Lassie - Eine abenteuerliche Reise - Hanno Olderdissen (2020)
Moderator: jogiwan
- Salvatore Baccaro
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Lassie - Eine abenteuerliche Reise - Hanno Olderdissen (2020)
Originaltitel: Lassie - Eine abenteuerliche Reise
Produktionsland: Deutschland 2020
Regie: Hanno Olderdissen
Cast: Nico Marischka, Sebastian Bezzel, Anna Maria Mühe, Bella Bading, Matthias Habich, Jana Pallaske, Justus von Dohnányi
…und dann muss man offenbar Mitte 30 werden, bevor man seinen ersten Film aus der Lassie-Reihe sieht. Tatsächlich habe ich zuvor niemals eine Nase in die Romanvorlage von Eric Knight aus den frühen 40ern gesteckt noch dessen erste Leinwandadaption von 1943 namens LASSIE COME HOME (mit einer minderjährigen Elizabeth Taylor in der weiblichen Hauptrolle) zu Gesicht bekommen, und ebenso wenig kam mir jemals eine Folge der immerhin fast zwei Jahrzehnte laufenden TV-Serie vor Augen, höchstens einmal beim Zappen, wo mich die süße Schnauze des Langhaarcollies jedoch nicht zum Klebenbleiben bewegen konnte.
Schuld daran, dass ich mit LASSIE – EINE ABENTEUERLICHE REISE nun erstmals ins Lassieversum eingetaucht bin, ist ein Kinoplakat, an dem ich kürzlich vorbeistreifte. Beworben wurde dort der Streifen LASSIE – EIN NEUES ABENTEUER - das dieses Jahr in die Lichtspielhäuser gelangte Sequel zur ABENTEUERLICHEN REISE, und spontan sagte ich zu meinem Begleiter: Lassie? Das gibt’s noch? Sind das nicht Filme, die unsere Eltern geguckt haben? Dann fällt mir auf: Klar, ich habe sofort ein Bild vor Augen, wenn mir jemand den Namen Lassie zuruft, im Grunde weiß ich aber überhaupt nichts über die heldenhafte Hündin, die seit 80 Jahren in Not geratenen Kinder rettet, Schurken in die Allerwertesten beißt, und so klug ist, dass man sie zu einem Banktermin schicken könnte, um die Sache mit der Altersvorsorge zu regeln. Eine kleine Internetrecherche später steht fest: Wenigstens ein neugeiferndes Auge müsste da doch einmal draufgeworfen werden.
LASSIE – EINE ABENTEUERLICHE REISE ist dabei freilich ein eher ungewöhnlicher Lassie-Film, da es sich um die allererste Lassie-Verfilmung zu handeln scheint, die nicht in Großbritannien oder den USA spielt, vielmehr macht die deutsche Produktion keinen Hehl daraus, dass die Collie-Dame ihr Körbchen inmitten der Bundesrepublik stehen hat. Ansonsten soll sich die Handlung jedoch – zumindest sagen das die Netzkritiken mit mehr Expertise als ich – durchaus dicht an der literarischen Vorlage orientieren, wenn auch freilich natürlich modernisiert, was Setting, Figurenzeichnung usw. angeht - etwas, das man über den Subtext, wie ich gleich noch ausführen werde, nun wahrlich nicht sagen kann.
Die Story klingt wie folgt: Über dem genauso heilen wie langweiligen Familienleben der Maurers ziehen finstere Wolken auf, als Vater Andreas seinen Job als Bläser in einer Glashütte verliert. Das geschieht zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt, ist doch Mutter Sandra hochschwanger, der Sohnemann Flo Zielscheibe von Schulmobbing und die Vermieterin Frau Möller hat es auf Familienhund Lassie abgesehen, den sie nicht länger unter ihrem Dach dulden möchte. Ein Umzug wird unausweichlich, da die Maurers unter diesen Umständen ihre Wohnung nicht mehr halten können, und sich Andreas nach einer anderen Arbeitsstelle umsehen muss. Ist es für Flo schon Drama genug, das bayrische Hinterland verlassen zu müssen, wo er bislang aufgewachsen ist, sieht es auch schlecht für ein weiteres Zusammenleben mit Lassie aus, die in den Stadtwohnungen, die die Eltern sich ausgucken, entweder nicht erlaubt ist oder zumindest ein ziemlich unbefriedigtes Dasein jenseits der unberührten Natur fristen müsste, in der sie seit jeher frei wie der Wind herumtollte.
