Gran Casino - Luis Bunuel (1947)

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Salvatore Baccaro
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Gran Casino - Luis Bunuel (1947)

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Originaltitel: Gran Casino

Produktionsland: Mexiko 1947

Regie: Luis Bunuel

Darsteller: Jorge Negrete, Libertad Lamarque, Meche Barba, Agustin Isunza
Viel hätte wohl wirklich nicht gefehlt, dass das Oeuvre Luis Bunuels nach gerade einmal drei eigenständigen und zwei sozusagen halben Filmen zum vorzeitigen Abschluss gekommen wäre. UN CHIEN ANDALOU (1929) und L’AGE D’OR (1930), beide realisiert in Frankreich und, je nach Quelle, mal mit mehr, mal mit weniger tatkräftiger Unterstützung seines Landsmanns Salvador Dalís, sind wohl nach wie vor die beiden Werke, mit denen man den Namen Bunuel heute am ehesten verbindet, zwei reine Experimentalfilme voller Bilder, die selbst weit über ein halbes Jahrhundert später noch schockieren, irritieren und betören und längst mit einer Vehemenz in unsere Populärkultur eingeflossen sind, dass sie beinahe schon etwas Archetypisches bekommen haben: rottende Eselskadaver in gutbürgerlichen Klavierflügeln verstaut, ein Frauenkopf, der in besinnungsloser Leidenschaft die Hand des Liebsten verschlingt, und, natürlich, ein Auge, das in Großaufnahme von einem Rasiermesser durchtrennt wird.

Dass Bunuels nächster Film neben diesem kompromisslosen, waghalsigen und dennoch auf seine ganz spezifische Weise unterhaltsamen Bilderreigen relativ untergegangen ist, verwundert nicht, ist jedoch im Falle von LAS HURDAS (1932) dann eher ungerecht, versucht Bunuel in dieser überaus sozialkritischen Fake-Doku – man könnte auch neuere Termini wie Mockumentary oder Mondo ins Feld führen – über eine Region irgendwo im spanischen Hinterland, wo die Armut der Bevölkerung die Grenzen des Erträglichen spielerisch überschreitet, doch recht erfolgreich, seinen surrealistischen Ansatz mit einem dokumentarischen zu verbinden, und legt, wie schon bei UN CHIEN ANDALOU und L’AGE D’OR, seine Finger auf Wunden, die nicht nur die schmerzen, die sie verursacht haben: christliche Moral wird angeprangert, erstarrte Norm- und Wertsysteme des europäischen Bürgertums im Spätkapitalismus, und, ganz konkret, die spanische Sozialpolitik der frühen 30er. Mit solchen Filmen, die wilde Attacke gegen all das reiten, was das Gros einer Gesellschaft für beständig und bewahrenswert hält, macht man sich freilich nicht nur Freunde – und die Zahl von Bunuels Feinden in seinem Heimatland Spanien, in das er nach seinem Paris-Intermezzo kurzzeitig umsiedelte, mehrt sich spätestens mit Ausbruch und faschistischem Ausklang des Bürgerkriegs, der dort ab 1936 wütet, im gleichen Jahr, in dem Bunuel noch zwei weitere Filme, jeweils als Co-Regisseur, inszeniert.

