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Originaltitel: Einfach machen - She-Punks von 1977 bis heute
Herstellungsland: Schweiz / Deutschland (2024)
Regie: Reto Caduff
Mitwirkende: Gudrun Gut, Beate Bartel, Bettina Köster, Sara Schär, Klaudia Schifferle, Madlaina Peer, Martina Weith, Bettina Flörchinger, Sandy Black, Carmen Knoebel, Elisabeth Recker u. A.
Punk ist ein Versprechen – von Rebellion und Selbstermächtigung! Als er Ende der 1970er Jahre von England und den USA aus die ganze Welt erobert, braucht es plötzlich auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz weder Ausbildung noch Perfektion, um sich musikalisch auszudrücken. „Nicht labern, machen!“ ist das Motto. Was zählt, ist die Idee und der Mut, sich auf eine Bühne zu stellen. Und das gilt ganz besonders für die Frauen der Szene: In Düsseldorf gründen sich Östro 430, in West-Berlin Mania D, später Malaria!, und in Zürich Kleenex, später LiLiput. Ihre Vorbilder stammen aus England und heißen X-Ray Spex, The Slits, The Raincoats oder Siouxsie Sioux. Es entstehen Songs über weibliche Rollenklischees und Spießertum, über Machos und dogmatische Feministinnen. Es geht um weibliches Begehren und sexuelle Selbstbestimmung. Und immer auch um das Erobern von Freiräumen – innerhalb der männerdominierten Punkszene, aber auch gesamtgesellschaftlich.
„Einfach machen! She-Punks von 1977 bis heute“ porträtiert Künstlerinnen, die 40 Jahre später immer noch oder wieder zusammen auf der Bühne stehen. Als Pionierinnen des deutschsprachigen She-Punk teilen Gudrun Gut, Beate Bartel, Bettina Köster, Sara Schär, Klaudia Schifferle, Martina Weith und Bettina Flörchinger, ihre Erfahrungen und Geschichten. Trotz des unterschiedlichen Sounds der Bands und ohne es damals zu wissen, waren sie Teil einer weiblichen Revolution in der Musikindustrie, die nachfolgende Künstlerinnen nachhaltig geprägt hat. Ein Film über Punk aus weiblicher Perspektive, Feminismus mit Gitarrenriff und das unvergleichliche Lebensgefühl der späten 70er und frühen 80er Jahre.
Der schweizerische Dokumentarfilmer Reto Caduff („Krokus – As Long as We Live“), der sich mit Vorliebe musikalischen Themen widmet, übernahm dieses Filmprojekt von Drehbuchautorin Christine Franz („Bunch of Kunst“), die ursprünglich auch Regie führte, aufgrund künstlerischer Differenzen aber ausschied. Was genau vorgefallen ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Das Ergebnis scheinen indes gleich zwei Filme zu sein, die sich weiblich besetzten frühen Punkbands widmen: Franz‘ „Punk Girls. Die weibliche Geschichte des britischen Punk“, den ich noch nicht gesehen habe, und eben Caduffs „Einfach machen! She-Punks von 1977 bis heute“, der am Tag der Arbeit 2025 seinen Kinostart hatte.
Im Mittelpunkt des Films stehen drei Bands bzw. Szenen: ÖSTRO 430 aus ehemals Düsseldorf, seit der Reunion aus Hamburg, MANIA D bzw. die aus ihnen mithervorgegangenen MALARIA! aus West-Berlin und der Züricher Klüngel um Protagonistinnen der Kapellen KLEENEX, LILIPUT und TNT („Züri brännt“) sowie, aktuell: ONETWOTHREE, die sich aus Mitgliedern der genannten Bands zusammensetzt. Darüber hinaus kommen unter anderem die Betreiberin des legendären Düsseldorfer Szenetreffs „Ratinger Hof“, Carmen Knoebel, sowie „Monogam Records“-Labelchefin Elisabeth Recker zu Wort. Es dreht sich also vornehmlich um die Zeit Ende der 1970er bis maximal Mitte der 1980er vorm großen Zeitsprung in die Gegenwart.
