Midi Minuit Fantastique (1962–1972)

Stoff für Leseratten

Moderator: jogiwan

Antworten
Benutzeravatar
Salvatore Baccaro
Beiträge: 3004
Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10

Midi Minuit Fantastique (1962–1972)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Liebes Forum,

gibt es unter euch frankophile Sammler alter Filmzeitschriften? Konkret bin ich auf der Suche nach Ausgaben des französischen Fanzines "Midi Minuit Fantastique", das von 1962 bis 1972 von Eric Losfeld herausgebracht wurde, und das sich mit sämtlichen Facetten des Genrekinos beschäftigt hat, quasi das abseitigere Gegenstück zu den "Cahiers du cinéma", in dem beispielweise auch illustre Personen wie Jean Rollin Artikel veröffentlicht haben. Im Netz lässt sich zwar die erste Ausgabe des Hefts finden - (und zwar unter: https://archive.org/details/Midi_Minuit ... que_1_1962) -, der Rest ist allerdings nur zu teilweise horrenden Preisen antiquarisch zu beziehen, wenn überhaupt. Verfügt eventuell jemand von euch über eine solche Sammlung, am besten vielleicht sogar digitalisiert? Besonders wild wäre ich auf die Ausgabe Nr. 12 vom Mai 1965, für die unser geliebter Domenico Paolella einen Artikel namens " La psychanalyse du pauvre" verfasst hat. (Falls diesen Text jemand unabhängig von "Midi Minuit Fantastique" als Transkript oder Scan besitzen sollte, würde ich ihn natürlich ebenso mit Kusshand nehmen... ;-) )

Liebe Grüße,
eure mitternachtsphantastische Fledermaus
Benutzeravatar
Salvatore Baccaro
Beiträge: 3004
Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10

Re: Midi Minuit Fantastique (1962–1972)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

...und so nimmt die einst verzweifelte Suche innerhalb kürzester Zeit den versöhnlichesten Ausgang, der möglich ist.

Einfach spontan und ohne große Erwartungen einen Filmwissenschaftsprofessor in L.A. per Mail kontaktieren, der in seinem Buch über "Biopolitics and the Muscled Male Body on Screen" mehrfach aus Paolellas Artikel zitiert, und wenige Stunden später hat man den Text als PDF-Scan im virtuellen Postkästchen: Würde es doch nur immer so reibungslos verlaufen und wären alle Personen im akademischen Umfeld so zugänglich und hilfsbereit, hach...
Zuletzt geändert von Salvatore Baccaro am Do 19. Jan 2023, 01:10, insgesamt 1-mal geändert.
Benutzeravatar
jogiwan
Beiträge: 38447
Registriert: So 13. Dez 2009, 10:19
Wohnort: graz / austria

Re: Midi Minuit Fantastique (1962–1972)

Beitrag von jogiwan »

es gibt ja doch noch nette Menschen! :thup:
it´s fun to stay at the YMCA!!!



» Es gibt 1 weitere(n) Treffer aus dem Hardcore-Bereich (Weitere Informationen)
purgatorio
Beiträge: 15627
Registriert: Mo 25. Apr 2011, 19:35
Wohnort: Dresden

Re: Midi Minuit Fantastique (1962–1972)

Beitrag von purgatorio »

Salvatore Baccaro hat geschrieben: Mi 18. Jan 2023, 09:05 ...und so nimmt die einst verzweifelte Suche innerhalb kürzester Zeit den versöhnlichesten Ausgang, der möglich ist.

Einfach spontan und ohne große Erwartungen einen Filmwissenschaftsprofessor in L.A. per Mail kontaktieren, der in seinem Buch über "Biopolitics and the Muscled Male Body on Screen" mehrfach aus Paolellas Artikel zitiert, und wenige Stunden später hat man den Text als PDF-Scan im virtuellen Postkästchen: Würde es doch nur immer so reibungslos verlaufen und wären alle Personen im akademischen Umfeld so zugänglich und hilfsbereit, hach...
Oha, das ist cool und sehr hilfreich!
Für die Vollständigkeit eine ebenfalls positive Ergänzung meinerseits: Ich besitze den Nachlass einer Familie, die nach 1945 von Dessau aus zum Bau von Flugzeugproduktionsstätten in eine Kolonie nach Russland umsiedelte. Ich stieß alsbald auf meinen Recherchen auf ein Buch, welches von einem Herrn Doktor aus Dresden über seine Kindheit in ebendieser Kolonie handelte. Natürlich wollte ich es ergänzend zu Rate ziehen. Das Buch mit winzigem und lediglich lokalem Zielpublikum war entsprechend längst vergriffen, der Autor bereits vor zwei Jahren verstorben. Also kontaktierte ich den Verlag und siehe da: drei Tage später hatte ich einen USB-Stick mit allen Skripten und Bildmaterialien in meinem physischen Briefkasten. Da habe ich mich auch wahnsinnig drüber gefreut!
Im Prinzip funktioniere ich wie ein Gremlin:
- nicht nach Mitternacht füttern
- kein Wasser
- kein Sonnenlicht
Benutzeravatar
Salvatore Baccaro
Beiträge: 3004
Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10

