Alice lebt hier nicht mehr - Martin Scorsese (1974)

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buxtebrawler
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Alice lebt hier nicht mehr - Martin Scorsese (1974)

Beitrag von buxtebrawler »

Alice lebt hier nicht mehr.jpg
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Originaltitel: Alice Doesn't Live Here Anymore

Herstellungsland: USA / 1974

Regie: Martin Scorsese

Darsteller(innen): Mia Bendixsen, Ellen Burstyn, Alfred Lutter III, Billy Green Bush, Lelia Goldoni, Ola Moore, Harry Northup, Martin Brinton, Dean Casper, Murray Moston, Harvey Keitel, Lane Bradbury u. A.
Als Alice (Ellen Burstyn) ihren Mann Donald (Billy Green Bush) aufgrund eines Unfalltodes verliert weiss die nun alleinstehende Mutter zuerst nicht was sie machen soll, um zukünftig über die Runden zu kommen. Weil das Geld immer knapper wird verkauft sie ihr Haus und macht sie sich schließlich zusammen mit ihrem 11-jährigen Sohn Tommy (Alfred Lutter III) auf den Weg in eine Stadt namens Monterey in Kalifornien. Unterwegs will sie sich als jedoch aus Geldnot als Sängerin in einer Bar versuchen und vorerst bleibt sie dann dort in der kleinen Stadt hängen. Leider verläuft dort aber alles nicht so glatt wie Alice sich das vorgestellt hat und nachdem ihr auch noch eine gescheiterte Affäre mit einem gewalttätigen, verheirateten Cowboy (Harvey Keitel) zu schaffen macht, zieht sie weiter in einer der nächsten Kleinstädte. Dort angekommen nimmt Alice zunächst ein Stelle als Kellnerin an und lernt den symphatischen Ranchbesitzer David kennen ...
Quelle: www.obfd.de

Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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buxtebrawler
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Re: Alice lebt hier nicht mehr - Martin Scorsese (1974)

Beitrag von buxtebrawler »

„Scheiße, elende!“

Der vierte abendfüllende Spielfilm des US-amerikanischen Ausnahmeregisseurs Martin Scorsese scheint auf den ersten Blick nicht so recht in sein Œuvre zu passen. Tatsächlich haderte er Überlieferungen zufolge zunächst mit dem Drehbuch Robert Getchells, als Hauptdarstellerin Ellen Burstyn („Der Exorzist“) damit an seine Tür klopfte – handelt es doch von einer alleinerziehenden Frau, die sich, ihrem Traum von einer Karriere als Sängerin hinterhereilend, durchs Leben schlägt. Glücklicherweise übernahm Scorsese dennoch die Inszenierung dieser Mischung aus Tragikomödie und Road-Movie, die im Jahre 1974 in die Kinos kam, ein internationaler Erfolg wurde und sogar mehrere Preise gewann, u.a. den Oscar für die beste weibliche Hauptrolle. Auf dieser Basis konnte Scorsese sich weitestgehend von finanziellem Druck befreit an die Arbeit zu „Taxi Driver“ machen.

„Wenn noch ein Mann in diesem Bums mich blöd anquatscht, dann kriegt er eins in die Fresse!“

Der mürrische Ehemann (Billy Green Bush, „Harley-Davidson 344“) der 35-jährigen Alice (Ellen Burstyn) verunglückt bei einem Verkehrsunfall tödlich, woraufhin sie ihr Haus in New Mexico verkauft und mit ihrem elfjährigen Sohn Tommy (Alfred Lutter III, „Die letzte Nacht des Boris Gruschenko“) nach Monterey in Kalifornien gehen will, wo sie in jungen Jahren als Sängerin aufgetreten war. Sie machen jedoch notgedrungen Zwischenstation in Phoenix, Arizona, wo Alice sich in allen Lokalen als Sängerin bewirbt, eine Anstellung erhält und sich auf eine Affäre mit einem verheirateten Mann (Harvey Keitel, „Hexenkessel“) einlässt. Als dieser gewalttätig wird, packt sie Hals über Kopf ihre Sachen, schnappt sich Tommy und zieht weiter, wobei sie den Ranchbesitzer David (Kris Kristofferson, „Pat Garrett jagt Billy the Kid“) kennenlernt, der das Gegenteil ihrer bisherigen Männer zu sein scheint…