Es sind namentlich QUIÉN ME QUIERE A MÍ?, gemeinsam mit José Luis Sáenz de Heredia, und CENTINELA, ALER-TA!, gemeinsam mit Jean Grémillon. Ersterer scheint verschollen, letzterer ist erhalten geblieben, zwingt mich jedoch fast dazu, das Mäntelchen des Schweigens über ihm auszubreiten. CENTINELA, ALERTA! ist ein äußerst dürftiges Liebesdrama um eine schwangere Frau zwischen zwei Männern, dem bad guy, der zugleich Vater ihres unehelichen Kindes ist, und unserem Helden, einem Soldaten, der sich, wann immer das Drehbuch es erlaubt, als Flamenco-Sänger in den akustischen Vordergrund spielt, garniert mit albernstem Kasernenhumor und einer sehr holprigen, unbeholfen Inszenierung. Wie schon QUIÉN ME QUIERE A MÍ? ist CENTINELA, ALERTA! allerdings keine Produktion, für die Bunuel das Hergeben seines Namens ursprünglich intendiert hat. Während seiner Zeit in Spanien hat er sich seinen Unterhalt vor allem als Produzent kommerzieller Spielfilme verdient, von denen die meisten heute nicht mehr aufzufinden sind, und, zumindest im Falle von CENTINELA, ALERTA!, bloß auf dem Regiestuhl Platz genommen, da der Hauptregisseur Grémillon, von dem man indes zuvor auch schon um Meilen besseres gesehen hat, während der Dreharbeiten von Krankheit geschlagen das Bett zu hüten hatte.

Zwischen 1937 und 1947 wird Bunuel dann keinen einzigen Film mehr drehen. Er befindet sich in den Vereinigten Staaten, arbeitet zunächst für Warner Brothers, wo er sich um die englischen Synchronisationen spanischsprachiger Filme kümmert, später für das Museum of Modern Art in New York. Erst nach seiner Umsiedelung nach Mexiko in den späten 40ern, beginnen wieder Filme unter seinem Namen zu erscheinen. Es soll die produktivste Phase in seiner gesamten Karriere werden. Insgesamt 20 Spielfilme entstehen zwischen 1947 und 1965 in Mexiko, erst danach wendet sich Bunuel wieder nach Frankreich, um mit Meisterstücken wie BELLE DE JOUR (1967) oder LE FANTÔME DE LA LIBERTÉ (1972) ein veritables Alterswerk zu schaffen. Gerade seiner mexikanische Periode indes ist ein ähnliches Schicksal beschieden worden wie dem zu Unrecht vergessenen LAS HURDAS. Da Bunuel dort in ein kommerzielles, industrielles System eingebunden gewesen ist und sein Geld zumeist mit Auftragsarbeiten verdiente, hat man wohl lange Zeit bewusst oder unbewusst die überaus feine Art und Weise übersehen, mit der er seine nach wie vor vorhandenen Avantgarde-Sensibilitäten noch in die trivialsten oder herkömmlichsten Stoffe hat einfließen lassen können. Oft sind es die kleinen Gesten, die flüchtigen Details, mittels derer Bunuel in mehr oder minder konventionell erzählten Geschichten Räume für das surreale Unbehagen eröffnet, von dem UN CHIEN ANDALOU noch bis zum Bersten voll ist.

