Orinoko, nuevo mundo - Diego Rísquez (1984)

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Salvatore Baccaro
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Orinoko, nuevo mundo - Diego Rísquez (1984)

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Originaltitel: Orinoko, nuevo mundo

Produktionsland: Venezuela 1984

Regie: Diego Rísquez

Darsteller: Rolando Peña, Diego Rísquez, Alejandro Alcega, Hugo Márquez, Kosinegue, Blanca Baldó
Der Orinoco zählt sowohl zu den größten als auch zu den längsten Flüssen der Welt. In letzterer Kategorie belegt er mit seinen 3010 Kilometern den vierundzwanzigsten Platz, in ersterer mit einer Wassermenge von 35.000 m³/s sogar den insgesamt vierten. Zu einem Drittel verläuft der Orinoco gegenwärtig auf kolumbianischem Staatsgebiet, zu zwei Dritteln auf venezolanischem. Venezuela ist ebenfalls das Geburtsland des Experimentalfilmers Diego Rísquez, der dem Fluss und seiner wechselvollen Geschichte im Jahre 1984 mit ORINOKO, NUEVO MONDO ein derart überwältigendes visuelles Denkmal gesetzt hat, dass ich mich, der den ursprünglich auf Super 8 gedrehten und später auf 35mm transferierten Film kürzlich unverhofft auf der großen Leinwand habe sehen können, noch immer nicht ganz davon erholt habe.

Zunächst: Rísquez arbeitet komplett ohne Dialoge. Sein Film ist, was das gesprochene Wort betrifft, gänzlich stumm. Dies liegt, meine ich, wohl vor allem in der Perspektive begründet, die Rísquez bei seinem historischen Bilderbogen einnimmt, der von der präkolumbianischen Zeit Venezuelas bis zur europäischen Aufklärung reicht. Es ist nicht die Sichtweise der Europäer, die die Neue Welt erkunden und bereisen, jedoch auch nicht wirklich diejenige der indigenen Bevölkerung, für die durch das Auftauchen der ersten westlichen Seefahrer einschneidende und allbekannte Veränderungen beginnen. Am ehesten könnte man den Winkel, aus dem Rísquez seine Landesgeschichte betrachtet, einen externen, vermeintlich objektiven nennen. Einem Gott gleich beäugt er seine Figuren von oben herab, im weitesten Sinne unkritisch, ohne ihr Verhalten werten oder interpretieren zu wollen. Gleich zu Beginn wird das besonders deutlich, wenn im ersten Akt der Alltag der Orinoco-Indianer quasi-dokumentarisch von einer Kamera eingefangen wird, die wirkt, als sei sie zufällig, ohne großartigen Plan dahinter, in der Landschaft aufgestellt worden. Die Bilder, die sie liefert, stehen in keinem besonderen narrativen Zusammenhang. Es sind alltägliche Eindrücke, nicht mehr, nicht weniger. Ein Mann klettert einen Baum hinauf, um dessen Krone um einige Früchte zu erleichtern. Man geht handwerklichen Verrichtungen nach. Kinder spielen miteinander auf dem Dorfplatz. Schamanen ziehen sich Drogen durch Rohre in die Nasen. Nichts wird dabei kontextualisiert oder erklärt. Wir sind allein mit den Bildern, die uns keine intellektuellen Inhalte bieten, sondern vorrangig dafür da sind, eine bestimmte Stimmung heraufzubeschwören – und darin glänzend funktionieren, entgeht Rísquez doch mit diesem Ansatz völlig der Gefahr, das naturverbundene Dasein seiner indianischen Protagonisten in irgendeiner Form zu glorifizieren und das Venezuela vor der Ankunft Kolumbus‘ in irgendeiner Form zum Paradies zu stilisieren.