Der mit einem satten Rotfilter und im 4:3-Format gedrehte Prolog zeigt Alice als fröhliches singendes Kind, das bei seiner Ankunft im Elternhaus von seiner Mutter Prügel angedroht bekommt – eine Schlüsselszene zu ihrem Traum von einer Karriere als Sängerin und Hommage an „Der Zauberer von Oz“ zugleich. Dann der Zeitsprung in die Gegenwart, 27 Jahre später: Ein schmissiger Rocksong von Mott The Hoople ertönt, denn von diesem ist Tommy ein Fan. Alice‘ Mann Donald neigt zu Jähzorn, ist permanent mies gelaunt und macht ihr Vorwürfe, sie würde Tommy nicht richtig erziehen. Tatsächlich ist Tommy ein rotzfrecher Bengel, wenn auch sehr charmant und intelligent, zugleich aber neunmalklug und sehr eigensinnig. Dennoch avanciert er mit seinem Wesen zu einem Sympathieträger des Films. Nach Donalds Tod besinnt sich Alice wieder auf ihr Gesangstalent, das sie wie ein Licht am Ende des Tunnels, einen Hoffnungsschimmer, stets vor sich herträgt, ja, das ihr Kraft verleiht.

Der kindische Ben, beeindruckend gespielt vom damaligen Scorsese-Stammmimen Harvey Keitel, gräbt Alice in Phoenix an. Und nachdem sie sich anfänglich noch ziert, hat er schließlich Erfolg, Alice kann sich wieder ein Leben an der Seite eines Mannes vorstellen. Leider entpuppt er sich jedoch als verheirateter Hallodri, der seine Familie vernachlässigt und sogar zu arbeiten aufgehört hat. Richtiggehend erschreckend ist die Szene, in der er zu allem Überfluss auch noch gewalttätig wird. Es kristallisiert sich heraus: Alice scheint kein Glück mit den Männern zu haben.

In einem neuen Ort fängt sie als Kellnerin in einem Imbiss an, woraufhin Mann Nummer 3 in ihr Leben tritt, der Film aber auch immer komödiantischer wird und dadurch eine Leichtigkeit erhält, die zum grundsympathischen David, einem sanften Naturburschen, der mit Alice anbändelt, passt. Die Szenen im Imbiss sind humoristisch gestaltet, insbesondere durch die Konstellation aus drei Kellnerinnen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Doch es kommt zum Streit zwischen David und Tommy, daraufhin zwischen Alice und David. Was bis hierhin in aller Harmonie inszeniert wurde, scheint schon wieder vorbei zu sein. Der große Unterschied jedoch ist, dass diesmal Alice und Tommy die Schuld zu treffen scheint. Denn anstatt Tommy erzieherisch Grenzen zu setzen und damit zu akzeptieren, dass er ein Kind ist, ist die Mutter-Sohn-Beziehung hier eine auf Augenhöhe, beinahe, als sei Tommy Alice‘ eigentlicher Partner im Leben (wenn auch nicht im ödipalen Sinne). Darunter muss David leiden, zudem projiziert Alice ihre negativen Erfahrungen auf David – eine Art Klassiker unter sich mit neuen Beziehungen schwertuenden Alleinerziehenden. Heutzutage indes würde man David allerdings wohl wirklich nicht mehr den Klaps auf Tommys Po durchgehen lassen. Tommy indes ist mittlerweile elf und beginnt zu pubertieren, trinkt gar schon mit einer Freundin (Jodie Foster, „Round Up“) Wein…

