Sodom - Luther Price (1989)

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Salvatore Baccaro
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Sodom - Luther Price (1989)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Sodom

Produktionsland: USA 1989

Regie: Luther Price


Endlich wieder Hochschulkino...

Von denen, die sich einfinden, ist die Hälfte meinem Ruf gefolgt. Offizieller Hauptfilm soll nämlich FLAMING CREATURES von Jack Smith aus dem Jahre 1963 sein, jener Klassiker des (queeren) Underground-Kinos, der aufgrund einer öffentlichen Vorführung 1964 zu, wie gerne kolportiert wird, einem der größten Skandale der Kinogeschichte geführt haben soll: Es folgen Verhaftungen und Verbote - und der Nimbus, eines wahrhaft transgressiven Werks, das heute noch Geschlechterrollen, Sehgewohnheiten und generell die gesamte Mainstreamkultur herausfordert. Dies würde wahrscheinlich auch tatsächlich geschehen - wenn man den Film denn in einer Fassung zeigen würde, die für die große Leinwand gedacht ist. Was wir stattdessen serviert bekommen, ist ein völlig verpixeltes WebRip, bei dem man gerade in den Close-Ups Mühe hat, überhaupt zu erkennen: Ist das gerade ein Lampe, die ins Bild schwingt, oder ein halb erigierter Penis, oder vielleicht ein Stück Textil? Ich bin mehrfach kurz davor, den Sesselplatz in der ersten Reihe zu räumen, und mir das Schneegestöber nicht länger anzutun, von dem ich mir bloß deshalb zusammenreimen kann, was da gerade vor sich geht, weil ich FLAMING CREATURES in der Vergangenheit schon mehrfach gesehen habe.

Mein Glück, dass ich sitzengeblieben bin, denn mit dem, was danach folgt, hätte ich zu diesem Zeitpunkt tatsächlich nicht mehr gerechnet - ein mir zuvor vollkommen unbekannter Found-Footage-Film namens SODOM, kompiliert von einem Experimentalfilmer, dessen Name bei mir bislang ebenfalls keine Glöckchen klingen ließ: Luther Price, geboren 1962 in Massachusetts, gestorben bereits 2020 an einem Herzinfarkt. Der Film wurde, wie es heißt, kürzlich erst frisch restauriert, und erstrahlt vielleicht auch deshalb in einer blendenden Pracht, weil man sich zuvor fast eine Dreiviertelstunde lang durch pures Gegriesel kämpfen musste.

Auf der IMDB kann man folgende Kurzbeschreibung zu dem knapp 20minütigen Werk lesen: "Excerpts from gay porn films discarded by Boston X rated bookstores are combined with scenes from biblical epics and accompanied by Gregorian chant, played backwards." Das trifft es, meiner Meinung nach, durchaus akkurat, vermittelt zugleich aber doch keinen wirklichen Eindruck davon, was der Film mit einem MACHT, wenn man mit ihm in einem dunklen Raum auf der Großleinwand konfrontiert wird: Offenbar hat Price sich Rollen diverser Sußer8-Schwulenpornos besorgt, die, unter anderem, kollektive Analpenetrationen zeigen, Großaufnahmen von Ejakulationen auf Steißbeine, einen Jüngling, der - famoserweise! - derart gelenkig ist, dass er sich selbst einen Blow Job angedeihen lassen kann usw. Diese montiert Price sodann zu einem visuellen Fiebertraum, der wirkt, als solle die Leidenschaft, die bei den einzelnen Akten im Spiel ist, auf uns als Zuschauende übergreifen: Rasch wechselt die Montage zwischen den einzelnen Akten hin und her, (die, vermute ich, in den Ursprungsfilmen wesentlich ausführlicher illustriert worden sind), was zwangsläufig einen Effekt der Desorientierung erzielt, ähnlich dem, wenn einen die eigene Lust packt, und man, im wahrsten Wortsinne, den Verstand verliert. Höhepunkte (neben den Samenergüssen) sind Szenen, in denen Price die gefundenen Balz-Bilder kaleidoskopartig anordnet, sie überblendet, sodass sie sich, als würden sie selbst miteinander kopulieren, gegenseitig durchdringen, sie in Bewegung setzt wie Karusselle: Das Hirn fickende Materialkino par excellence!

Bei einer solchen bloßen Dekonstruktion einer konventionellen Porno-Ästhetik bleibt der Regisseur aber freilich noch nicht stehen: Zwischen die genannten Explizitäten geschnitten sind rätselhafte, meist bloß sekundenbruchteillange Aufnahmen, die anmuten wie religiöse Massenprozessionen, denn Menschenmengen mit Fackeln scheinen die Nacht zu durchziehen. Wesentlich verstörender sind indes ebenso kurze Einsprengsel, die für mich ausschauen, als würden dort (während der Sexualakte?) Wunden in Körper geschlagen werden, und das helle Blut herausträufeln. Beides lässt sich natürlich leicht mit der Tonspur in Einklang bringen, die, wie die IMDB ja schon verrät, ausnahmslos aus gregorianischen Mönchsgesängen besteht, (dass diese rückwärts abgespielt worden sein sollen, kann ich indes nicht bestätigen: das "Halleluja" habe ich jeweils klar und deutlich vernommen). Zusammen mit dem Filmtitel SODOM fächert sich dadurch natürlich ein breiter Interpretationsspielraum auf: Der biblische Ort Sodom, der, zusammen mit Nachbarstadt Gomorrha, vom alttestamentarischen Gott aufgrund der Sündhaftigkeit ihrer Bewohner dem Erdboden gleichgemacht wurde, als Gegenmodell zum (zumindest offiziell) züchtigen Katholizismus; Sodom als das Untergründige der offiziösen Religion, das, was unter den Tisch gekehrt, unterdrückt, nach außen hin abgekanzelt, im Geheimen aber schamlos ausagiert wird, und das Price dem Humus entreißt und uns explizit vor Augen stellt; Sodom mit seinen Exzessen als Blaupause für eine Art neuen Glauben, der die freie hedonistische Liebe anstelle eines jede vermeintliche sexuelle Entgleisung mit drakonischen Strafen überhäufenden Dogmas setzt. Ästhetisch ist das alles übrigens ein Genuss, erinnert mit den betonten Primärfarben an Avantgarde-Klassiker von Stan Brakhage oder Carolee Schneemann - oder aber, wenn man Prices Analogien zum Christentum folgen möchte, an psychedelische Buntglasfenster in Gotteshäusern, und damit, wenn man so will, an eine primitive Form der Kinematographie selbst.

In jedem Fall besitzt SODOM durch seine wahrhaft geile Schnitttechnik, durch die sich monoton entspinnenden Penetrationsakte, durch die noch viel eintönigeren Klosterchoräle, durch den intensiven, enthemmten, gleichsam animalischen Bildinhalt einen ausgesprochen ritualistischen Charakter, der die Rache eines zornigen Gottes geradewegs provoziert: Im Grunde hätte nach Filmende das Kino über uns allen zusammenstürzen müssen! Ich bin jedenfalls versöhnt mit der respektlosen Art und Weise, wie FLAMING CREATURES an diesem Abend präsentiert wurde, und um eine rauschhafte, völlig unerwartete und sinneserweiternde Sichtungserfahrung reicher!

Den Film kann man sich übrigens in eben jener restaurierten Fassung - (diese Farben, ha!) - gemeinfrei auf Lightcone besehen:

https://lightcone.org/en/film-1177-sodom
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