Die Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb - Sogo Ishii (1984)
Moderator: jogiwan
Die Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb - Sogo Ishii (1984)
DIE FAMILIE MIT DEM UMGEKEHRTEN DÜSENANTRIEB („Gyakufunsha Kazoku“, Japan 1984) R: Sogo Ishii
Die Sippe Kobayashi ist auf den ersten Blick eine völlig normale japanische Familie. Vater Katsuhiko (Katsuya Kobayashi) ist ein strebsamer Büroangestellter, Mutter Saeko (Mitsuko Baisho) eine gute Hausfrau. Der Sohnemann Masaki (Yoshiki Arizono) büffelt fleißig für seine Prüfungen, Töchterchen Erika (Youki Kudoh) träumt von einer Karriere als Sängerin oder Catcherin. Endlich hat die Familie sich den Traum vom schmucken Eigenheim erfüllt und ist nach langer Zeit des Sparens in ein gutbürgerliches Reihenhaus in einer ruhigen Vorstadtsiedlung gezogen. Dann häufen sich die Katastrophen: Termiten nagen an den Grundmauern des Hauses und der exzentrische Großvater Yasakune (Hitoshi Ueki) kommt auf Besuch – ohne Absichten, wieder abzureisen. Die Familie ist alles andere als glücklich über den ungebetenen Gast, aber vor die Tür setzen will oder kann man ihn auch nicht ohne weiteres. Und ihn in der Hundehütte einzuquartieren, wäre vielleicht doch etwas unmenschlich. Da hat das gebeutelte Sippenoberhaupt den rettenden Einfall: Katsuhiko will sein neues Eigenheim unterkellern, um dem Großvater ein eigenes Zimmer zu bauen. Flugs wird, zum maßlosen Entsetzen der übrigen Familienmitglieder, per Presslufthammer mitten im Wohnzimmer eine riesige Grube ausgehoben. Obendrein macht Katsuhiko sich ernsthafte Sorgen um seine Familie, bei der er schon seit geraumer Zeit erste Anzeichen von Geisteskrankheit festzustellen glaubt.
Nervenzusammenbrüche, Hysterie und Chaos greifen unaufhaltsam um sich…
Der Ausdruck „umgekehrter Düsenantrieb“ ist in Japan zu einem Synonym für plötzlich eintretenden Wahnsinn geworden, für eine unkontrolliert auftretende Neurose, wie sie in anonymen Massengesellschaften häufig vorkommt. Geprägt wurde er durch ein katastrophales Ereignis, als der Pilot einer vollbesetzten Passagiermaschine plötzlich die Triebwerke auf Schubumkehr schaltete und das Flugzeug dadurch zum Absturz brachte.
In Sogo Ishiis Kultfilm GYAKUFUNSHA KAZOKU, so der Originaltitel, ist das Wortspiel Programm. Ishii ist eine bissige Attacke auf die kleinste Zelle des Systems gelungen: die heilige Institution der Familie. Auf genüsslich-sadistische Weise demontiert er die scheinbar heile Welt, bis alles in einer völlig überspitzen, chaotischen und hysterischen Groteske eskaliert.
In unserer westlichen Gesellschaft und Kultur lässt es sich weniger nachvollziehen, aber in Japan war Ishiis sarkastische Farce ein gewagter Frontalangriff auf die starren Wertevorstellungen des Systems. Bis heute gilt er als ein Wegbereiter für ähnlich gelagerte subversive Werke, wie etwa Takashi Miikes drastisch überspitzte Sozialfabel VISITOR Q oder Yukihiko Tsutsumis rabenschwarze Wohngemeinschafts-Sezierung 2LDK. Nebenbei verteilt Ishii nach allen Seiten zahlreiche garstige Seitenhiebe auf die Konsumgesellschaft und den entmenschten Kapitalismus. Der „Japanische Traum“ scheitert genau wie der amerikanische und mutiert zum amoklaufenden Nachtmahr.
