bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Euer Filmtagebuch, Kommentare zu Filmen, Reviews

Moderator: jogiwan

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Nea – Ein Mädchen entdeckt die Liebe

„Seriöse Verträge unterschreibt man mit Blut!“

Beim vorletzten Spielfilm der französisch-argentinischen Regisseurin Nelly Kaplan („Moneten für’s Kätzchen“) handelt es sich um die Verfilmung einer (mir unbekannten) Novelle der „Emmanuelle“-Autorin Emmanuelle Arsan. Das Drehbuch des in französisch-deutscher Koproduktion entstandenen und 1976 veröffentlichten Erotikdramas verfasste Kaplan zusammen mit Jean Chapot. Ein Alternativtitel lautet „Die erotischen Phantasien einer 16-Jährigen“.

Sibylle (Ann Zacharias, „Brust oder Keule“) ist gerade zarte 16 Jahre jung, als sie von Ladenbesitzer Axel Thorpe (Sami Frey, „Nackt jeden Abend“) beim Diebstahl erotischer Literatur aus seiner Buchhandlung erwischt wird. Trotzig spuckt sie große Töne, indem sie behauptet, ohnehin selbst viel bessere Geschichten schreiben zu können. Er zeigt sich neugierig und interessiert, und tatsächlich: Schon bald legt sie ihm ein „Nea“ betiteltes Manuskript vor. Axel reagiert begeistert und drängt sie zur Veröffentlichung, aufgrund ihrer Minderjährigkeit jedoch unter einem Pseudonym. Es entwickelt sich derweil auch eine zwischenmenschliche Sympathie zwischen Sibylle und Axel – seitens Sibylle auch etwas mehr. Da sie selbst noch jungfräulich ist, bittet sie Axel mit ihr zu schlafen, um noch authentischer schreiben zu können. Er lässt sich überreden und führt eine Art Beziehung mit ihr, hält sich nach Veröffentlichung des Bestsellers jedoch von ihr fern und fängt etwas mit ihrer älteren Schwestern Florence (Chantal Bronner) an. Sibylle reagiert äußerst ungehalten…

Eine Story der Autorin der fragwürdigen „Emmanuelle“-Abenteuer als Grundlage, Sex zwischen einer Minderjährigen und einem älteren Mann, ein reißerischer Alternativtitel und ein DVD-Cover mit einer prallbusigen Dame – also eine weitere üble Altherrenphantasie à la „Schulmädchen-Report“ und Konsorten? Überraschenderweise nein, denn der Regisseurin lag es fern, diesen Bereich zu bedienen, im Gegenteil. Der Film um die zum Drehzeitpunkt 20-jährige Schwedin Ann Zacharias als frühreifes Früchtchen Sibylle, die im Gegensatz zum Cover kleine Brüste hat, beginnt mit einem Zitat des französischen Mathematikers und Physikers Joseph Fourier und lässt sich über 42 Minuten Zeit, bis er Sibylle erstmals unbekleidet inszeniert. Toll ausgeleuchtete schöne Bilder treffen bis dahin auf einschläfernde Szenen, doch der Film gewinnt an Dramatik, als es zum Streit um Sex und eklatanten Altersunterschied kommt, im Zuge dessen sie Axel wüst beschimpft. Die Sexszene zwischen beiden ist schließlich der Höhepunkt des Films, wird lang und prickelnd erotisch initiiert, der eigentliche Beischlaf bleibt den Zuschauerinnen und Zuschauern verborgen.

Sibylles Buch wird schließlich veröffentlicht und ein Riesenerfolg, der für Kontroversen sorgt, gleichzeitig gerät ihr Leben aus der Bahn: Trauer und Eifersucht ergreifen Besitz von Sibylle, was in fiesen Racheplänen mündet. Ihre Leidenschaft wird fehlgeleitet und trifft Axel mit einiger Wucht. Zudem kriselt es zwischen ihren Eltern (Micheline Presle, „Den Teufel im Leib“ und Heinz Bennent, „Eiszeit“), als ihre Mutter sich stärker zur gleichgeschlechtlichen Liebe hingezogen fühlt. Damit erfüllt der Film zahlreiche Ansprüche an ein ernstzunehmendes Drama, statt mit Sexualität und Liebe einhergehende Probleme zu trivialisieren und mittels Softsex-Szenen schmutzige Fantasien zu befriedigen zu versuchen – wohlgemerkt ohne den erotischen Aspekt außer Acht zu lassen. Kaplan und Ann Zacharias zeigen, wie sexy auch eine geringere Oberweite sein kann und zeichnen die ständig ihren Kater dabeihabende Sibylle als sehr selbstbewussten und eigensinnigen Charakter, wodurch der Film auch etwas stark Emanzipatorisches mitbringt. Und selbst ohne den Drama-Teil bliebe ein sehenswerter, mutiger Film, der ein intelligentes, außerordentlich talentiertes Mädchen beim Entdecken seiner Sexualität zeigt und mit der Faszination von Büchern, der Kraft geschriebener Worte sowie der Freude an erotischer Literatur und letztlich auch der Masturbation kunstvoll miteinander vermengt. Zudem wirft die Handlung Fragen dahingehend auf, inwieweit sie zumindest partiell autobiographisch sein könnte – insbesondere vor dem Hintergrund der Gerüchte um Emmanuelle Arsans tatsächliche Autorschaft ihrer Erotikromane. Angesichts der Qualitäten dieses Films ist es schade, dass nicht wesentlich mehr Frauen sich in den 1970ern an die Verfilmung erotischer Stoffe wagten.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Rolls-Royce Baby