Man denke, um nur ein Beispiel zu nennen, an einen Film wie LA MORT EN CE JARDIN (1956), eine französisch-mexikanische Co-Produktion, die wohl auf dem Papier so etwas wie ein Dschungelabenteuer im Stile Clouzots hatte werden sollen. Verschiedene, höchst unterschiedliche Charaktere sind im Verlauf einer Revolte innerhalb eines entlegenen Goldgräberstädtchens mitten im südamerikanischen Urwald dazu gezwungen, per Schiff die Flucht in eine ungewisse Zukunft anzutreten. Verfolgt von Militärs, schlagen sie sich in die Grüne Hölle, verlieren die Orientierung, müssen sich mit Hunger, Erschöpfung und ihren eigenen Dämonen auseinandersetzen. Obwohl Bunuel diesen Stoff, wie gesagt, auf der Oberfläche realistisch und schlüssig auf die Leinwand übersetzt, mit psychologisch glaubwürdigen Figuren, einer deutlich erkennbaren Spannungskurve und einem sorgsam kombinierten Ineinandergreifen von Haupt- und Nebenplots, finden sich in LA MORT EN CE JARDIN dann doch, wenn man genauer hinsieht, mehrere Bilder, die wirken, als seien sie von einem Wind in den nominellen Abenteuerstreifen geweht worden, der sich zuvor reichlich in den Ateliers und Bibliotheken von Bunuels früheren Surrealistenfreunden wie Magritte oder Breton ausgetobt haben dürfte. Eine meine liebsten Szene ist folgende: Michel Piccoli, der hier einen Priester namens Lizzardi spielt, sitzt allein am Rande der Gruppe, die damit beschäftigt ist, ein Lagerfeuer in Gang zu bringen, was jedoch immer wieder an der Feuchtigkeit des Dschungelholzes scheitert. Die Kamera beobachtet ihn dabei wie er eine Seite aus seiner Bibel reißt, kurz zu überlegen scheint, sie den Leidensgenossen als Zündmaterial anzubieten, sie schließlich aber zurück dorthin steckt, woher er sie gerupft hat. Dann, plötzlich, zoomt die Kamera an sein Gesicht heran. Es sieht etwas Entsetzliches, was Bunuel uns gleich darauf im Gegenschnitt enthüllt: eine Schlange ohne Kopf liegt da im Gebüsch, über und über bedeckt mit Ameisen, und sie zuckt vor sich hin, vielleicht aufgrund von Reflexen, die sich nicht mit ihrem Tod abfinden, vielleicht auch nur, weil das Wuseln auf ihrer Haut die Bewegung vortäuscht. Dieses Bild, das mich bis in meine Träume verfolgt hat, verlischt in Schwarz. Ein neues taucht hervor: Paris bei Nacht, der Arc d’Triomphe, umbraust von zahllosen Autos. Wie wir aus dem südamerikanischen Busch in die französische Hauptstadt gelangt sind, kann man sich nur so lange fragen bis dieses Bild auf einmal einfriert, die Kamera erneut zurückfährt und offenbart: es ist nur eine Photographie, von der Erinnerung kurzzeitig zum Leben erweckt, kurz bevor sie ihr Besitzer, ein weiterer unserer Helden, resignierend ins nunmehr brennende Lagerfeuer wirft. Alles in allem dauern diese beiden Szenen keine zwei Minuten, ihre Bedeutung für den Gesamtfilm ist verschwindend gering und dennoch bilden sie für mich so etwas wie das Herzstück von LA MORT EN CE JARDIN, eben jenen arkanen Winkel, in dem mir Bunuel über die Möglichkeit des Unmöglichen zu reflektieren scheint, eine realistische Welt des Irrealen offenzulegen, die sich hinter der irrealen Welt des vermeintlich Realistischen auftut, wenn man nur lange genug hinschaut.

