Wir sind deine Community rund ums Thema Film mit Schwerpunkt auf italienischem bzw. europäischem Genre-Kino. Vom Giallo über den Poliziesco/die Poliziotteschi, den Italo-Western, den Horror und der Science-Fiction bis hin zum Eurospy, zur Commedia sexy all'italiana, zu Barbaren und Endzeit, Sex- und Nunploitation, Sleaze und Trash – tausch dich bei uns gratis mit Gleichgesinnten aus, werbefrei und unkommerziell.
Offene Wunde deutscher Film.jpg (88.2 KiB) 294 mal betrachtet
Originaltitel: Offene Wunde deutscher Film
Herstellungsland: Deutschland / 2017
Regie: Dominik Graf, Johannes F. Sievert
Mitwirkende: Mario Adorf, Achim Bornhak, Peter Berling, Artur Brauner, Peter F. Bringmann, Wolfgang Büld, Klaus Doldinger, Werner Enke, Gundolf Freyermuth, Roger Fritz, Dieter Geissler, Jürgen Goslar u. A.
In "Offene Wunde deutscher Film" begleitet ARTE Dominik Graf und Johannes F. Sievert weiter auf ihrer Reise zu den Nachtschattengewächsen des deutschen Films: Ihr Augenmerk liegt nicht auf einer umfassende Geschichte des deutschen Films, sondern sie werfen einen persönlichen Blick auf die vergessenen, übersehenen, unbekannten Schätze der deutschen Filmgeschichte. Gemeinsam mit ihren Interviewpartnern - Filmkritikern, Produzenten, Schauspielern, Autoren und Regisseuren - vertiefen sie sich in die so anziehende wie verquere Filmkultur Deutschlands ab den 80er Jahren bis heute.
Mehr als ein Drittel aller deutschen Spielfilme gelten als verschollen - und das bezieht sich nicht auf die Stummfilmzeit. Mit "Offene Wunde deutscher Film" begeben sich Dominik Graf und Johannes F. Sievert auf eine weitere archäologische Reise in die Steinbrüche der deutschen Filmgeschichte - und versuchen, einige der Wege sichtbar zu machen, die man nicht hätte weitergehen müssen - aber können.
Als sie sich auf die Reise in die deutsche Filmgeschichte einschifften, hatten sie nicht erwartet, dass es so emotional und so mitreißend werden würde. Doch nachdem sie begonnen hatten, merkten sie mit jedem Interview, wie ungenau ihre "Kartenquote" war und was es noch alles an "Neulandquote" zu entdecken gab: faszinierende Zwischenreiche von Heimat, Subkultur, Experiment und Genre taten sich auf, und sie bemerkten - vielleicht die schönste und faszinierendste Entdeckung - dass hier ein Werk entstand, hinter dem viel Liebe steht.
Gemeinsam mit ihren Interviewpartnern - Filmkritikern, Produzenten, Schauspielern, Autoren und Regisseuren - vertiefen sie sich in die so anziehende wie verquere Filmkultur unseres Landes ab den 80er Jahren bis heute.
Nachdem Dominik Graf und sein ehemaliger Schüler Johannes F. Sievert in ihrem 2016 veröffentlichten essayistischen Dokumentarfilm „Verfluchte Liebe deutscher Film“ dem deutschen Genrefilm der 1960er und ‘70er zwischen den Polen „Papas Kino“ und Neuer deutscher Film nachspürten, folgte 2017 die logische Fortsetzung „Offene Wunde deutscher Film“, ebenfalls auf der Berlinale uraufgeführt und rund 90 Minuten lang.
„What are you doing in Germany?”
Man beginnt erneut mit den Anfängen des Kinos in der jungen Nachkriegs-BRD und die beteiligten Schauspieler (Peter Berling, Mario Adorf u.a.), Filmkritiker(innen)/-wissenschaftler(innen) und Regisseure aus „Verfluchte Liebe deutscher Film“ sind ebenfalls wieder versammelt, das Ensemble wird jedoch nach und nach um weitere Persönlichkeiten erweitert. Allen späteren Genrefilmmachern war anscheinend die Begeisterung fürs US-Kino gemein. Klaus Lemke leugnet, Regisseur zu sein – er führe nicht, er folge seinen Darstellerinnen und Darstellern. Die Bedeutung des Fernsehens, speziell des WDR, wird diesmal hervorgehoben: Es habe neue Freiheiten geboten, die zu herausregenden Filmen wie „Das Millionenspiel“ und „Smog“ geführt hätten. Dem umtriebigen TV-Drehbuchautor Wolfgang Menge wird gehuldigt, Regisseur Peter F. Bringmann berichtet kurz von seiner Zusammenarbeit mit Marius Müller-Westernhagen für die Filme „Aufforderung zum Tanz“ und „Theo gegen den Rest der Welt“ und Wolfgang Petersen erzählt, wie er übers Fernsehen zum Kino kam und den Meilenstein „Das Boot“ verwirklichte.
