Salvatores 50 schönste Skurrilitäten aus der musikalischen Monstrositätenkammer

Moderator: jogiwan

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Reinifilm
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Re: Salvatores 50 schönste Skurrilitäten aus der musikalischen Monstrositätenkammer

Beitrag von Reinifilm »

Salvatore Baccaro hat geschrieben: Mo 23. Sep 2024, 21:43
Reinifilm hat geschrieben: Mo 23. Sep 2024, 21:38
Salvatore Baccaro hat geschrieben: So 22. Sep 2024, 20:24 06.Blue Rahn Studio - Pachinko in Your Head (Non-Linear Music) (1998)

Eine "imaginäre Sinfonie in einer Spielhalle mit hunderten Pachinko-Automaten" nennt ein Beitrag von Deutschlandfunk Kultur euphorisch das Klangexperiment, mit dem der Künstler Eckart Rahn 1998 unter dem Titel "Pachinko in Your Head" an die Öffentlichkeit tritt - und tatsächlich besteht das Album aus einem einzigen einstündigen Track, auf dem Rahn die Geräusche zahlloser japanischer Spielautomaten zu einer einzigen Soundlawine collagiert hat. Wer eine Glücksspielhölle allein wegen der dortigen Klanglandschaften aufsucht, und weniger, um Geld zu gewinnen oder zu verlieren, dem erspart das Release den Gang vor die Tür; wen schon das Gezirpe und Geplärre des einarmigen Banditen in der Ecke der Stammkneipe zuweilen gehörig auf den Nerven geht, dürfte in diesem Album seinen Endgegner finden. Rahn freilich grundiert das Werk mit philosophischen Überlegungen: "Fascinated with the chaos theory (seemingly random events) which when encountered in very large numbers establish a new order of predictability if not beauty and symmetry. Everyone can relate to the sound of raindrops hitting a tin roof, and in that sound a pattern - or rhythm - seems to emerge." Artworktechnisch schick wurde "Pachinko in Your Head" übrigens als Metalldose vertrieben - vielleicht, damit man sich mit dieser, wenn man den Krach nicht mehr aushält, flugs den Schädel einschlagen kann.

Manchmal gibt es wirklich bizarre Zufälle… genau diese CD lag heute inklusive der schicken Metaldose in dem Büchertauschschrank bei meiner Wohnung… :???:

Wer sie haben will - ich könnte sie mit nach Hannover bringen. :D
Ja, das Artwork ist toll! Kann ich nur empfehlen! Wirf sie doch in die Lostrommel, Reini... :D
Hmmm… ist 'ne Idee. :D
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karlAbundzu
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Re: Salvatores 50 schönste Skurrilitäten aus der musikalischen Monstrositätenkammer

Beitrag von karlAbundzu »

Ansonsten hebe ich mal den Finger!
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
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Maulwurf
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Re: Salvatores 50 schönste Skurrilitäten aus der musikalischen Monstrositätenkammer

Beitrag von Maulwurf »

Jetzt wird es, wie bei jedem guten Film, spannend! Salvatore präsentiert Sachen, die ich kenne - Von Diamanda Galas beitze ich zwei wesentlich spätere Veröffentlichungen, die nicht minder anstrengend sind, und von VANILLA FUDGE steht aus der Zeit 1967 bis 1984 alles hier bis auf zwei VÖs. Die vorgestellte Platte ist eine der beiden fehlenden. Und da die Band bei den Coverversionen immer ganz besonders gut war, muss das Teil jetzt dringend her!! Danke dafür :knutsch:
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
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Reinifilm
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Re: Salvatores 50 schönste Skurrilitäten aus der musikalischen Monstrositätenkammer

Beitrag von Reinifilm »

karlAbundzu hat geschrieben: Di 24. Sep 2024, 08:59 Ansonsten hebe ich mal den Finger!
Ist reserviert! :thup:
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores 50 schönste Skurrilitäten aus der musikalischen Monstrositätenkammer

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Das Forentreffen naht mit Raubkatzensprüngen, und für alle, die eine etwas längere Anreise haben, nunmehr also die letzten fünf Happen für die Playlist eurer Bahn- oder Autofahrten:

5. Shub Niggurath - Les morts vont vite (1986)

Auf das Genre "Zeuhl" bin ich ja bereits beim japanischen Power-Duo Ruins (#12) zu sprechen gekommen: Ersonnen in den frühen 70ern von Schlagzeuger Christian Vander und seiner Stammband Magma entwickelt sich die eigenwillige Musikrichtung irgendwo zwischen Jazz, Prog und Carl Orff schnell zu einer kleinen, aber produktiven Subkultur nicht nur in Frankreich. Ab Ende der 70er entfernen Magma sich zunehmend von ihren albumlangen Epen, wenden sich Stück für Stück klassischeren Songstrukturen zu. Das Album "Merci" von 1981, das für über zwei Dekaden das letzte Studiowerk der Band bleiben sollte, flirtet schließlich gar offen mit Soul und Disco. Die Zeuhl-Fackel weiterzutragen kommt dementsprechend jüngeren Bands zu: Die Lovecraft-Fans von Shub Niggurath formieren sich 1981, und bringen fünf Jahre später ihr erstes Album auf den Markt. Sowohl der Titel "Les morts von vite" wie das ein Gemälde von Émile Jean-Horace Vernet reproduzierende Cover als auch der Track "Le Ballade de Leonore" erweisen Gottfried August Bürgers Schauergedicht "Leonore" von 1773 die Reverenz, in dem es um eine junge Frau geht, die von ihrem im Krieg gefallenen und nunmehr untoten Verlobten ins Schattenreich entführt wird. Vergleichsweise düster gestaltet sich auch das, was wir auf dem zugehörigen Album zu hören bekommen. Im Klartext: Selten habe ich in all den Jahren, die seit meinem Erwerb der Platte vergangen sind, etwas ähnlich Schauriges, Verstörendes, Gänsehautinduzierendes gehört wie die Schwarzmesse, die die sechsköpfige Combo hier feiert. Als Gothic-Zeuhl mit Anklängen an Industrial und Noise könnte man es bezeichnen, wenn der druckvolle Bass geradewegs in die Magengegend fährt, wenn die verzerrte Gitarre schreit, wenn dem Piano stechende Töne entlockt werden, wenn die Trombone jault, wenn Sängerin Ann Stewart ihren opernhaften Gesang immer wieder in schrilles Kreischen umkippen lässt, als würde sie gerade bei lebendigem Leib den Scheiterhaufentod erleiden. Ein Lieblingsalbum.




4. Divine Styler - Spiral Walls Containing Autumns of Light (1992)

Den Major-Deal für sein zweites Album verschafft Mark Richardson alias Divine Styler sein Homie und Mentor Ice-T, in dessen "Rhyme Syndicate" der 1968 geborene Rapper sich zunächst seine Sporen verdient, und unter dessen Schirmherrschaft auch sein 1989er Debüt "World Power" das Licht der Welt erblickt. Bei Stylers Erstling handelt es sich noch um ein recht konventionelles Hip-Hop-Album der ausgehenden 80er, jedenfalls deutet dort noch nichts darauf hin, dass derselbe Künstler drei Jahre später mit "Spiral Walls Containing Autumns of Light" eine der wagemutigsten, sperrigsten, experimentellsten Rap-Platten der mir bekannten Musikwelt delivern wird. Möglicherweise hat der radikale Stilbruch auch damit zu tun, dass Richardson zwischenzeitlich zum Islam konvertiert, sich nunmehr Mikal Safiyullah nennt, und die meisten Tracks auf seinem zweiten Album mehr oder weniger direkt als Lobpreisungen Allahs intendiert sind, aber, puh, wenn jeder Mensch, der Mohammed als seinen Propheten anerkennt, derart von spiritueller Energie beseelt werden würde, dann würde die Pop-Musiklandschaft unserer Tage sicher ganz anders aussehen. Einigermaßen traditionelle Hip-Hop-Tracks hat Divine Styler mit "Livery" und "Grey Matter" nur deren zwei in petto, ansonsten reißt er Genre-Grenzen nieder wie ein Bulldozer: Es gibt eine Folk-Ballade, es gibt Stücke, die sich anhören, als könnten sie von Prince stammen, wenn dieser sich vollumfänglich der Avantgarde verschrieben hätte, es gibt ambientartige Soundlandschaften, es gibt einen reinrassigen Noise-Track, es gibt - das Herzstück des Ganzen - eine zehnminütige Synthie-Loops-Reise mit dem großartigen Titel "Heaven Don't Want Me, and Hell's Afraid I'll Take Over" - und über all diesen divergenten Stücken rappt, reimt, spricht oder schreit der göttliche Styler seine wahlweise surrealen oder spirituellen Stream-of-Consciousness-Lyrics in die Welt hinaus. Diesen Flohmarktfund werde ich nie in meinem Leben bereuen.