GRAN CASINO (1948) wiederum ist Bunuels Comeback nach zehn Jahre kinematographischen Schweigens, sein erstes Werk in Mexiko, einer seiner mit Abstand kommerziellsten Filme, da am weitesten dem vermeintlichen Geschmack eines Publikums angeglichen, dem er dann allerdings gar nicht so sehr geschmeckt hat, wurde er doch zu einem finanziellen Misserfolg geriet, der Bunuel fast ohne Geld in den Taschen zurückgelassen hat. Die reine Geschichte ist dann auch - was man von einem Regisseur wie Bunuel möglicherweise am wenigsten erwartet hätte - eine Zusammenstellung von Schablonen und Schubladen, die viele andere schon vor ihm und, zugegebenermaßen, viel besser aneinandergeschraubt haben. Unser Held, Gerardo, der Traum jeder Schwiegermutter, bricht mit zwei Freunden gleich in den ersten Szenen aus dem Gefängnis aus, in dem sie unschuldig sitzen. Auf der Flucht vor dem Gesetz trifft man in einer Bar zufällig auf die Gelegenheit zu legaler Arbeit: ein Geschäftsmann namens José Enrique Irigoyen sucht Arbeiter für seine Ölfelder, die bereit sind, sich dort trotz der Drohungen eines gewissen Don Fabio zu verdingen, dessen Mafia-Methoden, mittels derer er sich das Ölmonopol der Region sichern möchte, nicht mal vor körperlicher Gewalt zurückschrecken. Gerardo indes ist begeistert von dem Deal, schlägt in ihn ein und baut den Ölbrunnen in kürzester Zeit zur lukrativen Geldquelle aus. Dann aber verschwindet Irigoyen plötzlich spurlos. Zuletzt hat man ihn im örtlichen, Don Fabio gehörenden Casino gesehen, und zwar sowohl betrunken als auch Arm in Arm mit der Nachtclubsängerin und mutmaßlichen Dirne Camelia. Trotz aller Nachforschungen der Polizei und trotz aller Verdächtigungen Gerardos, der sich sicher ist, dass Don Fabio etwas mit Irigoyens Sich-In-Luft-Auflösen zu tun haben muss, bleibt der Gesuchte verschollen, und Demetrio, eigentlich Mechaniker, rückt in den Chefsessel auf, ein wesentlich inkompetenterer und unzuverlässigerer, wenn auch herzensguter Mann, dem die Leitung eines derart großen Unternehmens jedoch nicht wirklich obliegt. Während Gerardo sich noch den Kopf darüber zerbricht, wie er auf eigene Faust Licht ins Dunkel der merkwürdigen Vorkommnisse bringen kann, erhält er die Nachricht, dass Irigoyens Schwester Mercedes auf dem Weg zu einem spontanen Besuch bei ihrem Bruder sei. Als er sie am Bahnhof in Empfang nehmen möchte, verwechselt er sie mit ihrer Reisebegleiterin, worauf Mercedes ihr unverhofftes Inkognito behält, nachdem sie vom Verschwinden ihres Bruders gehört hat. Mehr noch: sie täuscht ihre Abreise vor, um, da sie professionelle Performerin ist, im Casino Don Fabios anzuheuern, und dort, ebenso wie Gerardo, doch unabhängig von ihm, Nachforschungen über den Verbleib Irigoyens anzustellen.

Wohl alles, was man bis hierhin erwarten kann, bleibt nicht aus. Da ist eine Liebe, die zwischen Mercedes und Gerardo zu knistern beginnt. Da ist der unumstößliche Beweis, dass Don Fabio Irigoyen aus dem Weg geräumt hat, um sein Unternehmen zu schwächen. Da ist schließlich ein weiteres Verschwinden, nämlich das Demetrios, und ein scheinbar von deutschstämmigen Dunkelmännern geleiteter Komplott, der Irigoyens Lebenswerk endgültig in die Gewalt machthungriger Materialisten bringen soll. Vor allem ist da aber Tanz und Musik, schließlich handelt es sich bei GRAN CASINO doch um einen Musicalfilm der alten Schule, in dem die Protagonisten in den möglichsten und unmöglichsten Momenten beginnen, ihre Gefühle und Weltanschauungen mit vibrierenden Kehlköpfen und der vollen Unterstützung unsichtbarer Begleitbands und Begleitorchestern zum Besten zu geben.