Etwas Hoffnung keimt auf, als sich der Graf von Sprengel bereiterklärt, die Hündin erstmal bei sich aufzunehmen; seine Enkelin Priscilla liege ihm schon seit geraumer Zeit mit dem Wunsch nach einem Haustier in den Ohren, und weshalb nicht die Gelegenheit nutzen, dass sie das Frauchen-Sein an Lassie üben kann, solange bis Andreas und Sandra eine Bleibe gefunden haben, die auch für ihren Vierbeiner geeignet ist? Weshalb ein waschechter Graf mit einer Glasbläserfamilie befreundet ist? Nun, bei dem Aristokraten handelt es sich um den Besitzer der Glashütte, und somit Andreas‘ ehemaligen Chef. Entlassen hat er diesen und die restliche Mannschaft nicht etwa aus böser Absicht, sondern weil der Graf selbst gerade direktemang auf den Bankrott zusteuert: Die Glashütte hat er schon verkaufen müssen, das selbe Schicksal droht seinem üppigen Herrschaftssitz – was ihn freilich nicht davon abhält, sich nebenbei auch noch um Lassie zu kümmern, und die Hündin gar mit an die Nordsee zu nehmen, wo er ein Ferienhaus räumen muss, das er ebenfalls nicht mehr finanzieren kann.
Flo vermisst Lassie und Lassie vermisst Flo und beide halten das Vermissen schließlich nicht mehr aus, büxen aus, und begeben sich, jeder für sich, auf einen Trip quer durch Deutschland, bei dem sie unterschiedliche, meistens liebenswerte, zuweilen gefährliche Figuren wie einen Lassie misshandelnden Hausmeister oder eine warmherzige Zirkusartistin kennenlernen, ganz viel über sich selbst lernen, und sich am Ende natürlich – das dürfte beileibe kein Spoiler sein – in die Arme bzw. Pfoten fallen.
Müsste ich LASSIE – EINE ABENTEUERLICHE REISE auf eine knackige Formel runterbrechen, würde ich sagen, dass wir es hier im Grunde mit einem OSTWIND-Derivat zu tun haben, mit dem Unterschied, dass das titelgebende Pferd durch einen Hund ersetzt worden ist. Die Kongruenzen stechen förmlich in die Augen: Die gleiche glattgeschleckte Werbeästhetik, die jede Einstellung wirken lässt, als stamme sie geradewegs aus einem Reisekatalog; dieselbe Anthropomorphisierung von allem, was vier Beine, Fell und einen Schwanz hat; eine ganz ähnliche Coming-of-Age-Story, bei der sich unser junger Protagonist auf eine innere wie äußere Reise begeben muss, aus der er gereift hervorgeht; der gleiche völlig harmlose Inszenierungsstil, der Offensivness nicht mal erkennen würde, wenn man sie ihm auf die Nase binden würde; die gleichen standardisierten Figuren, Szenarien, narrativen Verwicklungen.
So weit, so gut – was mir jedoch in keinem einzigen OSTWIND-Teil untergekommen ist, das ist die Art und Weise, wie LASSIE – EINE ABENTEUERLICHE REISE die intradiegetischen Klassenverhältnisse zeichnet – eine Art und Weise, die mich mindestens stark irritiert hat. In meiner Inhaltsangabe klingt es ja schon an: Graf von Sprengel ist ein herzallerliebster Opa, der zwar über beachtliche ökonomische Mittel verfügt, einen eigenen, ihm förmlich aus der Hand fressenden Butler unterhält, und, neben zahllosen Immobilien, auch eine traditionsreiche Glashütte sein Eigen nennt, sich jedoch nicht scheut, mit seinem Vorarbeiter eine Freundschaft anzuknüpfen, am Ende gar dessen Hündin in Obhut zu nehmen. Die Hierarchie selbst wird nie in Frage gestellt: Während seine Angestellten vor den Öfen schuften, betritt der Graf die Glashütte nur, um der versammelten Belegschaft anzukündigen, dass sie bald arbeitslos sein werden. Graf von Sprengel wirkt wie das Abziehbild des guten Kapitalisten: Das ist ein Chef, mit dem man sich auf ein Bier treffen kann; das ist ein Chef, dessen Augen feucht werden, wenn er daran denkt, dass seine Getreuen bald möglicherweise in Hartz IV rutschen; das ist ein Chef, dessen edles Wesen rechtfertigt, dass er den Status Chef besitzt, und niemand sonst. Wie gesagt: Die Besitzverhältnisse werden dabei nie in Frage gestellt. Selbst wenn man mit ihm ein Bier trinkt, selbst wenn ihm eine mitleidige Träne die Wange runterkullert: Der Graf bleibt unangefochten der Graf, und Arbeiter Andreas bleibt ebenso unangefochten der Angestellte des Grafen.
