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Darsteller(innen): Margot Robbie, Sebastian Stan, Allison Janney, Julianne Nicholson, Paul Walter Hauser, Bobby Cannavale, Bojana Novakovic, Caitlin Carver, Maizie Smith, Mckenna Grace, Suehyla El-Attar, Jason Davis, Mea Allen, Cory Chapman, Amy Fox, Cara Mantella, Joshua Mikel u. A.
Missbrauch, Druck und Schläge - diese Kombination machte Tonya Harding (Margot Robbie) schon früh die Kindheit zur Hölle, zum Eiskunstlauf getrieben von ihrer missgünstigen Mutter LaVona (Alison Janney). Tonya beweist Talent, kann aber ihrer White-Trash-Herkunft nie richtig entkommen. Ihre Flucht aus dem Elternhaus endet vor dem Altar mit dem kaum älteren Jeff Gillooly (Sebastian Stan), der sie jedoch genauso misshandelt, wie ihre unzufriedene Mutter.
Nur auf dem Eis beweist sie, trainiert von Diane (Julianne Nicholson), ihre Klasse, springt als erste Frau zwei dreifache Axel in einem Lauf. Doch Pech bei den Olympischen Spielen 1992 wirft sie zurück, sie wechselt den Trainer, kehrt wieder zu Diane zurück. Als sie für die Spiele 1994 eine neue Chance erhält, wird ihr ein Drohbrief zugestellt. Die Revanche, die Versendung von Drohbriefen an ihre ärgste Rivalin Nancy Kerrigan, geht jedoch nach hinten los, denn Jeff, der die Aktion in Auftrag gibt, bekommt die falschen Leute an die Hand: Kerrigan wird mit einer Eisenstange traktiert und ihr Knie geschädigt.
Schon bald explodiert die Geschichte in den Medien...
„Schwein bleibt Schwein, egal, wie man‘s rausputzt!“
Wir erinnern uns: Am 6. Januar 1994, also kurz vor der Winterolympiade in Lillehammer, wurde auf die US-amerikanische Eiskunstläuferin Nancy Kerrigan ein Anschlag verübt: Jemand schlug ihr gezielt mit einer Eisenstange aufs Knie, in der Hoffnung, dass sie die olympischen Spiele verletzungsbedingt nicht würde antreten können. Doch der Plan ging nicht auf, Kerrigan konnte trotzdem teilnehmen. Als Täter stellte sich Shane Stant heraus, der von seinem Onkel Derrick Smith angeheuert und bezahlt worden war. Smith hatte die Tat zusammen mit Bodyguard Shawn Eckhardt und Jeff Gillooly geplant – letzterer ist der Ex-Mann Tonya Hardings, Kerrigans größter Eiskunstlaufrivalin. Harding, die sich für die Olympiade qualifizierte, galt daraufhin als „Eishexe“ und war in aller Munde. Die Medien schlachteten diese Affäre aus und Hardings Ruf war bis auf Weiteres zerstört – wenngleich sie von den Anschlagsplanungen nichts gewusst haben wollte.
„Nancy wurde nur einmal geschlagen!“
Der australische Regisseur Craig Gillespie („Fright Night“-Remake) drehte mit „I, Tonya“ eine Sportlerinnen-Biographie über Tonya Harding, die mit Elementen aus Drama und satirischer Mockumentary arbeitet und damit einen so ungewöhnlichen wie erfrischenden Ansatz für diesen Stoff wählte, für den entweder ein Melodram oder, wenn aus Kerrigans Sicht erzählt, eine kämpferische Erfolgsgeschichte naheliegender gewesen wären. Der Film kam im Jahre 2017 in die Kinos und wurde zu einem großen, vielfach prämierten Erfolg.
„Ich bin nicht konventionell!“
Tonya Harding, zunächst von Maizie Smith („Stargirl“), dann von Mckenna Grace („Begabt – Die Gleichung eines Lebens“) und als erwachsene Frau schließlich von Margot Robbie („The Wolf of Wall Street“) verkörpert, wächst mit ihrer alleinerziehenden, tyrannischen Mutter LaVona Golden (Allison Janney, „American Beauty“) in Portland, Oregon innerhalb der gesellschaftlichen Unterschicht auf. LaVona erkennt das Eiskunstlauftalent ihrer Tochter und drillt sie zu einer Sportkarriere. Tatsächlich gelingt es der Trainerin Diane Rawlinson (Julianne Nicholson, „Conviction“), Tonyas Talent zu fördern, doch passt die proletarische, athletische Tonya nicht so recht in den von zierlichen Persönchen und Snobs geprägten Eiskunstlaufbetrieb. Und obwohl Tonya als erster Amerikanerin (und zweiter Frau überhaupt) der besonders anspruchsvolle dreifache Axel gelingt, steht sie stets im Schatten ihrer feingliedrigen Konkurrentin Nancy Kerrigan…
„Dumme fickt man – man heiratet sie nicht!“
Das Drehbuch, so heißt es, basiere auf Interviews, die mit den beteiligten Personen geführt worden seien – und diese widersprechen sich in ihren Aussagen durchaus. Regisseur Gillespie und seinem Team gelang das Kunststück, daraus trotzdem einen kohärenten Film zu formen und die Entscheidung, was man als glaubwürdig erachtet und was nicht, dem Publikum zu überlassen. Mit solchen Interviews sowie Schmalfilmaufnahmen beginnt dann auch der Film, womit er seinen Mockumentary-Charakter ausbildet. Die klassischen Spielfilmszenen setzen 40 Jahre früher ein und zeigen Tonya zunächst als vierjähriges Mädchen, das seinen ersten Wettkampf gewinnt, sowie das Unterschichtsmilieu, dem es entstammt – immer mal wieder unterbrochen von Interviewausschnitten. Die nächste Station der chronologischen Rekonstruktion Tonyas Eiskunstlaufkarriere zeigt sie als 15-Jährige, die nun aus dem Off zu kommentieren beginnt, aber auch die vierte Wand durchbricht (wie es im weiteren Verlauf auch andere Figuren tun werden) und direkt zu den Zuschauerinnen und Zuschauern spricht. Von ihrer Mutter und ihrem späteren Ehemann Jeff (Sebastian Stan, „Captain America: The First Avenger“) wird sie geschlagen und von der Jury wiederholt unfair bewertet.