Cadoff beschränkt sich demnach auf den deutschsprachigen Raum und erhebt auch für diesen keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Man bekommt dennoch viel von dem geboten, was man sich von einem solchen Film erhofft: Eine unterhaltsame, auch in der Postproduktion stilistisch auf punkig-rau getrimmte Collage aus historischen und kultigen Originalaufnahmen musikalischer und audiovisueller Natur inklusive Ausschnitten aus Fernsehauftritten. Diese vermittelt ein Gefühl für die damalige Zeit – nicht nur in Bezug auf das gesellschaftliche Frauenbild –, das Wirken, die vom DIY-Prinzip geprägte, nicht nur in geschlechtlicher Hinsicht emanzipatorische Herangehensweise, den Anspruch und das Selbstverständnis der Künstlerinnen sowie ihre Strahlkraft auf nachziehende Punks und Artverwandte. So begleitet man die Bands jeweils ungefähr bis zur (ersten) Auflösung, ergänzt um nicht minder interessante aktuelle Interviews mit Gudrun Gut und Bettina Köster (MANIA D/MALARIA!), der aktuellen ÖSTRO-430-Besetzung inklusive der Originalmitglieder Martina Weith und Bettina Flörchinger sowie mit Madlaina Peer, Sara Schär und Klaudia Schifferle, die die Drei-Bassistinnen-Band ONETWOTHREE gründeten. Leider verstarb Madlaina Peer noch während der Dreharbeiten. Sowohl von ÖSTRO 430 als auch ONETWOTHREE gibt es zudem aktuelle Einblicke in den Proberaum und auf die Live-Bühne. Auch Gudrun Gut ist der Musik treu geblieben, schraubt an Elektrosounds und organisiert Festivals, stand zudem – wie hier zu sehen ist – mit Bettina Köster im Zuge des „M_Dokumente“-Festivals wieder gemeinsam auf der Bühne.
Nun ist das, was ÖSTRO 430 mit ihrem Verzicht auf eine Gitarre, die kurzerhand durch ein Keyboard ersetzt worden war, und MALARIA! mit ihrem Sound zwischen Wave, Post-Punk und Avantgarde gemacht haben, kein klassischer Punkrock. Dies gilt auch für das, was ONETWOTHREE derzeit machen. Allen gemein ist aber, dass sie durch die Punk-Explosion und das sich damit bald herausbildende DIY-Prinzip erst zu Musik und Szene gefunden haben – und darauf basierend das Selbstbewusstsein entwickelten, innerhalb einer patriarchal geprägten Musiklandschaft ihr ganz eigenes Ding durchzuziehen. Sieht man Gudrun Gut vor ihrem nerdigen Audio-Equipment sitzen, oder hört man ÖSTRO-Martina mit ihrem herrlich rotzig-frechen Mundwerk damals wie heute, oder sieht man ONETWOTHREE-Musikerinnen, die sich zum Teil im Rentenalter befinden, aber vor einem altersmäßig völlig gemischten Club-Publikum spielen und sich backstage ‘ne Pulle Bier aufreißen, weiß man, dass sich daran nichts geändert hat.
All das ist faszinierend anzusehen und erfüllt mich mit Genugtuung, da es sich auch ohne kommerziellen Megaerfolg überwiegend nach Happy End, Selbstverwirklichung und authentischer Leidenschaft anfühlt. Größtes Problem dieses Films dürfte aber sein Titel sein, der nicht viel weniger als einen Ritt durch die gesamte Geschichte weiblicher Punks inklusive aktueller Entwicklungen suggeriert und damit maximal irreführend ist. Je länger ich zusah, desto mehr freute mich aber über die Fokussierung dieses Films, in dem die genannten Bands und Personen eben einfach mal nicht zu kurz kommen, sondern sich im Gegenteil reichlich Zeit für sie genommen wird. Und wenn ich sehe, dass der Film auch mit öffentlichen bundesdeutschen Geldern finanziert wurde, empfinde ich das nicht als Ausverkauf, sondern als einen Teilsieg.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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