3. The Shaggs – Philosophy of the World (1969)

Angeblich sollen sich The Shaggs aufgrund einer Prophezeiung gegründet haben, die von der Großmutter der drei Schwestern ausging, und besagte, ihre Enkelinnen würden einst in einer erfolgreichen Popband spielen. Seine Finger im Spiel gehabt hat allerdings vor allem der überdominante Vater der Mädchen, ein tiefreligiöser Mann, der sich in den Kopf gesetzt hatte, die weisen Worte seiner Mutter wahr werden zu lassen, und seine Kindern zu Chartbreakern heranzubilden. Auf ihrem Debüt "Philosophy of the World" poltern die drei Schwestern aus New Hampshire, von denen zu diesem Zeitpunkt keine älter als Anfang 20 ist, munter drauf los und stellen Eigenkompositionen vor, die gerade wegen ihrer kindlichen Naivität und ihrer unschuldigen Primitivität bezaubern. Ihr Instrument richtig beherrscht keine von ihnen, die Texte sind – vorsichtig ausgedrückt – bizarr, alles versprüht das Flair von Kindergartensitzkreischören, wenn die Schönheiten des Halloween-Fests besungen werden, wenn Jesus als Savior angepriesen wird, wenn man Loblieder auf die Eltern aller Welten und aller Zeiten anstimmt. Gerade letzteres erhält indes einen mehr als bitteren Beigeschmack, sobald man diverse retrospektive Äußerungen der Schwestern darüber liest, wie tyrannisch Papa Austin dabei gewesen sei, seine Töchter (letztlich erfolglos) zu Stars zu erziehen, und dass es neben körperlichen gar sexuelle Übergriffe in der Familie Wiggin gegeben haben soll. Alle Strenge nutzt nichts: Das Album liegt wie Blei in den Läden, ist selbst heute noch ein Geheimtipp der Outsider Music, trotz prominenter Fürsprecher wie Frank Zappa, der die Shaggs noch über die Beatles stellt, oder Kurt Cobain, der "Philosophy of the World" als eins seiner Lieblingsalben listet.




2. Cromagnon - Orgasm (1969)

Cromagnon nennt sich die Band der beiden Multi-Instrumentalisten Austin Grasmere und Brian Elliot, die bei den Aufnahmen ihres einzigen Albums von einer Hippiekommune musikalisch unterstützt worden sein sollen, und nach Orgasm nie wieder musikalisch in Erscheinung getreten sind. Fast wirkt es, als ob vorliegendes Werk das ultimative Statement in Sachen Musik für die beiden jungen Männer gewesen sei - ein Statement, dem schlicht nichts Adäquates mehr folgen kann. Gleich der erste Song (übrigens das einzige Stück auf Orgasm, das die Bezeichnung Song verdient!) ist das Meisterwerk der LP: Caledonia, eine Mischung aus Marschtrommeln, Dudelsack und Keifgesang, das ein Kritiker einmal als "Einstürzende Neubauten meets Black Metal" bezeichnet hat. Dabei ist jedes einzelne Stück auf Orgasm ein Unikat, und in fast jedem nehmen Cromagnon eine Musikrichtung vorweg, die erst Jahre oder Jahrzehnte später definiert und praktiziert werden sollte. Kann man auf Caledonia, wie gesagt, Black Metal und Industrial zumindest schon erahnen, ist das zehnminütige Toth, Scribe I eine zügellose Noise/Ambient-Soundlandschaft. First World of Bronze klingt, als ob Leonard Cohen zu einem verzerrten Heavy-Metal-Gitarrensolo gregorianische Mönchsgesänge intonieren würde. Crow of the Black Tree fängt an wie ein harmloses instrumentales Neofolk-Liedchen, bis es schnell im völligen atonalen Chaos versinkt. Andere Stücke wie Genitalia oder Ritual Feast of the Libido lassen sich hingegen möglicherweise mit nichts vergleichen, was jemals zuvor oder danach auf Platte gepresst wurde. Letzteres beispielsweise besteht einzig und allein aus Klopfgeräuschen, dazu brüllt jemand, als ob das Klopfen von einem Hammer herrühre, der seine Genitalien irgendwo festnagle. Andere Stücke erwecken den Eindruck von Beach-Boys-Parodien oder von schamanistischer Stammesritualmusik. No Wave bevor es überhaupt die Wave gab, zu der No Wave sein Veto aussprach. Kurzum: Ich bin begeistert.