„Trashy Tonya gehört nicht dazu!“
Das medial kolportierte Bild der „Eishexe“ bekommt Risse, man entwickelt Empathie für Tonya, die Jeff heiratet und erleben muss, wie ihre eigene Mutter sie zu sabotieren versucht, als sie sich von ihr loszusagen versucht. Als sie den dreifachen Axel springt und zur Nummer 1 der USA wird, kommt dies fast einem Skandal gleich. Mit Nancy Kerrigan war sie da noch befreundet. Privat liefert sie sich eine On/off-Beziehung zu Jeff. Bei der Olympiade 1992 geht alles schief, Tonya wird die Viertplatzierte hinter Nancy. Der nächste Streit mit Jeff führt zur Scheidung. Jeff bedroht sie mit einer Pistole und droht auch, sich umzubringen, Es kommt zur Prügelei, er schießt auf sie. Immer wieder Gewaltausbrüche, die sich durch Tonyas ziehen wie ein blutroter Faden. Als Olympia vorgezogen wird, trainiert ihre ehemalige Trainerin sie wieder. Doch erneut das alte Scheißspiel mit der Jury. Eines deren Mitglieder gibt sogar zu, dass Tonya nicht ins Image passt und deshalb schlecht bewertet wird.
„Ich wollte geliebt werden!“
Ihrer Mutter ist nie etwas gut genug, sie scheint sie nicht zu lieben, hat keinerlei Mitgefühl mit ihr. Und trotz allem kommt sie doch wieder mit Jeff zusammen. Sie erhält eine anonyme Morddrohung und kann nicht weitertrainieren. Der „Vorfall“ um Nancy Kerrigan wird dann ausschließlich aus Jeff Sicht erzählt, womit der Film einen Perspektivwechsel vornimmt. Angeblich hätten lediglich Drohbriefe versandt werden sollen. Jeffs tumber Kumpel Shawn (Paul Walter Hauser, „Kingdom“) soll dies beauftragt haben – ohne Jeffs und Tonyas Wissen. Er habe auch die Morddrohung an Tonya verschickt… Dessen Idiotie wird in Rückblenden ausführlich gezeigt; spätestens ab diesem Zeitpunkt wirkt der Film wie eine Groteske, derart stümperhaft wurde offenbar vorgegangen. Deutlich wird aber: Wäre Tonya nicht zu Jeff zurückgekehrt, wäre all dies nicht passiert. Die Ursache dafür ist wohl am ehesten bei ihrer Mutter zu suchen, die ihr diesen ungesunden Stil, Beziehungen zu führen, mitgegeben hat.
Der Film richtet im Anschluss seinen Fokus auf die unrühmliche Rolle der Massenmedien und inszeniert ein nervenaufreibendes Finale in Lillehammer mit Schnürsenkelproblemen. Vor Gericht bekommt Tonya ein unfaires Urteil reingewürgt, das verdächtig nach Klassenjustiz riecht. Im Abspann (zu Siouxsies „The Passenger“-Interpretation) bekommt man Bilder der echten Tonya beim Eiskunstlauf sowie authentische Aufnahmen der Interviewpartner zu sehen. Der mit hörenswerter Pop- und Rockmusik bin hin zu Hardrock und Heavy Metal unterlegte Film ist neben einer Mockumentary, einer Biographie und einem Sportfilm nicht zuletzt auch Milieustudie und Gesellschaftsporträt sowie gewissermaßen ein feministischer Beitrag, der Tonyas Ansehen wiederherstellt und sie zu verstehen hilft.
Hat man sich erst einmal auf „I, Tonya“ eingelassen, stehen die Chancen gut, dass er einen bis zum Ende packt und nicht mehr loslässt, da er zu keiner Sekunde langweilt und das Regiekonzept voll aufzugehen scheint. Riesigen Anteil daran haben die hervorragenden schauspielerischen Leistungen, allen voran Allison Janneys und Margot Robbies, vor der ich einmal mehr meinen Hut ziehe. Einer der besten Filme des Jahres 2017. 5,9 von 6 Punkten!
Oder, um im gängigen Schema zu bleiben: 8,5 von 10 dreifachen Axeln!
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)