DIE FAMILIE MIT DEM UMGEKEHRTEN DÜSENANTRIEB zerpflückt auf genüsslich-hysterische Weise die Neurosen einer Robotergemeinschaft, in dem der einzelne perfekt funktionieren muss und die Familie letztendlich immer ein Spiegel des Ganzen zu sein hat. Die anarchische Lust, mit der der Film dabei zu Werke geht und fortlaufend Tabus bricht, ist eine pure Freude. Kenner der japanischen Kultur werden ihren sadistischen Spaß daran haben, mitzuerleben, wie auch die letzte heilige Kuh geschlachtet und geschändet wird. Unter der steifen und formellen Fassade der immerfort lächelnden Japaner, so führt der Film uns vor, brodelt der taumelnde Irrsinn. Es bedarf lediglich einer Lappalie (in diesem Fall: Termiten und der Besuch des Großvaters), um zur Eskalation und zum Zusammenbruch zu führen. Und wenn es dann soweit ist, fallen sämtliche Schranken, die aufgestauten Emotionen kulminieren in wüsten Exzessen. Kollektiver Selbstmord, Inzest, Karaoke, Schulmädchenporno, Schlüpferkult, materielle und seelische Zerstörung (siehe auch: Atombombe), Bondage, Kriegsverbrechen – sämtliche japanischen Traumata werden durch den Fleischwolf gedreht. Am Ende steht die kathartische Reinigung in der Auflösung aller Schranken. Erlösung durch den Presslusthammer.
Auch und besonders auf filmischer und formaler Ebene kann man DIE FAMILIE MIT DEM UMGEKEHRTEN DÜSENANTRIEB als avantgardistisch bezeichnen. Ishii greift Techniken vorweg, wie sie später exzessiv von Takashi Miike oder Shun’ya Tsukamoto stilisiert wurden – man beachte die Schnitte, die Kameraperspektiven und –fahrten, den Einsatz von Verfremdungen. So wurde z.B. der heute inflationär verwendete Effekt von Vorwärtszoom und Rückwärtsfahrt um die Desorientierung und Zerrissenheit des Protagonisten zu symbolisieren, hier zum ersten Mal im japanischen Film eingesetzt.
Eine absolute Bank ist die Schauspielerriege, die sich in Höchstform präsentiert. Der Film steht und fällt mit den grandiosen Leistungen der fünf Hauptdarsteller. Katsuya Kobayashi (REVOLVER) als gebeuteltes Familienoberhaupt, dem alles zu entgleiten droht, spielt göttlich auf – schon allein seine unübertroffene Mimik ist zum brüllen. Wunderbar ist auch Mitsuko Baiasho (VENGEANCE IS MINE) als Mutter Saeko, eine der schönsten und facettenreichsten Schauspielerinnen Japans. Als grandiose Besetzung muss man auch Yoshiki Arizono (THE HAPPINESS OF THE KATAKURIS) als soziopathischen Sohnemann bezeichnen, oder die damals noch sehr junge Youki Kudoh (DIE GEISHA) als nervolabiles Töcherlein. Der totale Rocker ist natürlich Samuraifilm-Veteran Hitoshi Ueki (RAN) als hyperaktiver Großvater Yasakune – ein besetzungstechnischer Geniestreich.
Regisseur Sogo Ishii schrieb bereits mit seinem wüsten Punkfilm BURST CITY (japanische) Filmgeschichte, ein Werk, das hierzulande leider weitgehend unbeachtet blieb. Populärer ist ELECTRIC DRAGON 80.000 V, der in Deutschland gemeinsam mit TETSUO bei Rapid Eye Movies auf DVD erschienen ist, sowie sein modernes Samurai-Popepos GOJOE. Umso erfreulicher, dass DIE FAMILIE MIT DEM UMGEKEHRTEN DÜSENANTRIEB nach diversen TV-Ausstrahlungen endlich von Asian Film Network auf DVD herausgebracht wurde. Auf Video erschien er übrigens damals bei Atlas/VCL unter dem Titel DIE TOTAL VERRÜCKTE FAMILIE und einem Cover, das an ein Splatter/Slasher-Movie denken ließ.
