Produktionsland: USA 1999
Regie: Sharon Lockhart
Inzwischen aber schreiben wir bereits 1999 und die US-amerikanische Künstler Sharon Lockhart hat eine ähnliche fixe, allerdings leichter umsetzbare Idee wie einst Fitzcarraldo: Im Teatro Amazonas soll eine Klangperformance der befreundeten Künstlerin Becky Allen aufgeführt werden. Deren extra für Lockharts Veranstaltung konzipierte Komposition besteht im Grunde einzig aus einem nicht auf der Bühne sichtbaren Chor, dessen Mitglieder immer nur abwechselnd eine bestimmte Note intonieren. Das Ganze ist so angelegt, dass die Stimmen der Sänger und Sängerinnen stetig leiser werden, sodass mit der Zeit die natürlichen Geräusche des Raumes sie sukzessive überlagern. Folgerichtig endet Allens Stück mit einer absoluten Stille, die Platz macht für das Husten, Stuhlknarren und Atmen im Auditorium. Mit dem Auditorium bzw. dem Publikum hat es eine weitere besondere Bewandtnis: Lockhart soll jeden Zuschauer bzw. Zuhörer der Performance persönlich auf den Straßen von Manaus aufgegabelt haben. Es handelt sich um ein gemischtes Publikum aller in Brasilien verfügbaren Sozialschichten, Rassen und Altersklassen, und zudem um eins, das scheinbar vor Beginn der Veranstaltung nicht darüber aufgeklärt worden ist, was es dort nun eigentlich erwartet. Die Dritte im Bunde ist die Kamera, die Lockhart so installiert hat, dass sie versteckt von der Bühne aus direkt in den Zuschauerraum des Opernhauses hineinfilmt. Dadurch sehen wir die etwa dreißig Minuten, die Allens Stück dauert, in einer einzigen, ungebrochenen Einstellung nichts weiter als das, was sich in den Zuschauerrängen abspielt. Zu der akustischen Komponente, bei der der Chor mehr und mehr hinter den von der Räumlichkeit und den in ihr befindlichen Menschen produzierten Klangwelten verschwindet, gesellt sich damit eine visuelle Komponente, bei der unser Auge in aller Ruhe die einzelnen Gesichter im Publikum abklappern kann. Dieser Blick ins Auditorium hat etwas Dokumentarisches, etwas Ethnographisches, hat viel von einer sich minimal bewegenden Photographie, und ist vor allem radikal in dem, dass er zeigt, was sonst überhaupt nicht gezeigt wird: Die anonyme Masse, die bei jeder Theater- oder Kinovorstellung im Schwarz jenseits der Bretter oder Leinwände, die die Welt bedeuten, verschwinden. Mitzugehen auf Lockharts Reise ins aufmerksame Schauen kann anstrengend sein, blöd, enervierend, aber auch meditativ, erhellend, Diskurse anstoßen über die Hierarchie von Blicken und Perspektiven in unserer Gesellschaft, oder darüber, wie heilsam es manchmal vielleicht sein kann, sich einfach mal umzudrehen und einen Blick über die Schulter zu werfen. Die letzten acht, neun Minuten von TEATRO AMAZONAS sind übrigens reiner Abspann. Lockhart hat dort jede einzelne Person aufgelistet, die im Publikum gesessen hat. Ein Akt der Demokratisierung, könnte man denken, über den es sich, meine ich, ebenfalls nachzudenken lohnt, denn was ist letztlich wichtiger: Das Anschauende oder das Angeschaute?
Interessant ist noch, was für einen Kult Sharon Lockhart um TEATRO AMAZONAS treibt, und wie das dem Film die Aura von etwas kaum Sichtbarem verpasst. Ganz bestimmte Anforderungen müssen nämlich erfüllt sein, dass Lockhart überhaupt die Erlaubnis einer öffentlichen Aufführung ihres Films gibt. TEATRO AMAZONAS soll in einem „richtigen“ Kino laufen, und zwar im „richtigen“ Format von 35mm. Jedwede digitale Projektion ist strengstens untersagt. Höchstens Ausschnitte werden freigegeben, und selbst die erst nach langem Insistieren. Einen Grund hierfür kann man vielleicht erahnen, wenn man sich die nichtsdestotrotz im Netz auf Ubuweb verfügbare Fassung betrachtet, die derart komprimiert daherkommt, dass es einen schon regelrecht nach der 35mm-Version dürstet, bei der jedes einzelne Gesicht im Auditorium mehr ist als eine unkonkrete Ansammlung von Pixeln.