Schon gleich der Auftakt macht deutlich, dass diesem Film seine stellenweise gar nicht mal uninteressante Verbrecher- bzw. Liebesgeschichte mindestens so wichtig ist wie die performativen Darbietungen von vor allem Jorge Negrete und Libertad Lamarque, die als Gerardo und Mercedes wenige Gelegenheiten auslassen, die Handlung stocken und ihre Stimmen dafür in vollem Umfang aus ihren Mündern treten zu lassen. Während Gerardos Freunde damit beschäftigt sind, die morschen Eisenstäbe ihres Zellenfenstergitters zu durchsägen, greift dieser zur Gitarre, intoniert irgendeinen mir unbekannten mexikanischen Schlager und übertönt somit die ansonsten den Wächterohren sicherlich hätte verdächtig vorkommen müssende Geräuschkulisse des Ausbruchsversuchs. In vielerlei Hinsicht ist diese Szene symptomatisch für GRAN CASINO. Zum einen fällt auf, dass Bunuel die Sangesdarbietungen eben nicht nur auf die Casino-Bühne beschränkt, sondern sie selbst in Alltagssituationen streut, sprich: überall dort, wo sie sich gerade anbieten – eine Methode, die man bis zu CENTINELA, ALERTA! zurückverfolgen kann. Zum andern gibt es keinen qualitativen Unterschied zwischen den Sang- und Tanzeinlagen, die innerhalb des Films als Performances markiert sind, und denen, die außerhalb eines Showrahmens stattfinden. Obwohl Gerardo in oben skizzierter Szene einzig eine Klampfe in den Händen hält, ertönt von der Tonspur ein halbes Orchester. Surreal!, möchte man als heutiger Betrachter schreien, wäre man sich nicht sicher, dass dieser Film auf sein kleines Publikum wohl nicht weniger als umstürzlerisch gewirkt haben mag. Falls GRAN CASINO surreale Stempel trägt, dann sind die ihm erst mit der Zeit gewachsen bzw. nehmen wir sie erst aus unserer gegenwärtigen Perspektive heraus wahr, während der Film einem Zeitgenossen nicht surrealer oder avantgardistischer erschienen sein mag als beispielweise eine beliebige zeitgleiche Operettenverfilmung der Bundesrepublik. Aus dem Nichts heraus zu singen beginnen, die Handlung künstlich in die Länge strecken, weil man sie immer wieder diesem Singen strukturell unterordnet, sogar die drei Typen, die sich dauernd, wenn Gerardo in den Sanges-Modus fällt, in unter-schiedlichen Maskeraden – mal als Knastbrüder, mal als Minenarbeiter, mal als Nachtclubgäste – um ihn herum materiali-sieren, um seine Begleitung zu bilden, das alles sind Genrekonventionen, die uns heute sehr schräg vorkommen mögen, zur Zeit der Entstehung von GRAN CASINO bedeuten sie noch keine Brechung von Illusionen, sondern vielmehr deren Affirmation.

Überhaupt wirkt GRAN CASINO in gewisser Weise wie die totale Antithese zu einem Film wie L’AGE D’OR. Die Montage, die überbordende Studiostatik, die mühsame, wenn auch ordentlich unterhaltende Handlung, die formelhafte Kameraarbeit, das alles ist einem Kino verpflichtet, gegen das Bunuels frühesten drei Werke bittere Pfeile abgeschossen haben. Dabei muss man GRAN CASINO, zu dessen Drehbuch Bunuel übrigens keine Zeile beigetragen hat, zugestehen, dass er die Konvention derart fest umarmt, dass er vieles, wenn nicht alles, zugleich sein möchte. Witzig zum Beispiel, nur leider sind die Dialoge dafür selten spritzig genug. Ergreifend mit Sicherheit, doch berühren mich die spanischen Songs wenig und die umständlich zurechtgebogene Liebesgeschichte schon gar nicht. Außerdem spannend, ein Anliegen, das wiederum durch das schleppende Tempo durchkreuzt wird. Dass GRAN CASINO, neben der bereits erwähnten Unterhaltungsfunktion, die er in der richtigen Stimmung mit den richtigen Leuten gesehen, meine ich, durchaus entfalten kann, nicht zum völligen künstlerischen Desaster wird, liegt daran, dass Bunuel selbst in diesem seinem ungewöhnlichsten und wesensfremdesten Film das eine oder andere Kleinod zu verstecken weiß, das einem zeitgenössischen Publikum allein deshalb entgangen sein muss, da es nicht wissen konnte, dass der Regisseur dieses Standard-Musicals sich in der Folgezeit mit Filmen wie EL ÁNGEL EXTERMINADOR (1962) oder SIMÓN DEL DESIERTO (1965) erneut zu einem der wichtigsten Kinoavantgardisten mausern sollte.