Re: Midi Minuit Fantastique (1962–1972)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Der Text von Paolella - "La psychanalyse du pauvre" - ist übrigens außerordentlich interessant. Im Vorwort erklären die Herausgeber, dass die ursprüngliche Idee eigentlich bloß gewesen sei, dass Paolella auf ein, zwei Fragen schriftlich antwortet, die das Magazin ihm im Rahmen einer Art Umfragen stellt; stattdessen hat er Midi Minuit Fantastique jedoch einen kompletten Artikel zugesandt, - wie es ebenfalls im Vorwort heißt, Paolellas erster größerer filmkritischer Text seit 1939. Es beginnt schon mal ziemlich launig, wenn Paolella erstmal anekdotisch von der Begegnung mit einem Psychiater auf einer Cocktailparty berichtet.

(Sämtliche nachfolgenden Zitate entsammen meiner eigenen - holprigen - Übersetzung).

"Vor einigen Monaten, an einem milden römischen Nachmittag, wurde ich zu einer Cocktailparty bei einem Freund eingeladen, auf einer Terrasse mit Blick auf die Villa Borghese. Ein junger Psychiater hörte meinen Namen, wollte mit mir sprechen. Lächelnd erzählte er mir, dass er einigen seiner Patienten meine Filme verschrieben habe. Natürlich spielte er damit auf meine Abenteuer- und Mythologiefilme an, die ich in den letzten drei Jahren gedreht hatte. Noch vor vier Jahren hatte ich vor allem dramatische oder dokumentarische Filme gedreht, die sich, wie er sagte, als wenig geeignet für seine neurotischen und psychisch kranken Patienten erwiesen hatten. Der Psychiater hatte festgestellt, dass seine Patienten, wenn sie auf der Leinwand eine mythologische oder epische Handlung verfolgten, ihre psycho-motorischen Zentren wiederherstellen konnten. Ein solcher Film habe die gleiche Wirkung wie ein Stärkungsmittel oder ein ruhiges psychotherapeutisches Gespräch."

Weiter führt Paolella aus, dass ein Journalist, der ebenfalls Wind von diesen "revolutionären" Thesen des Psychiaters bekam, diese öffentlich verbreitet habe, und diverse Zeitungen auf den Zug aufgesprungen seien, sprich, Artikel zu dem Thema veröffentlicht hätten. Beide, "der junge Psychiater, der an seinen Patienten die Wirkung dieser Filme studierte, und der Journalist, der sich des populären Erfolgs dieser Art von Filmen bewusst geworden war", hätten bereits ein Gespür für bestimmte Wahrheiten entwickelt, wenn sie den Siegeszug des Peplum-Genres an den Kinokassen auf Dinge zurückführten wie, dass diese Filme alle Menschen ansprechen würden, "unabhängig von Alter und Geschlecht, von Kindern zu Erwachsenen", dass diese Filme als typische Terza-Visione-Programme für jedermann und jederfrau erschwinglich seien, und dass sie drittens sämtliche "falsch-intellektuellen Verrenkungen und sexuellen Anspielungen" ablehnen würden und sich dafür ausschließlich "auf den Protagonisten [konzentrierten], ob er nun Maciste oder Herkules heißt." Anschließend zitiert Paolella aus einer der erwähnten Tageszeitungen: "Ein solcher Film basiert in der Regel auf einem einzigen Thema: Ein starker Mann, dem es allein durch seine Muskelkraft gelingt, Hindernisse und Widrigkeiten zu überwinden, die Feinde in die Flucht zu schlagen und schließlich seine Dame zu befreien und zu erobern. Das Erzählschema ist einfach. Sein Ausgangspunkt ist der traditionelle Konflikt zwischen Gut und Böse."