„Wir brauchen mehr Sex!“

1975, zu Beginn seiner Zusammenarbeit mit dem schweizerischen Sexfilm-Pionier Erwin C. Dietrich, lieh der spanische Viel-, Billig- und Erotik-Filmer Jess Franco („Down Town – Die nackten Puppen der Unterwelt“) ihm seine Muse und Partnerin, die Exhibitionistin Lina Romay („Entfesselte Begierde“), für eine weitere Regiearbeit Dietrichs aus. Das Ergebnis ist der bzw. das sich am Scheidepunkt zwischen Softsex und Hardcore bewegende „Rolls-Royce Baby“.

„Ich bin Lisa Romay, Fotomodell und Darstellerin in vielen erotischen Filmen... Ich bin das Rolls-Royce-Baby - und dies ist meine Story..."

Erotiksternchen Lisa Romay (wer hätte es gedacht: Lina Romay) scheint ihre traumatisierende Erfahrung, beim Fahren per Anhalter nach dem Sex mit zwei Lkw-Fahrern nackt und mittellos auf der Straße zurückgelassen worden zu sein, dadurch zu verarbeiten zu versuchen, dass sie sich von ihrem Chauffeur (Eric Falk, „Mad Foxes – Feuer auf Räder“) im Rolls-Royce durch die Landschaft kutschieren lässt und sich mit allem vergnügt, was sie gerade an der Straße aufliest…

So in etwa könnte man die „Handlung“ zumindest interpretieren, denn wirklich ausgesprochen oder problematisiert wird das nicht. Zu Beginn wetzt Romay ihr Rasiermesser für die (damals noch ungewöhnliche) Intimrasur, die sie lustvoll in Großaufnahme durchführt. Aus dem Off spricht sie ihr Publikum direkt an, stellt sich auf dem Sofa liegend und masturbierend als Lisa Romay vor und gibt an, nun ihre Geschichte zu Protokoll geben zu wollen. Diese zeigt sie zunächst bei Nacktfotoaufnahmen in einem Studio. Während sie sich vor einer Strandkulisse räkelt, kommt der – kurioserweise ebenfalls nackte – Fotograf (Kurt Meinicke, „Auch Fummeln will gelernt sein“) hinzu und lässt Sand über ihre Muschi rieseln, was die Kamera in Großaufnahme einfängt. Gelegentlich kommentiert Romay weiter aus dem Off.

„Mit deinem Talent machst du noch ganz große Karriere!“

Die nächste Szene schneidet Bilder der in einer Badewanne liegenden Lisa gegen einen unfreiwillig komisch erst nackt, dann mit Hose, dann wieder nackt Kampfsportübungen durchführenden Eric Falk, mit dem Lisa frühstückt, ihm nackte Yoga-Übungen vorführt und sich schließlich von ihm lecken lässt. Ihm erzählt sie sodann auch von ihren schlimmen Erlebnissen aus ihrer Vergangenheit, die in einer Rückblende visualisiert werden. Das geschieht grundsätzlich mittels Softsexszenen, Gefummel und Fellatio jedoch sind real.

„Jetzt machen wir erst mal ‘n bisschen Nahverkehr!“

Sie stellt Eric als Chauffeur ein, und nach einem Fotoshooting auf einem Motorrad und einer erneuten Masturbationsszene auf dem Sofa geht’s mit dem Rolls-Royce auf die Landstraßen, wo sie es mit diversen Anhaltern treibt. Und wenn sie gerade keinen findet, masturbiert sie eben im Rolls-Royce, wobei die Kamera diesmal ausnahmsweise ihr Gesicht in Nahaufnahme einfängt. Mit dem nächsten Anhalter geht sie nackt spazieren und vögelt mit ihm in der Natur, was durch den Zoom auf ihren Oberkörper fast wie eine Point-of-View-Szene anmutet. Nach einem Intermezzo in der Badewanne geht’s mit dem nächsten Tramper weiter, bis sie sich zur Abwechslung auch mal eine Anhalterin gönnt. Diese Szene jedoch wird abrupt abgebrochen; im Anschluss werden beide Damen in Lisas Anwesen gezeigt, ein gleichgeschlechtlicher Akt entwickelt sich zum Dreier mit Eric.