Grafs und Sieverts Film wirkt bis hierhin aufgeräumter als der bisweilen konfuse Vorgänger und Graf verzichtete auf Kommentierungen aus dem Off. Mittlerweile ist man in den 1980ern angekommen; körperliche und männliche Filme seien es gewesen, womit man auf den erhöhten Action-Anteil anspielt. Nun erklingt doch wieder zeitweilig Grafs Voice-over-Stimme, aber „Offene Wunde deutscher Film“ bleibt recht kohärent und stringent, guckt sich angenehm und spannend. Carl Schenkel gesellt sich dazu, es geht vornehmlich um seinen Film „Abwärts“ mit Götz George und Hannes Jaenicke. Petersen kommt ausführlich zu seiner Arbeit in den USA zu Wort, speziell zu „In the Line of Fire“, die anderen Regisseure fallen dabei leider eher hintenüber. Jedoch handelt es sich dabei – wie so vieles hier – um ein eigenes, hochinteressantes Kapitel, das eine eigene Dokumentation verdient hätte.
Seine Stringenz gibt „Offene Wunde deutscher Film“ leider auf, als er sich gesondert großen deutschen Filmkomponisten widmet, also Klaus Doldinger und Konsorten, und dafür zurück bis in die 1960er geht. Der experimentelle Samuel-Fuller-„Tatort: Tote Taube in der Beethovenstraße“ mit der Musik von Can wird in Anwesenheit des Bandkopfs aufgegriffen, Doldinger äußert sich speziell zu seiner Jahrhundertarbeit für „Das Boot“. Nach diesem Exkurs springt man erneut in der Zeit, nun geht’s um Jürgen Goslar und seine Rhodesien-Filme „Slavers“ und „Der flüsternde Tod“, aber auch quer durch seine Filmografie. „Slavers“-Komponist Eberhard Schoener erzählt ein bisschen was, woraufhin man sich plötzlich wieder bei Petersens Anfängen wiederfindet. Seinen roten Faden hat „Offene Wunde…“ leider endgültig verloren.
Bunt gemischt geht’s fortan um Regisseur Robert Sigl („Laurin“, als Reaktion auf „Scream“ dann „School’s Out“), um Heimatfilme, deutsche Filmemacher im Exil während der NS-Diktatur, Horrorfilme der 1940er und frühen -50er sowie die frühe Nachkriegszeit. Unvermittelt erklingt auch eine weibliche Stimme aus dem Off, dazu werden wilde Bildcollagen um Vampire dargereicht. Das kreative Chaos ist perfekt – was irgendwie zu Wolfgang Bülds legendärer Doku „Punk in London“ passt, woraufhin Eckhard Schmidt über seinen Punkeinfluss spricht, Büld anschließend über seinen Nena/Markus-NDW-Film „Gib Gas – Ich will Spaß!“ sowie „Manta Manta“ und Schmidts Œuvre mittels Ausschnitten aus „Der Fan und „Alphacity“ illustriert wird. Georg Tresslers „Sukkubus“ wird in wunderschönen Auszügen angerissen, Ralf Huettners verkannte Mystery-Filme „Der Fluch“ und „Babylon“ halten Einzug in den Korpus und schon ist man wieder bei Büld und dessen Low-Budget-Sexploitation-Trilogie um Fiona Horsey. „Der Nachtmahr“-Regisseur Achim Bornhak dürfte der jüngste Filmemacher des Reigens sein, auch mit dem in einem Ausschnitt gezeigten „Harms“ von Nikolai Müllerschön begibt man sich in die Gegenwart.
Damit leert sich diese Wundertüte, aus der zahlreiche interessante, sehenswerte deutsche Filmproduktionen nur so herausschossen, nachdem Graf und Sievert sie aufgerissen hatten – um ihnen zu später Ehre oder mehr Bekanntheit zu verhelfen. Den Deutschen wird Harmoniesucht unterstellt, was als ein Grund fürs Nischendasein des deutschen Genrefilms herangezogen wird, dafür arbeitet sich „Offene Wunde deutscher Film“ weit weniger als „Verfluchte Liebe deutscher Film“ am Neuen deutschen Film ab. Das ungefähr ab der Hälfte wieder sehr chaotische Durcheinander, das Graf und Sievert einem hinwerfen, gilt es jedoch selbst zu sortieren: Die Protagonist(inn)en werden kaum vorgestellt, Einordnungen finden nicht statt, etwaig hilfreiche Texteinblendungen verschwinden in den Bild- und Ton-Collagen aus Fotos, Filmausschnitten, verschiedenen On- und Offscreen-Stimmen sowie eingestreuten Zitaten Schillers und Jean Pauls ebenso schnell wieder, wie sie plötzlich da waren, während man gerade den Interviewpartner(inne)n zuhört.
Nichtsdestotrotz gewährt „Offene Wunde deutscher Film“ zahlreiche anfixende Einblicke in eine faszinierende Kino-Parallelgesellschaft, bezieht seine Informationen dank der Interviewpartner(innen) aus erster Hand und macht neugierig. Und im Abspann erklingt doch tatsächlich die uralte Punknummer „Süße Heimat“ von Notdurft. Ja leck mich doch fett!
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)