1. Lou Reed – Metal Machine Music (1975)

Zum Abschluss der kleinen Tour de Force durch die bizarren Welten meines zumeist jugendlichen Plattenschranks eine kleine autobiographische Anekdote: Mit etwa 16 Jahren waren The Velvet Underground für mich GOTT. Obwohl die Band zu diesem Zeitpunkt bereits seit über 40 Jahren nicht mehr existierte, fand ich gerade in ihren ersten drei Alben den Himmel und die Hölle auf Erden - seien es die sweeten Popsongs à la Sunday Morning, seien es die melancholischen Folk-Balladen à la Pale Blue Eyes, seien es die völlig aus dem Ruder geratenden Noise-Jams à la Sister Ray, seien es proto-punkishe Gitarrenattacken à la I Heard Her Call My Name: Dies war die Band, deren Namen ich mir auf die Brust hätte tätowieren lassen - vielleicht auch gerade deshalb, weil sie zu diesem Zeitpunkt seit über 40 Jahren nicht mehr existierte. Das altsprachliche, erzkonservative, christlich geprägte Gymnasium betrachtete meinen Musikgeschmack misstrauisch: Man sprach von "Drogenmusik", die Schülerschaft sowie einige Lehrer - was meinen VU-Rausch nur noch mehr anheizte. Irgendwann dann begann ich, auch in die Solowerke der beteiligten Musiker abzutauchen, und fing mit demjenigen an, der die ausuferndste Diskographie aufzuweisen hatte: Lou Reed. Eine der ersten seiner Soloscheiben, die ich mir zulegte, war dann eben "Metal Machine Music", dessen knapp eine Stunde Laufzeit mein jüngeres Ich regelrecht sprachlos zurückließ. Von den Velvets bin ich ja schon einiges gewohnt gewesen, was herausfordernde Klangexperimente betraf, doch auf diesen Trip konnte mich nichts vorbereiten, zumal ich im Vorfeld bereits in "Transformer" und "Berlin" hineingehört hatte, und eher etwas im Stil traditionellen Songwritings erwartet hatte. Lou Reed selbst indes wird sich wahrscheinlich ins Fäustchen gelacht haben, als er feststellte, dass einige ernstzunehmende Kritiker sein Album "Metal Machine Music" zu einem der großartigsten Werke moderner Musik kürten: Allein in einem Motelzimmer nimmt er über eine Stunde Lärm auf, den er mittels E-Gitarren, Verstärkern, diversen Effektgeräten produziert, behauptet auf dem Cover, dass die Geräusche angeblich Produkte modernster Technologien seien, und gibt sich im Begleittext ganz den Anschein eines seriösen Avantgardemusikers, der mit seinem Werk einem künstlerisch innovativen Konzept folge, das nur derjenige verstehe, der sich mit ihm intellektuell auf Augenhöhe befinde. In der Folge wird "Metal Machine Music" nicht nur von (pseudo)-intellektuellen Kritikern, die nicht zugeben wollen, dass ihr Verstand zum Erfassen der Größe dieses Monoliths nicht ausreicht, sondern auch von der aufkommenden Noise- und Industrial-Bewegung für sich vereinnahmt - und mir wird diese endlose Rückkopplungsorgie wohl immer dadurch im Gedächtnis bleiben, dass ich mit 16 Jahren ungläubig vor meiner Stereoanlage sitze, und kaum fassen kann, was da meine jugendlichen Ohren malträtiert.

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