Eine echte Handlung gibt es also tatsächlich nicht, lediglich eine Aneinanderreihung von (überwiegend) Softsex-Szenen, wenn auch mit ausgeprägtem Kamerainteresse für Romays Geschlechtsorgane. Nicht nur aufgrund ihrer Intimrasur macht (und hat) die Romay hier eine ausgesprochen gute Figur und scheint mit ebenso viel Leidenschaft wie Zeigefreudigkeit bei der Sache zu sein. Was „Rolls-Royce Baby“ dennoch von rein zur Triebabfuhr produzierten Filmen unterscheidet, ist der Look des Films mit seinen sonnigen, luftigen Bildern, seinem edlen Interieur und chromblitzenden Gefährt in Kombination mit seiner Entschleunigung, die Dietrichs Arbeit zumindest ansatzweise zu so etwas wie einer sinnlichen Erfahrung statt einem Schnellwichsrödelvideo machen. „Rolls-Royce Baby“ verfolgt einen ästhetischen Anspruch, als dessen alleinige Herrscherin Romay inszeniert wird, die aus ihren Bekanntschaften Spiel- und Werkzeuge macht. Sie hat die Macht über ihren Körper zurückerlangt, nutzt die Macht ihres Körpers über alle anderen und macht sich ihre Welt, wie sie ihr gefällt, während Walter Baumgartner seinen Easy-Listening-Soundtrack dazu spielt. Das ist Sex. Zumindest im Kino und vor der Flimmerkiste.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Die Sonntagsfrau

„Wir kommen immer nur zu spät, wenn wir jemanden verhaften wollen!“

Der vornehmlich im komödiantischen Fach beheimatete italienische Regisseur Luigi Comencini („Genosse Don Camillo“) verfilmte 1975 den erfolgreichen Roman „Die Sonntagsfrau“ des Autorenduos Carlo Fruttero und Franco Lucentini, der drei Jahre zuvor erschienen war. Die Krimikomödie mit gesellschaftssatirischem Anstrich entstand in italienisch-französischer Koproduktion.

Der Turiner Architekt Garrone (Claudio Gora, „Sacco und Vanzetti“) hat sich nicht sonderlich viele Freunde gemacht, was man ihm eines Tages damit quittiert, ihn mit einer großen steinernen Penisskulptur zu erschlagen. Der sizilianische Kommissar Santamaria (Marcello Mastroianni, „Allein mit Giorgio“) nimmt zusammen mit seinem Partner de Palma (Pino Caruso, „Suspected Death of a Minor“) die Ermittlungen auf. Die erste Spur führt zur gelangweilten Industriellengattin Anna Carla Dosio (Jacqueline Bisset, „Mord im Orientexpress“) und ihrem offensichtlich homosexuellen, dies jedoch nicht offen zugebenden Bekannten Massimo Campi (Jean-Louis Trintignant, „Leichen pflastern seinen Weg“): Der Polizei wurde von ehemaligen Bediensteten Annas, die nicht gut auf ihre Ex-Chefin zu sprechen sind, ein Brief zugespielt, in dem Anna sich gegenüber Adressat Massimo über das Mordopfer auslässt und ihm den Tod wünscht. Doch die beiden bleiben nicht die einzigen Verdächtigen, denn so zahlreich Garrones Gegner waren, so zahlreich sind auch die möglichen Motive und so löchrig sämtliche Alibis. Anna und Massimo sehen die Chance auf ein aufregendes Abenteuer und schalten sich in die Ermittlungen ein; auch Massimos heimlicher Lebensgefährte Lello (Aldo Reggiani, „Die neunschwänzige Katze“) beteiligt sich schließlich, um die Unschuld Massimos zu beweisen…

„Er trägt ein sehr warmes Jäckchen und steht auf Böcke.“ – „Worauf…?“ – „Auf Böcke: Er ist handgestrickt schwul!“