Der Imbiss rückt daraufhin mit weiteren turbulenten Szenen wieder stark in den Fokus, ist er doch kurioserweise immer wieder Bühne hysterischer Anfälle, zwischenmenschlicher Dramen und von Nervenzusammenbrüchen. Das offene Ende deutet ein mögliches Happy End an und umgeht damit sowohl Romantikkitsch als auch desillusionierenden Fatalismus. „Alice lebt hier nicht mehr“ gewinnt mit sensibler Figurenzeichnung, großartigen Dialogen (insbesondere jenen zwischen Tommy und Alice) und zu gleichen Teilen Humor auf der einen und bodenständigem Drama auf der anderen Seite. Scorsese umschifft dabei jegliches Mansplaining, sondern lässt alles, was gesagt werden muss, über seine tolle Hauptdarstellerin transportieren, deren Mimik, Habitus, Macken und Lebenseinstellung das Publikum zu dechiffrieren angehalten ist, um sich einen Reim auf sie, ihr Leben und ihre Träume zu machen.

Scorsese bewies damit, dass er nicht nur urbanes Kino beherrscht, und zeigte einmal mehr ein Händchen für den Umgang mit toxischen männlichen Figuren, die sich wie eine Konstante durch viele seiner Filme ziehen (womit die Brücke zu Scorseses Œuvre geschlagen wäre). Wenn er auch für meinen Geschmack zuweilen gern ein wenig konkreter werden und sich etwas mehr trauen hätte dürfen, statt hier stets der Familientauglichkeit verpflichtet zu bleiben.

Mit der Sitcom „Imbiss mit Biss“ wurde die Geschichte zwei Jahre später abgewandelt in Serienform adaptiert, in der Linda Lavin die Rolle der Alice übernahm; die Serie wurde offenbar satte zehn Jahre lang produziert. Die Serie kenne ich nicht, aber der Film ist mir 7,5 von 10 Imbissbesuchen wert.
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FarfallaInsanguinata
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Re: Alice lebt hier nicht mehr - Martin Scorsese (1974)

Beitrag von FarfallaInsanguinata »

Ein Film, der mich Ende der Siebziger im TV, als ich etwas älter als der Sohn von Alice war, schwer beeindruckte. Wie diese Frau ihre gewohnte Umgebung verlässt und sich aufmacht in eine ungewisse Zukunft, fand ich toll. Mehr noch, löste er eine Art Fernweh bei mir aus, und ich wäre wohl mit meinem eigenen Leben gerne ähnlich verfahren. Die Stadt Phoenix merkte ich mir witzigerweise und immer, wenn ich über sie stolperte, musste ich an den Film denken.
Nebenbei war er meine erste bewusste Begegnung mit der jungen Jodie Foster, noch vor "Taxi Driver" oder "Jeanies Clique". Dass sie das Mädchen spielt, mit dem sich Tommy anfreundet, hast du nämlich in deiner feinen Besprechung unterschlagen, bux!
Wunderbarer Film, den ich in sehr guter Erinnerung habe und gerne mal wieder schauen würde.
Diktatur der Toleranz

Die Zeit listete den Film in einem Jahresrückblick als einen der schlechtesten des Kinojahres 2023. Besonders bemängelt wurden dabei die Sexszenen, die von der Rezensentin als „pornografisch“ und „lächerlich“ bezeichnet wurden.
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Re: Alice lebt hier nicht mehr - Martin Scorsese (1974)

Beitrag von buxtebrawler »

FarfallaInsanguinata hat geschrieben: Mi 15. Mär 2023, 20:59 Nebenbei war er meine erste bewusste Begegnung mit der jungen Jodie Foster, noch vor "Taxi Driver" oder "Jeanies Clique". Dass sie das Mädchen spielt, mit dem sich Tommy anfreundet, hast du nämlich in deiner feinen Besprechung unterschlagen, bux!
Wunderbarer Film, den ich in sehr guter Erinnerung habe und gerne mal wieder schauen würde.
Vielen Dank für den Hinweis; die wollte ich erwähnen, hab's aber total verschwitzt. Ist jetzt eingetragen.
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