Im Anschluss geht Paolella aber noch einen Schritt weiter, und eröffnet ein ganzes Genre-Kino-Panorama des Phantastischen Films, um sich tief in psychoanalytische Deutungsmuster jener Fließbandware hineinzuwühlen, die er selbst seit den frühen 60ern produziert: "Die mythologische Welt ist nur ein Teil der symbolischen Welt", schreibt er weiter, "die in jedem von uns und damit auch im Publikum der Kinosäle steckt. Die anderen Filmgenres vervollständigen die gesamte Symbolik. Hier die düstere Atmosphäre der Horrorfilme, die Friedhöfe der Vampirfilme mit ihrem Ruf nach Tod und Verwesung; dort der Kontakt mit der Natur und hauptsächlich mit Pferden, die, wie wir wissen, Statthalter für die Instinkte sind, in der psychoanalytischen Perspektive des Westerns. Die imaginäre Versetzung in die Vergangenheit, die intensivere Quellen der Freude als die Gegenwart, und damit ein besseres Leben verspricht, findet in Kostümfilmen statt. Andere Zutaten, wie Qualen, Ängste, Sadismus und Machoismus, runden das Bild ab.

Fantasyfilme führen direkt hinein in das, was Jung das ,kollektive Unbewusste' nannte, in dem alle Erinnerungen und Erfahrungen von Hunderten von Generationen vor uns in vererbter, fragmentarischer und verwirrender Form leben, seit den Urzeiten, in denen der Mensch noch nicht seine heutige Verfasstheit hatte. Das ,kollektive Unbewusste' vereint sämtliche Genres, die diese Filme bedienen.

Vor diesem Panorama-Hintergrund, der täglich im Halbdunkel der Kinosäle und auf kilometerlangen, beleuchteten Bildschirmen für Millionen von Zuschauern aufgetan wird, taucht der Held mit all seinen Varianten auf. Manchmal ist er Herkules oder Maciste, und er kämpft mit bloßen Händen. Manchmal ist es Ursus oder Goliath und er benutzt eine Keule oder einen rauen, knorrigen Stock. Manchmal ist er auch ein Cowboy auf einem Pferd. Manchmal - das ist der Kriminalfilm - hat er einen Revolver in der Hand. Manchmal ruht die Gefahr im Gehirn selbst - in Vampir- oder Werwolffilmen. Manchmal hat sich die Intelligenz bis zum Äußersten entwickelt: Hier sind wir bei der Science-Fiction angelangt."

Nachdem Paolella quasi all diese verstreuten Genres des "Phantastischen Kinos" zu einem großen Puzzle zusammengesetzt hat, das wie ein facettenreiches Brennglas unseren geheimsten Bewusstseinsvorgängen Ausdruck verleiht, endet er seinen Artikel mit einem Plädoyer dafür, sich genau mit diesen Filmen zu befassen, sie sich bewusst anzuschauen, auch wenn sie unbewusst, zum puren Lire-Gewinn, heruntergekurbelt worden seien:

"Die Regisseure von ,fantastischen' Filmen tauchen, ohne es zu wissen, in die Welt des kollektiven Bewusstseins ein. Ihre Filme stellen für sie oft eine unfreiwillige, vielleicht schwache und unterschwellige, aber nicht unwirksame Art der ,Bewusstwerdung' dar. Und dabei begleiten sie das Publikum in diese Welt, indem sie ihnen einen Weg aufzeigen, wie sie sich der Realität stellen können. Wer Angst davor hat, sich mit einem solchen Film auseinanderzusetzen und seriös darüber zu sprechen, fürchtet das kollektive Bewusstsein und verleugnet sich selbst. Diese Welt ist in der Tat in uns. Der Film ist nur ein großer, vielleicht verzerrender Spiegel, der die Bilder in das projiziert, was man gemeinhin als ,Reich der Fantasie' bezeichnet. Aber die Tatsache der ,Projektion' an sich ist nichts anderes als der Beginn der ,Manifestation'.

Mythologische Filme ziehen die Massen an, die am wenigsten privilegiert sind. Diejenigen, die ins Kino gehen, um sich ,hochwertige' oder ,künstlerische' Filme anzuschauen, haben natürlich andere Ansprüche. Zum mythologischen Film begibt sich die bescheidene Masse: Die Opfer, diejenigen, die vom Leben und seinen Realitäten verletzt wurden. Und leider bilden diese die Mehrheit. Der ,fantastische Film' ist die Psychoanalyse der Armen."
Benutzeravatar
buxtebrawler
Forum Admin
Beiträge: 38766
Registriert: Mo 14. Dez 2009, 23:13
Wohnort: Wo der Hund mit dem Schwanz bellt.
Kontaktdaten:

Re: Midi Minuit Fantastique (1962–1972)

Beitrag von buxtebrawler »

Danke für diesen Text und vor allem dessen Übersetzung, Salvatore! :thup:
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
Antworten