Diese Romanverfilmung wurde zu einem hochkarätig besetzten, sehr geschwätzigen Whodunit?-Krimi mit mehr als nur einem komödiantischen Touch. Der sizilianische Kommissar erlebt in Turin zwar nicht unbedingt einen ausgemachten Kulturschock, beobachtet das Treiben insbesondere der vermögenden Oberschicht jedoch mit einigem Befremden. In der Turiner Bourgeoisie kennt jeder jeden, hält jeweils nicht viel voneinander oder ist sich spinnefeind und degeneriert zunehmend in seiner Dekadenz vor sich hin. Ein ungewöhnlich besetzter Trintignant in einer von zwei überzeichneten Schwulenrollen, einige pikante und schlüpfrige Details, viel Turiner Lokalkolorit und italienische Lebensart dominieren den Film, der sein Puzzle aus Giallo-, Poliziesco- und Komödien-Elementen zusammensetzt und erst ganz am Schluss löst. Leider versäumt man es dabei, Spannung oder Dramatik aufzubauen, sodass der eigentliche Fall komplett in den Hintergrund tritt und den zahlreichen inneritalienische Befindlichkeiten karikierenden Dialogen den Vortritt lässt. Die herausragende Besetzung hält derweil bei der Stange und das lieblich sommerliche Turin, das der „Suspiria“- und „Tenebrae“-Kameramann Tovoli in warmen Farben einfängt, ist eine Augenweide. Letztlich ist „Die Sonntagsfrau“ aber mehr eine Gesellschaftssatire denn Kriminalfilm, die für nicht in Italien gelebt habende und mit damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen Italiens nicht vertraute Zuschauerinnen und Zuschauer bisweilen unverständlich zu bleiben droht.
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Tatort: Borowski und der Himmel über Kiel

„Wissen Sie eigentlich, zu was Frauen unter Drogen fähig sind?“

Sein 24. Fall führt den Kieler Hauptkommissar Klaus Borowski (Axel Milberg) ins Drogenelend, von dem ein ganzes Dorf bedroht wird. Für Regisseur Christian Schwochow („Bornholmer Straße“) handelte es sich um seinen ersten Beitrag zur „Tatort“-Krimireihe, das Drehbuch verfasste Rolf Basedow. „Borowski und der Himmel über Kiel“ wurde bereits 2014 auf dem Hamburger Filmfest uraufgeführt, seine TV-Erstausstrahlung erfolgte am 25.01.2015.

Eine unbekannte Person nähert sich einer an einem Waldgebiet liegenden Leiche, um ihr mit einer Axt den Kopf abzuschlagen. Als der Kopf gefunden wird, werden Hauptkommissar Klaus Borowski und Kommissaranwärterin Sarah Brandt (Sibel Kekilli) auf den Fall angesetzt. Der Kopf gehört zu den Überresten des Crystal-Meth-Junkies Mike Nickel (Joel Basman, „Als wir träumten“), dessen Ex-Freundin, die junge Rita Holbeck (Elisa Schlott, „Draußen am See“), sich auf einen Fahndungsaufruf hin meldet. Sie ist gerade erst wieder clean geworden und berichtet der Kripo von ihrem ehemaligen Alltag im Zeichen der Drogensucht und des Rauschs. Als sie sich überreden lässt, die Namen zweier Verdächtiger Drogendealer (Rafael Stachowiak, „Lollipop Monster“ und Matthias Weidenhöfer, „Tatort: Brüder“) herauszurücken, gerät auch sie in Gefahr…

Schwochows und Basedows „Tatort“ ist ein Abgesang auf vermeintliche schleswig-holsteinische Dorfidylle, denn die billige Teufelsdroge hat längst die ganze Dorfgemeinschaft infiltriert, die mit ihrer Hilfe der Trostlosigkeit des Alltags zu entrinnen versucht. Dieser Aspekt wird zu einer der Herausforderungen für Borowski und Brandt, die letztlich auf die Kooperation Ritas angewiesen sind. In einer beeindruckenden Szenencollage schildert sie ihre anfänglich so positiven Erfahrungen mit der Droge, die aus Nonstop-Partys und ungezügeltem Sex bestehen. Trotz schneller Schnitte kann sich hier Nachwuchstalent Elisa Schlott als entfesselt und enthemmt aufspielende Jungschauspielerin empfehlen, die die Ambivalenz ihrer Rolle – einerseits exzessiv das Leben (bzw. die Realitätsflucht) auskostend, andererseits ruhig, zurückhaltend und schutzbedürftig wirkend – beherrscht. Die negativen persönlichen Auswirkungen der Meth-Abhängigkeit in Form körperlichen Verfalls zeigen sich an Ritas mehr tot denn lebendig wirkender Freundin Lisa (Anke Retzlaff, „Der Turm“), weniger an der bildhübschen Rita, die scheinbar rechtzeitig den Absprung geschafft hat.

