorschlägt, doch einmal auf dem Gut ihres Vaters vorbeizuschauen. Dies sei aber nur nachts möglich, erklärt der Mann, der sich selbst Azzo nennt, denn tagsüber schlafe er, was Franz und Bertha, die den Fremden eher abschreckend statt einnehmend finden, genauso irritiert wie die pergamentartige Haut des Sonderlings oder die Tatsache, dass Azzo, wie sich beim ersten Besuch herausstellt, anscheinend weder feste Nahrung zu sich nimmt noch bereit ist, vom Fahnenberg’schen Wein zu kosten.

Es kommt, wie es kommen muss: Azzo wird zum regelmäßigen Hausgast, pikiert Franz und Bertha immer mehr mit seinem überheblichen Gehabe, schleicht sich förmlich parasitär an Franziska heran, die wiederum bald von furchtbaren Alpträumen geplagt wird, seltsame Kratzer an ihrem Hals feststellt, und allgemein in eine Verfassung gerät, die an Schwindsucht erinnert. Zum Glück stößt Berthas Verlobter, der Ritter Woislaw, zu der Gesellschaft, ein vom Krieg gestählter Haudegen, dessen Hauptgimmick es ist, dass er sich, nachdem er eine Hand im Arm verlor, eine Prothese aus Metall anfertigen ließ, die die gewöhnliche Menschenkraft um ein Vielfaches übersteigt. Woislaw braucht Franziska nur anzublicken und schon dämmert ihm ein Verdacht, und als er dann noch dem zynischen Azzo gegenübersteht, dessen Gesicht gar nicht mehr wie Pergament wirkt, sondern inzwischen eine recht rosige Farbe angenommen hat, wird seine Vermutung zur Gewissheit: Ein Vampir ist hier im Spiel, und der kann nur vernichtet werden, wenn Franziska selbst ihn an die Wände seines Sargs nagelt und sich danach mit seinem Blut, das eigentlich natürlich das ihre ist, einreibt…

Es ist schon erstaunlich, wie (im besten Sinne) prototypisch sich Wachsmanns Erzählung gestaltet: Dass jedenfalls Stoker den Text in der englischen Übersetzung gekannt haben dürfte, steht für mich außer Frage, - ebenso wie es als Fakt angesehen werden dürfte, dass Wachsmann wiederum seine eigenen literarischen Vorläufer kennt, namentlich die erste moderne Vampirerzählung „The Vampyre“ von John Polidori aus dem Jahre 1816, in der ein Blutsauger erstmals als Mischung aus snobistischem Aristokrat und Gothic Villain auftritt, der mit Vorliebe die Jungfern der englischen Oberschicht zum Aderlass bittet. Vor meinem inneren Auge entpuppt sich „Der geheimnisvolle Fremde“ wie ein auf die basalsten Elemente heruntergebrochener Gothic-Horrorfilm der 60er Jahre: Eine actionreiche Eröffnung mit kutschenhetzenden Wölfen; lange Kamerafahrten durch (Studio-)Krypten; eine Art Van Helsing fürs Grobe mit Ritter Woislaw und seiner unbezwingbaren Metallhand; Franziska, die Azzo zusehends verfällt, sich nach seinen Mitternachtsbesuchen sehnt wie nach einem Suchtmittel; pointierte Dialoge à la „I don’t drink…Wine!“ oder „Listen to them, the children of the night. What music they make!“; am Ende die Hinrichtung des Vampirs, stilecht mit Nägeln und Hammer. Letztendlich läuft das Ganze freilich auf die Domestikation der aufbegehrenden weiblichen Sexualität hinaus, sodass selbst der Subtext sich problemlos in gängige Schemata einfügt: Franziska erlebt durch die Begegnung mit Azzo ihr sexuelles Erwachen; Vampire verkehren prinzipiell oral und ohne sich fortzupflanzen, weswegen der übervirile Woislaw einschreiten muss, um Franziska die Mittel in die Hand zu geben, sie aus den Verstrickungen devianter Sexualität herauszuholen und sie wieder ins strenge Korsett der bürgerlichen Gesellschaft einzufügen; durch ihre Krankheit ist die einst rebellische Frau lammfromm geworden und heiratet gar den zuvor verschmähten Franz. Dass der Vampir natürlich osteuropäischen Ursprungs ist, gehört schon bei Wachsmann zum guten Ton: In einer Art umgekehrten Kolonialismus wird das Fremde zum Virus, das das Eigene kontaminiert, sobald man mit ihm in Kontakt kommt.

Stilistisch lässt sich „Der geheimnisvolle Fremde“ flott lesen. Zuweilen schwelgt der Text regelrecht in Beschreibungen desolater Bauwerke oder modriger Gräber. All die Verweise darauf, mit was für einem Wesen wir es bei Azzo zu tun haben, (und dass er freilich identisch ist mit dem grauenhaften Ezzelin von Klatko), werden zwar mit dem Holzhammer präsentiert, jedoch frage ich mich, ob Leser in den 1840er und 1850er Jahren, die Vampirgeschichten noch nicht, wie wir, mit der Muttermilch aufgesogen haben, mit den ganzen Ingredienzien derart vertraut gewesen sind.
Nachdem Wachsmanns Erzählung weit über 150 Jahre quasi nicht zugänglich gewesen ist, gibt es sie heute sogar in zwei Print-Augen: Zum einen in der Anthologie „Die Totenbraut. Deutsche Vampirgeschichten des 19. Jahrhunderts“, die ein gewisser Joseph Wilhelm Spiegelberg im Rahmen seiner „Bibliothek der Phantastik“ als Book on Demand herausgegeben hat; zum andern in Roman Lachs „Schlaflosreihe“, die sich im Ripperger & Kremers Verlag auf phantastische Kurzprosa des 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts spezialisiert hat. Ein Geheimtipp!
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