Insgesamt fünf Zeitebene habe ich in ORINOKO, NUEVO MONDO unterscheiden können: 1. das Dschungelstammesleben unberührt von europäischem Einfluss, 2. Christoph Kolumbus und die ersten weißen Siedler gelangen aufs amerikanische Festland, 3. darunter allen voran gewissenhafte Missionare, die die Eingeborenen mit Kreuz und Schwert zu bekehren versuchen, und von denen mancher als Leiche stromabwärts schwimmend endet, 4. Sir Walter Raleigh sucht nach der legendären goldenen Stadt, El Dorado, und kommt nie ans Ziel, und 5. Alexander von Humboldt vermisst den Orinoco, kartographiert Venezuela, katalogisiert all die exotischen Tiere, die ihm auf seiner Reise begegnen. Obwohl ORINOKO, NUEVO MONDO sich relativ chronologisch durch diese fünf großen Blöcke hindurcharbeitet, sind die Grenzen zwischen den einzelnen Episoden nichtsdestotrotz genauso fließend wie die zwischen den einzelnen Bildern. Rísquez scheut weder die Allegorie – einige Szenen scheinen ganz deutlich gleichnishaften Charakter zu besitzen, beispielweise der Tempel, den Raleigh mitten im Flusslauf entdeckt, und in dem mehrere Gestalten, lebenden Statuen gleich, gruppiert sind, die wohl allesamt für einen bestimmten Aspekt des lateinamerikanischen Kontinents stehen sollen – noch Ausflüge ins Phantastische – so darf Kolumbus in einer wunderhübschen Szenen eine leibhaftige, beschwanzte Meerjungfrau liebkosen. Er enthält sich weder eines zwar subtilen, dennoch aber recht irrwitzigen Humors – in einer Kriegsfeste stationierte Konquistadoren streicheln ihre schweren Kanonen, als ob es sich bei ihnen um die eigenen Geschlechtsteile handeln würde -, noch schreckt er davor zurück, den Konventionen des Kinos seine Gefolgschaft aufzukündigen – gerade die Montage von ORINOKO, NUEVO MONDO ist so sensationell wie ungewöhnlich, wirkt oftmals assoziativ, spielt bewusst mit der Erwartungshaltung des Publikums, und erinnert zuweilen, woran das extrem farbenfrohe Kleid der Bilder seinen Anteil hat, mit ihren jähen Brüchen und verwirrenden Verknüpfungen an einen schamanistischen Drogentrip.

Was zudem auffällt, ist: offenbar wurde ORINOKO, NUEVO MONDO ohne Ton gedreht, danach aber mit einer extern erstellten Tonspur versehen. Diese wiederum ist ein fiebriger Teppich aus manchmal passenden, manchmal unpassenden Geräuschen, ein Mixtape voller verrückter akustischer Ideen, angefangen von synthetischen Klangteppichen, die, gerade in Kombination mit den atemberaubenden Urwaldaufnahmen, auf die Werner-Herzog-Soundtracks von Popol Vuh verweisen, über typische Dschungelgeräusche wie Affengekreisch, Insektengezirpe und Wassergurgeln, bis hin zu Chorälen, archaischem Getrommel, avantgardistischer Elektronik und klassischer Klaviermusik. Permanent scheint Rísquez seine Sounds und seine Bilder hin und her zu schieben. Ab und zu gleichen sie sich kongruent einander an, zuweilen stoßen sie sich regelrecht ab, meistens sorgt der Umstand, dass das, was wir sehen, und das, was wir hören, nach menschlicher Logik wenig miteinander zu tun hat, für einen irritierenden Effekt, der die triphafte Sogwirkung dieses Meisterwerks nur noch verstärkt. Selten einmal schlägt Rísquez über die Stränge und wird nahezu albern, wenn seine Konquistadoren beispielweise in einer Szene offenbar die Perlen erbrechen, die ihnen von den Eingeborenen als Gastgeschenk überreicht worden sind, und dazu überlautes Röcheln und Rülpsen aus dem Off ertönt.

Die größte Stärke dieses papageienbunten Kaleidoskops ist indes, meiner Meinung nach, die Tatsache, dass Rísquez sein Material lediglich in ästhetischer Weise formt, und ihm ansonsten keine Ideologie, keine Botschaft von außen aufzwängt. ORINOKO, NUEVO MONDO idealisiert niemanden, verteufelt niemanden. Er zeigt das Zusammentreffen unterschiedlicher Kulturen von einer zurückgenommenen, semi-naturalistischen Warte aus, die nichts beklagt, nichts bejaht. Das Beklagen und Bejahen, dafür muss man selbst Sorge tragen, d.h. etwas von sich selbst in die Bilder hineinlegen, falls man sie denn unbedingt verstehen möchte. Zugleich aber ist der Film keine trocken-analytische Studie, der es um das Darstellen nackter Fakten ginge. ORINOKO, NUEVO MONDO schimmert in seinem Vermischen von Mythos und Historie derart voller Wunder und Emotionen, dass er einen wie der Orinco selbst verschlingen kann, wenn man sich seinen Bildern rücksichtslos öffnet. Alexander von Humboldt zeichnet einen Papagei, der in einem schwebenden Goldrahmen sitzt. Sir Walter Raleigh führt einen kleinen Jungen mit sich, der ganz aus Gold zu sein scheint. Christoph Kolumbus liebkost eine Meerjungfrau. Was für ein Film!
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Salvatore Baccaro
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Re: Orinoko, nuevo mundo - Diego Rísquez (1984)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Einen ersten Eindruck dieses außerordentlichen Films kann man übrigens hier gewinnen:

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