Umso befremdlicher fand ich, dass der Film in der Folge beide Schicksale – dasjenige von Flos Familie und dasjenige des ruinierten Grafen – auf eine Stufe stellt, und beide mit dem gleichen tragischen Blick beäugt: Dass der Graf sein gigantisches Anwesen, wo er seit dem Tod seiner Gattin offenbar allein mit der Dienerschaft lebt, verlassen muss, und dass Flos Eltern, arbeitslos und schwanger und bald ohne Wohnung, das Wasser bis zum Hals steht, ist für die Drehbuchverantwortlichen exakt dieselbe Form von bedauernswerten Zuständen. Überhaupt, weshalb man die Figur des Grafen als wichtige Nebenfigur aufbaut, und seinem Schicksal lange Filmminuten widmet, hat sich mir auch rein aus dramaturgischer Sicht nicht erschlossen – so wie der Film generell eine sehr unökonomische Erzählweise pflegt, ständig neue Charaktere einführt, ständig die Schauplätze wechselt, dabei aber oftmals vage bleibt, wo wir uns überhaut gerade vor allem geographisch befinden: Dauert Lassies Reise durch die BRD ein paar Tage, ein paar Wochen, Monate?
Vollends das Fass zum Überlaufen bringt indes das Finale: Seit Jahren ist Graf von Sprengel mit seinem einzigen Sohn und Erben zerstritten. Auch diese Beziehung wird durch Lassie gekittet, und am Ende vertragen sich Vater und Sohn endlich wieder. Mehr noch: Der Grafensohn übernimmt gar die Glashütte. Anders gesagt: Der Graf ist doch nicht ruiniert und Flos Papa hat seinen alten Job wieder. Wie hier in einem nominellen Kinderfilm ein Konflikt nach dem Blutlinienprinzip aufgelöst wird – das Kapital geht in die rechtmäßigen, weil per Geburtsrecht legitimierten Hände über, und allen Figuren winken rosige Zeiten –, hat mich, ehrlich gesagt, sprachlos gemacht – zumal solche Plot-Volten nicht etwa, wie beispielweise in den grell-ironischen BIBI-&-TINA-Filmen in irgendeiner Weise augenzwinkernd gebrochen werden würden. Im Ernst: Solcherlei habe ich in letzter Zeit höchstens mal in einem generischen Peplum der 50er oder 60er serviert bekommen, wenn Herkules, Ursus oder Maciste einen Usurpator vom ergaunerten Thron schubst und als gottgegebenen Herrscher den Erstgeborenen des zuvor ermordeten ursprünglichen Königs daraufsetzt.
Spannend ist nicht zuletzt, dass der einzige wirkliche Antagonist des gesamten Films der sogenannten Unterschicht angehört: Es handelt sich um den Hausmeister des Grafen, der offenbar bei diesem derart wenig verdient – und zwar noch vorm Vermögensverlust des Grafen! –, dass er Lassie entführen und an irgendwelche Züchter verschachern möchte - eine Untat, die zu keinem Zeitpunkt anhand der ökonomischen Verhältnissen, in der diese Figur lebt, reflektiert wird, sondern allein dadurch erklärt wird, dass der Hausmeister eben ein verdammter Bösewicht ist. Ebenso spannend, dass der Butler des Grafen als Sympathiefigur fungiert, der so sehr in seinen Herrn vernarrt ist, dass er ihn nicht mal in der Stunde der größten Not verlässt, und ihm weiterhin – wohlgemerkt unentgeltlich, denn das Geld ist ja futsch! – den Sonnenschirm hält, ihm die Schuhe putzt, ihn an wichtige Termine erinnert - was dem Film Anlass für eine ganze Reihe von "komischen" Szenen ist, die auf die unbedingte Treue des Butlers abzielen.
Puh, bei solcherlei Unterbau fällt es mir schwer, mich positiv an die vielen putzigen Aufnahmen zu erinnern, in denen Lassie durch Gassen rennt, über Wiesen jagt, in die Nordseefluten hüpft - und meine Lust, mich nun noch an den zweiten Teil zu wagen, passt auf einen Bierdeckel...