1. Ich möchte den steifen, klischeefeuchten Dialog erwähnen, den Gerardo und Mercedes gegen Ende des Films, kurz vorm großen Finale, in tiefer Nacht unter einem Himmel voller Sterne führen. Sie erörtern ihre weitere Vorgehensweise, um Don Fabio zur Strecke zu bringen, und gestehen sich im Subtext recht unverhohlen ihre gegenseitige Liebe. Zwei Großaufnahmen verwirren jedoch jeden, der es schafft, über die Formelhaftigkeit der Szene hinwegzusehen und sich wirklich von ihr berühren zu lassen. Man sieht wie Gerardo, offenbar mit einem Stock, den er in der rechten Hand führt, in einem Loch voller Matsch oder Schlamm herumstochert. Er taucht hinein, wälzt ihn hin und her, zieht ihn heraus, wobei ein großer Klumpen Dreck an ihm klebenbleibt. Es ist, als habe Bunuel in diesen zwei kurzen, überhaupt nicht kontextualisierten Aufnahmen so etwas wie einen kleinen Sprengstoffsatz verborgen, der dazu dienen soll, die altbackenden Phrasen seiner Figuren wenigstens ein bisschen in die Luft zu jagen.

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Abb.1: Gerardo in seinem Element: selbst der Cowboyhut, der seinen Kopf bloß bei Schlägereien verlässt, erzittert unter dem Timbre seiner Stimme

2. Auch muss ich auf das eine oder andere Hitchcock-Zitat hinweisen, das ich in GRAN CASINO zu entdecken geglaubt habe. Im Finale zum Beispiel befindet Gerardo sich in der Höhle des Löwen, sprich: inmitten von Don Fabios Casino, umringt von dessen Handlangern, die ihm an den Kragen wollen. Er ergreift - ähnlich wie der fälschlicherweise für einen Geheimagenten gehaltenen Flugzeugfabrikarbeiter in Hitchcocks SABOTEUR (1942) - die Flucht nach vorne, indem er kurzerhand auf die Bühne springt und den Lieblingssong des Publikums anstimmt, das ihm daraufhin johlenden Applaus zollt und Don Fabios Männer somit daran hindert, Gerardo unbehelligt aus dem Weg zu räumen. Die deutschsprechende Geheimorganisation, die Bunuels Film ganz am Ende völlig unvermittelt als die wahren Drahtzieher hinter dem schmutzigen Ölkrieg offenbart, wiederum könnten gut und gerne Verwandte der Exil-Nazis sein, mit denen sich Ingrid Bergman in NOTORIOUS (1946) herumschlagen muss.

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Abb.2: Mercedes in ihrem Element: die geborene Performerin umgeben von jungen Stimmen und jungen Gesangsmelodien, nur die Kulisse hat schon lebendigere Zeiten erlebt

3. Obwohl GRAN CASINO sich bei seinem Publikum zuallererst durch gefällige Gesangs- und Tanznummern einzuschmeicheln versucht, wird dieses Publikum, gespiegelt in dem, das Nacht für Nacht in Don Fabios rege besuchtem Casino zubringt, an mehreren Stellen des Films durchaus kritisch unter die Lupe genommen. Immer dann nämlich, wenn die Bühne von eher skurrilen Darbietungen dominiert wird, bricht das Auditorium in nahezu handgreifliche Unmutsbekundungen aus. Eine ältere Dame mit quietschender Stimme und affektierten Gebärden wird orkanartig hinter den Vorhang gebuht. Als ein Dudelsackpfeifer mit zwei Mädchen im Schottenrock auftritt, hagelt es Cowboyhüte auf die Sonderlinge. Fast wirkt es, als wolle Bunuel in solchen Details seine eigene Situation zu dieser Zeit zum Ausdruck bringen: ein noch immer dem Surrealismus nahestehender Künstler, der die quiekenden Altfrauenstimmen und die schiefen Dudelsacktöne mehr schätzt als die in ihrer Perfektion beängstigenden Gesänge der eigentlichen Stars des Films, diese Präferenzen jedoch nicht in Spielfilmlänge auf die Leinwand bringen kann, da ihm sonst der Großteil des Publikums davonlaufen würde. Dass GRAN CASINO zum finanziellen Desaster wurde, eröffnet eine Ebene, von der Bunuel während der Dreharbeiten freilich noch nichts ahnen konnte.