Ein wundervoller, einzigartiger und völlig respektloser Anarcho-Streifen, der nicht nur jedem Japanophilen ans Herz zu legen ist. 9/10
Die Sippe Kobayashi ist auf den ersten Blick eine völlig normale japanische Familie. Vater Katsuhiko (Katsuya Kobayashi) ist ein strebsamer Büroangestellter, Mutter Saeko (Mitsuko Baisho) eine gute Hausfrau. Der Sohnemann Masaki (Yoshiki Arizono) büffelt fleißig für seine Prüfungen, Töchterchen Erika (Youki Kudoh) träumt von einer Karriere als Sängerin oder Catcherin. Endlich hat die Familie sich den Traum vom schmucken Eigenheim erfüllt und ist nach langer Zeit des Sparens in ein gutbürgerliches Reihenhaus in einer ruhigen Vorstadtsiedlung gezogen. Dann häufen sich die Katastrophen: Termiten nagen an den Grundmauern des Hauses und der exzentrische Großvater Yasakune (Hitoshi Ueki) kommt auf Besuch – ohne Absichten, wieder abzureisen. Die Familie ist alles andere als glücklich über den ungebetenen Gast, aber vor die Tür setzen will oder kann man ihn auch nicht ohne weiteres. Und ihn in der Hundehütte einzuquartieren, wäre vielleicht doch etwas unmenschlich. Da hat das gebeutelte Sippenoberhaupt den rettenden Einfall: Katsuhiko will sein neues Eigenheim unterkellern, um dem Großvater ein eigenes Zimmer zu bauen. Flugs wird, zum maßlosen Entsetzen der übrigen Familienmitglieder, per Presslufthammer mitten im Wohnzimmer eine riesige Grube ausgehoben. Obendrein macht Katsuhiko sich ernsthafte Sorgen um seine Familie, bei der er schon seit geraumer Zeit erste Anzeichen von Geisteskrankheit festzustellen glaubt.
Nervenzusammenbrüche, Hysterie und Chaos greifen unaufhaltsam um sich…
Der Ausdruck „umgekehrter Düsenantrieb“ ist in Japan zu einem Synonym für plötzlich eintretenden Wahnsinn geworden, für eine unkontrolliert auftretende Neurose, wie sie in anonymen Massengesellschaften häufig vorkommt. Geprägt wurde er durch ein katastrophales Ereignis, als der Pilot einer vollbesetzten Passagiermaschine plötzlich die Triebwerke auf Schubumkehr schaltete und das Flugzeug dadurch zum Absturz brachte.
In Sogo Ishiis Kultfilm GYAKUFUNSHA KAZOKU, so der Originaltitel, ist das Wortspiel Programm. Ishii ist eine bissige Attacke auf die kleinste Zelle des Systems gelungen: die heilige Institution der Familie. Auf genüsslich-sadistische Weise demontiert er die scheinbar heile Welt, bis alles in einer völlig überspitzen, chaotischen und hysterischen Groteske eskaliert.
In unserer westlichen Gesellschaft und Kultur lässt es sich weniger nachvollziehen, aber in Japan war Ishiis sarkastische Farce ein gewagter Frontalangriff auf die starren Wertevorstellungen des Systems. Bis heute gilt er als ein Wegbereiter für ähnlich gelagerte subversive Werke, wie etwa Takashi Miikes drastisch überspitzte Sozialfabel VISITOR Q oder Yukihiko Tsutsumis rabenschwarze Wohngemeinschafts-Sezierung 2LDK. Nebenbei verteilt Ishii nach allen Seiten zahlreiche garstige Seitenhiebe auf die Konsumgesellschaft und den entmenschten Kapitalismus. Der „Japanische Traum“ scheitert genau wie der amerikanische und mutiert zum amoklaufenden Nachtmahr.