Im erzählerisch leider etwas vertrackten und sprunghaften „Tatort“ zeigt sich bald, auf welch schmalem Grat sich Rita bewegt – und wie der exzessive Konsum zur Selbstzerfleischung einer Junkie-Clique führte, wovon unbeeindruckt das Partyleben weitergeht, während die Droge längst in allen gesellschaftlichen Schichten der Dorfgemeinschaft angekommen ist, die zunehmend den Verstand verliert. „Borowski und der Himmel über Kiel“ skizziert, wie sich das trügerische Freiheitsgefühl, das die lügende Droge vermittelt, sich in Abhängigkeit, Zerfall und Tod und damit ins komplette Gegenteil verkehrt. Der gewohnt nachdenkliche Borowski wird hierfür in eine atmosphärische Meisterleistung integriert, die Emotionen authentisch fühlbar macht, sich in Melancholie und Traurigkeit ergeht und nicht nur aufgrund seiner Bilder einer fast permanent unter einem leichten Nebelschleier liegenden norddeutschen Landschaft eine Eiseskälte ausstrahlt, die einen frösteln lässt. Damit lässt Schwochow auch ohne allzu viele Erklärungen (etwa nach Drogenberatungs- oder Sozialarbeitermanier) nachvollziehbar werden, weshalb sich Menschen in den Teufelskreis von Drogen begeben, um sich eine Portion Wärme abzuholen.

„Borowski und der Himmel über Kiel“ ist bis in die Nebenrolle prima besetzt, nimmt sein Thema und seine Figuren inkl. ihrer Entscheidungen ernst, womit er weniger distanziert als andere, undifferenzierte Beiträge wirkt, und verfügt über eine starke weibliche Hauptrolle, auf die sich Ängste von Entfremdung und Verlust projizieren lassen. Damit ist dieser „Tatort“ ein ungewöhnlich intensives Fernsehkrimi-Erlebnis, sodass man in der Schlusssequenz unweigerlich hofft, Rita möge sich angesichts einer Sternschnuppe das Richtige wünschen – und einen darüber hinaus berührt zurücklässt. 7,5 von 10 paranoiden Flashbacks dafür.
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Hollywood Reality

„Ich bin nicht Jamie Stephens, ich bin Diane Blaine!“

Die US-Komödie „Hollywood Reality“ aus dem Jahre 2010 ist eine Kollaboration der Regisseure Matt Berman (der zuvor bereits „Furz – Der Film“ inszenierte und später mit „Die Hochzeit meiner besten Freundin“ nachlegte) und Kevin P. Farley, dessen Spielfilm-Regie-Debüt der vorliegende Film darstellt.

„Zorniger Schwanz, Folge 25, die Erste!“

Kellnerin Diane Blaine (Nicky Whelan, „Rob Zombie’s Halloween II“) ist jung, gutaussehend und träumt von einer Schauspielkarriere in Hollywood, die jedoch einfach nicht ins Laufen kommt. Eines ihrer Probleme ist, dass sie der berüchtigten Jamie Stephens (ebenfalls Nicky Whelan) wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Da diese eine Möchtegern-Diva mit Alkoholproblem ist, möchte niemand mit ihr zusammenarbeiten – da kann auch Dianes Managerin Hattie McDaniel (Leslie Easterbrook, „The Devil’s Rejects“) wenig ausrichten. Lediglich Pornoproduzent Sid Blaustein (Norm MacDonald, „Ein Tag Blau“) hat ein Auge auf Diane geworfen. Dianes Freund Jack Sanders (Chris Kattan, „Haunted Hill“) ist im selben Restaurant wie Diane tätig. Er hofft, seine finanziellen Probleme in den Griff zu bekommen, indem er das Restaurant übernimmt, bekommt jedoch in Jean Luc Marceau (Jeremy London, „Mall Rats“) einen neuen Betreiber vorgesetzt, der zudem ein Ex-Freund Dianes ist. Als sich Jack von der Mafia blauäugig Geld leiht, um es im Kasino zu vermehren, misslingt der Coup natürlich. Von Geldsorgen und Verlustängsten getrieben, lässt er sich auf ein Geschäft mit Mafioso Geno Scarpacci (Chazz Palminteri, „Bloody Marie – Eine Frau mit Biss“) ein: Er soll ihm einen Abend mit Jamie Stephens vermitteln – eine Rolle, für die Diane prädestiniert ist…