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Abb.3: Die Mädchen und der Schottenrock: als wolle man uns einen Spiegel vorhalten und uns fragen, wieso findet ihr Gerardos pathetische Posen weniger albern als das muntere Gefiedel dieses Greises?

4. Meine liebste Szene ist jedoch die folgende: Gerardo sitzt mit einer weiteren ältere Dame, die beinahe stolz auf ihre diagnostizierte Kleptomanie zu sein scheint, und deren Finger überall zeitgleich sind, um Portemonnaies, Glücksspielcoins oder Ketten in ihren Besitz zu bringen, an der Theke von Don Fabios Spielhölle, betrunken, zerschossen, gelangweilt von den Endlosmonologen seiner Bekannten. Da kommt ihm einer dieser Metalleimer in die Hände, in denen man normalerweise Champagner kühlt. Er ist leer und er dreht ihn hin und her, starrt seine Außenwände an, die den Raum verzerrt reflektieren. Das Gesicht der Kleptomanin ist bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Dieser Champagnerkühler funktioniert wie eine Kamera, die die Wirklichkeit nicht exakt abbildet, sondern sie potenziert, und zwar in definitiv surreale Bereiche. Dieser Champagnerkühler funktioniert wie ein Jahrzehnt später die Schlange, die Michel Piccoli so sehr erschreckt: sie reißt das vertraut-rationale Gewebe des Films auseinander, um etwas zwischen die entstandenen Nähte zu schieben, das uns verunsichert, weil es näher an unserer psychischen Wirklichkeit ist als jede noch so akkurate Abbildung der physischen. Fast wünscht man sich, für den Rest des Films mit Gerardo diesen Eimer anstarren zu dürfen. Wohl gegen jeden Film, der dort abgelaufen wäre, hätte GRAN CASINO für mich wohl nur verlieren können.

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Abb.4: Film im Film oder: eine verschwommene Projektion des andalusischen Hundes. "In den Sektkühler geht der geheimnisvolle Weg / dort, nur dort, ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft."

Viel hätte wohl wirklich nicht gefehlt, dass das Oeuvre Luis Bunuels nach dem ausbleibenden Erfolg von GRAN CASINO zum vorzeitigen Abschluss gekommen wäre. Zwei Jahre später verhalf ihm seine die Kinokassen klingen lassende zweite mexikanische Produktion endlich doch dazu, in der neuen Wahlheimat Fuß zu fassen. EL GRAN CALAVERA ist eine leichte-seichte Komödie, primär zugeschnitten auf ihren Star Fernando Soler, ohne Tanz- und Gesangseinlagen, ohne gesteigerte künstlerische Ambitionen, ohne surreale Note – einmal abgesehen von einer schnurrbarttragenden Frau und der teilweise ordentlich konstruierten Handlung, die freilich wiederum, wie bei GRAN CASINO, als Kind ihrer Zeit betrachtet werden muss. Immerhin bot Bunuel der Beifall, den seine Zuschauerschaft EL GRAN CALAVERA zollte, die Möglichkeit, in der Folge Projekte zu realisieren, die ihm wirklich am Herz lagen. Schon LOS OLVIDADOS (1950) würde ich zum Besten zählen, was Bunuel jemals gedreht hat: ein am italienischen Neorealismus orientiertes Jugenddrama, das Vorbilder wie Rossellini oder de Sica allerdings mit seinem ausgenommen zynischen, grimmigen Unterton, mit seiner exorbitanten Hühnersymbolik und einer heftigen Traumsequenz erneut in Sphären transzendiert, wo der Positivismus, selbst wenn er sich noch so sehr streckt, niemals auch nur mit den Fingerspitzen hinkommen wird. Da das alles mit GRAN CASINO indes nicht mehr allzu viel zu tun hat, werde ich meine Schwärmereien nach dieser Zeile abbrechen und den vorliegenden Film, wenn schon nicht empfehlen, so mir doch zumindest für eine mögliche Doppelvorstellung mit L’AGE D’OR vormerken: es wäre doch zu schön, einmal zusehen zu dürfen wie die beiden so verschiedenen Geschwister sich auf einer gemeinsamen Leinwand gegenseitig kommentieren, widerlegen und herzhaft lachend in die Arme fallen, oder?
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buxtebrawler
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Re: Gran Casino - Luis Bunuel (1947)