DIE FAMILIE MIT DEM UMGEKEHRTEN DÜSENANTRIEB zerpflückt auf genüsslich-hysterische Weise die Neurosen einer Robotergemeinschaft, in dem der einzelne perfekt funktionieren muss und die Familie letztendlich immer ein Spiegel des Ganzen zu sein hat. Die anarchische Lust, mit der der Film dabei zu Werke geht und fortlaufend Tabus bricht, ist eine pure Freude. Kenner der japanischen Kultur werden ihren sadistischen Spaß daran haben, mitzuerleben, wie auch die letzte heilige Kuh geschlachtet und geschändet wird. Unter der steifen und formellen Fassade der immerfort lächelnden Japaner, so führt der Film uns vor, brodelt der taumelnde Irrsinn. Es bedarf lediglich einer Lappalie (in diesem Fall: Termiten und der Besuch des Großvaters), um zur Eskalation und zum Zusammenbruch zu führen. Und wenn es dann soweit ist, fallen sämtliche Schranken, die aufgestauten Emotionen kulminieren in wüsten Exzessen. Kollektiver Selbstmord, Inzest, Karaoke, Schulmädchenporno, Schlüpferkult, materielle und seelische Zerstörung (siehe auch: Atombombe), Bondage, Kriegsverbrechen – sämtliche japanischen Traumata werden durch den Fleischwolf gedreht. Am Ende steht die kathartische Reinigung in der Auflösung aller Schranken. Erlösung durch den Presslusthammer.
Auch und besonders auf filmischer und formaler Ebene kann man DIE FAMILIE MIT DEM UMGEKEHRTEN DÜSENANTRIEB als avantgardistisch bezeichnen. Ishii greift Techniken vorweg, wie sie später exzessiv von Takashi Miike oder Shun’ya Tsukamoto stilisiert wurden – man beachte die Schnitte, die Kameraperspektiven und –fahrten, den Einsatz von Verfremdungen. So wurde z.B. der heute inflationär verwendete Effekt von Vorwärtszoom und Rückwärtsfahrt um die Desorientierung und Zerrissenheit des Protagonisten zu symbolisieren, hier zum ersten Mal im japanischen Film eingesetzt.
Eine absolute Bank ist die Schauspielerriege, die sich in Höchstform präsentiert. Der Film steht und fällt mit den grandiosen Leistungen der fünf Hauptdarsteller. Katsuya Kobayashi (REVOLVER) als gebeuteltes Familienoberhaupt, dem alles zu entgleiten droht, spielt göttlich auf – schon allein seine unübertroffene Mimik ist zum brüllen. Wunderbar ist auch Mitsuko Baiasho (VENGEANCE IS MINE) als Mutter Saeko, eine der schönsten und facettenreichsten Schauspielerinnen Japans. Als grandiose Besetzung muss man auch Yoshiki Arizono (THE HAPPINESS OF THE KATAKURIS) als soziopathischen Sohnemann bezeichnen, oder die damals noch sehr junge Youki Kudoh (DIE GEISHA) als nervolabiles Töcherlein. Der totale Rocker ist natürlich Samuraifilm-Veteran Hitoshi Ueki (RAN) als hyperaktiver Großvater Yasakune – ein besetzungstechnischer Geniestreich.
Regisseur Sogo Ishii schrieb bereits mit seinem wüsten Punkfilm BURST CITY (japanische) Filmgeschichte, ein Werk, das hierzulande leider weitgehend unbeachtet blieb. Populärer ist ELECTRIC DRAGON 80.000 V, der in Deutschland gemeinsam mit TETSUO bei Rapid Eye Movies auf DVD erschienen ist, sowie sein modernes Samurai-Popepos GOJOE. Umso erfreulicher, dass DIE FAMILIE MIT DEM UMGEKEHRTEN DÜSENANTRIEB nach diversen TV-Ausstrahlungen endlich von Asian Film Network auf DVD herausgebracht wurde. Auf Video erschien er übrigens damals bei Atlas/VCL unter dem Titel DIE TOTAL VERRÜCKTE FAMILIE und einem Cover, das an ein Splatter/Slasher-Movie denken ließ.
Ein wundervoller, einzigartiger und völlig respektloser Anarcho-Streifen, der nicht nur jedem Japanophilen ans Herz zu legen ist. 9/10
"Wir raten ab!" - Der katholische Filmdienst
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http://www.filmclub-bali.de.vu
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Re: Die Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb - Sogo Ishii
hach, der liegt auch schon seit ewigen Zeiten ungesichtet bei mir herum - ist wohl an der Zeit, das mal zu ändern...
it´s fun to stay at the YMCA!!!
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Re: Die Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb - Sogo Ishii
Ist mutmaßlich am 31.10.2024 bei Rapid Eyes Movies auf Blu-ray erschienen:
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Diese Filme sind züchisch krank!