„Ich komm‘ mir vor wie Sandra Bullock!“

Der Prolog ist witzig: In einer Late-Night-Show-Parodie tritt Pamela Anderson als Gaststar auf. Auch Dianes Casting, bei dem sie es hoffnungslos übertreibt und das daraufhin in Slapstick endet, ist für einen Lacher gut. Dem Regie-Duo gelingt es jedoch, nach diesem Auftakt seinen Film so ziemlich an die Wand zu fahren. Während Diane sich der Angebote des Pornoproduzenten ausgesetzt sieht, foltert die örtliche Mafia einen Schuldner und richtet ihn hin. Diese Sprunghaftigkeit zieht sich lange Zeit durch die mit zahlreichen Timing-Problemen kämpfende Handlung. Eine angezogene Sexszene mit einer dicken Schwarzen wirkt, wie so oft in US-Produktionen, anzüglich und prüde zugleich. Dazu im Kontrast stehen die Szenen, nachdem sich Diane als Schauspiel-Coach für eine Pornoproduktion hat verpflichten lassen: Freizügige Darstellerinnen öffnen ihre Blusen und der branchentypisch platte Wortwitz wird parodiert.

Die dramaturgische Klimax stellt der Restaurantbesuch Dianes als Jamie mit Mafioso Geno dar, für den sich Jack mit ihr unter einem Tisch kauernd verkabelt, um ihr Details aus Jamies Biographie zuzuspielen. Dumm nur, dass die beiden Mafia-Gorillas mit an Jacks Tisch sitzen und der Schwindel nach einiger Zeit auffliegt. Das Potential dieser Zuspitzung schöpfen die Regisseure leider kaum aus. Ein gelungener Gag hingegen ist das Unvermögen der Gorillas, mit einer MP umzugehen. Nach einer Verfolgungsjagd im Touribus organisiert Regisseur Hawk Miller (Miguel A. Núñez Jr., „The Return of the Living Dead“) ein Treffen mit der echten Jamie Stephens, woraufhin Diane eine Rolle bei ihm bekommt. Man spannt zum Schluss den Bogen zum Prolog, wenn Diane in eine Late-Night-Show eingeladen wird, wo es zur Konfrontation mit ihrer Doppelgängerin kommt.

Sowohl Witz als auch Dramaturgie bleiben in dieser bewusst trashigen, möchtegern-Filmbranchen-satirischen Komödie viel zu häufig auf der Strecke, erzwungen obszöne Dialoge und müde Gags zerren auf Dauer an den Nerven. Immerhin ist Hauptdarstellerin Nicky Whelan hübsch anzusehen, außerhalb von zumeist TV-Serien und Billigproduktionen arbeitet sie als Fotomodell und ist tatsächlich so etwas wie eine makellose Schönheit. Anstelle ihrer die „Baywatch“-Plastikhupennixe Pamela Anderson in den Mittelpunkt der Werbekampagne für diese Direct-to-DVD-Produktion zu stellen, ist eine bodenlose Unverschämtheit. Wäre es dem Film gelungen, auch erzählerisch zu punkten und bessere, weniger debile Gags zu bieten, hätte durchaus die Hoffnung auf eine unterhaltsame, satirisch angehauchte Abrechnung mit den Mechanismen der sog. Traumfabrik bestanden – in dieser Form jedoch ist das Ergebnis reichlich halbgar und vermurkst.
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Feuchtgebiete

„Lieber jetzt ein zerschrammtes Knie als später ein gebrochenes Herz!“

Der Debütroman der ehemaligen Musik-TV-Moderatorin Charlotte Roche, „Feuchtgebiete“, wurde nach seinem Erscheinen 2008 kontrovers diskutiert. Er galt schnell als Ekel- und Skandal-Werk, denn ausführlich und detailliert beschrieb Roche Masturbations- und Sexualpraktiken ihrer Protagonistin sowie ihre Vorliebe für körperliche Düfte, Geschmäcker und Ausscheidungen bis hin zu autoaggressivem Verhalten. Wie sich ein solcher Stoff adäquat verfilmen lassen soll, ist eine Frage, die sich sicherlich nicht nur Regisseur David Wnendt stellte: Für seinen dritten Spielfilm aus dem Jahre 2013 machte er eine recht luftige Erotik-Dramödie aus dem Stoff, die abermals manchem die Schamesröte ins Gesicht und verklemmte Sittenwächter ebenso wie Sexisten auf die Barrikaden trieb.