Beitrag von buxtebrawler »

Jetzt weiß ich, warum Blap seine eigentlich auch schon ausführlichen Filmkritiken "Kurzkommentare" nennt :shock:

Respekt, Salvatorschi, Respekt!
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
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Salvatore Baccaro
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Re: Gran Casino - Luis Bunuel (1947)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

buxtebrawler hat geschrieben:Jetzt weiß ich, warum Blap seine eigentlich auch schon ausführlichen Filmkritiken "Kurzkommentare" nennt :shock:

Respekt, Salvatorschi, Respekt!
Haha. Danke. ;-)

In seiner Autobiographie MEIN LETZTER SEUFZER, die ich in den letzten Tagen wie eine saftige Torte verschlungen habe und die ich hiermit jedem Interessierten wärmstens empfehlen möchte, schreibt Bunuel in Bezug auf GRAN CASINO übrigens folgendes:

"Für meinen ersten mexikanischen Film, Gran Casino, hatte Oscar Dancigers zwei große lateinamerikanische Stars engagiert, den außerordentlich populären Sänger Jorge Negrete, einen echten mexikanischen charro, der, eher er sich zu Tisch setzte, das benedicte sang und nie ohne seinen Reitlehrer auftrat, und die argentinische Sängerin Libertad Lamaraque. Es war also ein Musikfilm. Ich schlug dafür eine Geschichte von Michel Veber vor, die auf den Ölfeldern spielte.

Der Vorschlag wurde angenommen. Zum ersten Mal fuhr ich ins balneario von San José Purúa im Staat Michoacán, ein großes Kurhotel in einem phantastischen subtropischen Canon, wo ich mehr als zwanzig Filme schreiben sollte. Nicht zu Unrecht gilt dieser in üppigste Vegetation eingebettete Ort als ein Paradies. Autobusse bringen regelmäßig amerikanische Touristen her, die hier vierundzwanzig "traumhafte" Stunden verbringen. Alle nehmen zur selben Zeit dasselbe radioaktive Bad, trinken dasselbe Mineralwasser, gefolgt von demselben daiquiri und demselben Essen, und am nächsten Morgen fahren sie in aller Frühe wieder ab.

Seit Madrid, seit etwa fünzehn Jahren, hatte ich nicht mehr hinter einer Kamera gestanden. Wenn seine Geschichte auch bar jeden Interesses ist, technisch ist der Film, glaube ich, nicht allzu schlecht.

In der sehr melodramatischen Geschichte kommt Libertad aus Argentinien, um den Mörder ihres Bruders zu suchen. Sie verdächtigt zunächst Negrete, dann vertragen sich die Helden aber, und es kommt zur unvermeidlichen Liebesszene. Da konventionelle Liebesszenen mich zu Tode langweilen, bemühte ich mich, dieser einen Knacks zu versetzen.

Ich wies Negrete an, während der Szene nach einem Stöckchen zu greifen und es mechanisch in den Ölschmier zu seinen Füßen zu tauchen. Dann drehte ich eine Naheinstellung mit einer anderen Hand, die mit dem Stock im Schlamm rührt. Im Kino denkt man natürlich unweigerlich an etwas anderes als Öl.

Trotz der beiden berühmten Stars hatte der Film nur mäßigen Erfolg. Ich wurde "bestraft" und war zweieinhalb Jahre ohne Arbeit, bohrte in der Nase und starrte in die Luft. Wir lebten von dem Geld, das mir meine Mutter schickte."
Bunuel, Luis, Mein letzter Seufzer. Erinnerungen, Berlin 1988, S.275f.
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