Obwohl erst 18 Jahre jung, wird Helen (Carla Juri, „Jump“) von fiesen Hämorrhoiden geplagt. Als sie sich widerwillig die feinen Härchen um ihren Anus abrasiert, zieht sie sich eine schmerzhafte Analfissur zu, die stationär behandelt werden muss. Im Krankenhaus ans Bett gefesselt beginnt sie mit ihrem Pfleger Robin (Christoph Letkowski, „Diaz: Don’t Clean Up This Blood“) zu flirten, vor allem aber, über ihre kaputte Familie nachzudenken – und ihre Körperlichkeit und ihr Sexualleben Revue passieren zu lassen. Denn während ihre Mutter (Meret Becker, „Die Sieger“) einem Putz- und Hygienezwang unterliegt, wurde aus Helen die Antithese zu ihrer Erzeugerin: Sie vögelt gern durch die Gegend, steht auf Körpersäfte und masturbiert mit Avocadokernen…

„Stellen Sie sich immer so vor?“

Roches Roman war eine Kampfansage an Hygiene- und Reinlichkeitswahn, ein Gegenentwurf zum Verleugnen menschlicher Gerüche und Geschmäcker sowie individueller Gelüste und Praktiken, zu Lust- und Körperfeindlichkeit. Nicht so recht zusammenpassen wollten die psychologische Komponente, die Roche einbrachte, und die auf Übertreibung und Tabubruch angelegten, ausgeschmückten Schilderungen Helens Intimlebens inkl. sämtlicher unappetitlicher Details, denen tatsächlich etwas Pornographisches anhaftete, die auf Dauer aber auch eintönig wurden. Wnendts Verfilmung beginnt mit einem eingeblendeten Verriss eines empörten Lesers des Romans, bevor Helen aus dem Off von ihren Hämorrhoiden berichtet und auch in der Folge weiterhin als Erzählerin durch den Film führen wird. Eine Szene, in der sie Hämorrhoidensalbe auf einer widerlichen öffentlichen Toilette aufträgt, geht über in einen animierten Vorspann voller Bakterien. In zahlreichen Schilderungen, Rückblenden und Tagträumen Helens lernen wir sie und ihr Leben kennen: Den Putzfimmel und das notorische Misstrauen ihrer Mutter, die Scheidung der Eltern (Vater: Axel Milberg, „Nach fünf im Urwald“) und den Beitritt der Mutter zur katholischen Kirche auf der einen, Helens Sexualleben in Form von Cunnilingus und Freiluft-Handjob sowie Masturbation in der Badewanne und gleichgeschlechtlichem Sex im Bordell auf der anderen Seite. Ihre Eltern würde sie am liebsten wieder zusammenbringen.

„Ich würde gern so’ne Pizza essen!“

Auch Helens beste Freundin Corinna (Marlen Kruse, „Polizeiruf 110: In Flammen“) lernt man kennen; diese hat einen Metal-Musiker zum Freund, der auf Ankacken steht. Damit hat Helen allerdings nichts zu tun. Um ihren Analbereich begann sie sich, wie eine Rückblende zeigt, mittels Rasuren zu kümmern, als sie Kanell (Selam Tadese, „Immigration Game“) kennenlernte, der Freude daran hatte, sie zu rasieren. Mit Corinna wiederum verbindet sie eine Blutschwesternschaft: Sie tauschten benutzte Tampons und schmierten sich gegenseitig ihr Menstruationsblut ins Gesicht. Von einem Drogentrip weiß Helen ebenso zu berichten wie vom „Pizzawichsen“, also dem Onanieren mit anschließender Ejakulation auf ein italienisches Grundnahrungsmittel, was genüsslich inkl. Spermaflugs in Zeitlupenbildern zu klassischer Musik ausgekostet wird. Derartigen Unappetitlichkeiten zum Trotz geht es alsbald um etwas ganz anderes, nämlich um Helens fixe Idee, ihre Eltern und deren Besuche im Krankenhaus wieder zusammenzubringen – weshalb sie sich ihre Wunde wieder aufreißt, als sie entlassen werden soll und spätestens damit die Handlung in Richtung Selbstverletzung und ausgemachte psychische Probleme verschiebt.

Dieser Aspekt ist zum einen wichtig, um eine tatsächliche Geschichte anstelle einer losen Anekdotensammlung zu erzählen, andererseits aber auch nicht ganz unproblematisch, wenn er vom Publikum dahingehend aufgefasst wird, dass Helens Freizügigkeit und ihr vielerorts als unhygienisch eingeordnetes Verhalten die Folgen einer zerstörten Familienidylle, also einer „schwierigen Kindheit“, und eines psychischen Belastungstraumas sind. Immerhin würde dies die Aussage des Films infrage stellen. So weit kommt es jedoch glücklicherweise nicht; besser als im Buch lässt sich beides zumindest so weit voneinander trennen, dass die Parteiergreifung für mehr Natürlichkeit in Zeiten von Selbstverleugnung durch falsche Photoshop-Ästhetik, absurde plastischer Chirurgie, Botox-Maskengesichter und Anal-Bleaching sowie möglichst antiseptische Sexualität ohne direkten Körperkontakt erhalten bleibt. Und das Tolle ist, dass dies nicht hasserfüllt und verächtlich mit dem Holzhammer einer verbitterten ungefickten Emanze vermittelt wird, sondern kontrovers und erfrischend humorvoll zugleich von einer juvenilen, frechen, quirligen Hauptdarstellerin. Carla Juri ist ein echter Glücksgriff für diesen Film, gerade weil sie keine klassische Filmschönheit ist. Ohne falsche Scham scheint sie sich in ihr freizügiges Schauspiel zu stürzen, nuschelt sogar ein bisschen wie Roche und wird von einer Kamera eingefangen, die aus „Feuchtgebiete“ eben keinen Softporno macht, sondern konsequent Helens Perspektive beibehält. Fürs Protokoll und die Voyeure: Ja, man sieht Carla Juri komplett unbekleidet, sexuell explizite Szenen bleiben aber aus.

„Feuchtgebiete“ funktioniert für mich in seiner Verfilmung besser als in Buchform, ohne dafür seine provokante Wirkung auf diejenigen einzubüßen, denen freie weibliche Sexualität schon immer suspekt war. Und „Feuchtgebiete“ ist noch so viel mehr, neben dem bereits ausführlich Beschriebenen nämlich auch ein gelungener polarisierender Spaß für größere Jungs und Mädels und ein eindrucksvoller Beweis dafür, wie unspießig und originell deutsches Kino sein kann. Nichtsdestotrotz sollte natürlich geschützter Geschlechtsverkehr bei Partnerwechseln weiterhin selbstverständlich sein und zweifelsohne gibt es in der Tat fiese Erreger und Krankheiten, die man sich durchaus auf Bahnhofstoiletten oder durch ein mangelndes Mindestmaß an Hygiene einfangen kann. Es gilt wie so oft im Leben, die richtige Balance zwischen den Extremen zu finden. Mit Songs wie Peaches‘ „Fuck the Pain Away“ oder dem unter den Abspann gelegten „Come Into My Mouth“ von Thee Headcoatees hat man zudem übrigens bestens passende musikalische Untermalung aus dem Archiv gezaubert. Man läuft nach dem Film- (oder Buch-)genuss allerdings Gefahr, Avocados zukünftig mit bestimmten Bildern zu assoziieren...

Vorsichtige 7,5 von 10 Pizzastücken werden nach der Erstsichtung ins Krankenhaus geliefert, vorbehaltlich etwas Luft nach oben.
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Leave Us Alone!

Dänen lügen nicht?

„Alles hier ist Schrott.“

Der dänische Pädagoge und Regie-Autodidakt Lasse Nielsen inszenierte in den 1970ern drei Spielfilme, die allesamt dem Coming-of-Age-Bereich zuzuordnen sind. Bei zwei von ihnen, dem Debüt „Leave Us Alone“ und dem relativ populären „You Are Not Alone“, teilte er sich die Regie mit Ernst Johansen, der es ebenfalls auf drei Regiearbeiten in jener Dekade brachte. Ihr Erstling „Leave Us Alone“ aus dem Jahre 1975 ist eine interessante „Herr der Fliegen“-Variation und hat noch nicht, wie später „You Are Not Alone“, vornehmlich Homosexualität zum Inhalt.

„Es ist immer gut, ein Loch zu haben!“

Unter den jungen Bewohnern eines Kinderheims macht sich Unmut breit: Die Lehrer streiken, die Ferienfahrt soll daher ausfallen. Fünfzehn Kinder und Jugendliche in der Altersspanne zehn bis 16 nehmen die Organisation kurzerhand selbst in die Hand, verschaffen sich u.a. mittels Handtaschenraubs bescheidene Mittel, kapern ein Boot und setzen auf ein unbewohntes Eiland über. Dort kampiert man, genießt Sonne und Meer, errichtet Holzhütten und versammelt sich zu Gitarrenklängen am Lagerfeuer. Die Pubertierenden unter ihnen fummeln und kommen sich näher, während im Radio vom Verschwinden der Gruppe berichtet wird. Doch es dauert nicht lange, bis die Nahrung knapp wird, zudem wurde das Boot nicht richtig vertäut und treibt aufs Meer davon. Martin (Martin Højmark) übernimmt Verantwortung, stellt Regeln auf und verteilt Aufgaben, um eine Ordnung zu etablieren und das Zusammenleben zu erleichtern – wogegen Jens (Jens Wagn Rasmussen) rebelliert und sich zusammen mit drei Freunden von der Gruppe absetzt…

Der in seiner deutschen Heimkino-Veröffentlichung lediglich untertitelt vorliegende Film eröffnet mit einem in Schwarzweiß gedrehten Prolog, der die Enttäuschung der Heimbewohner und ihre daraus resultierenden Pläne zeigt. Der Vorspann wurde mit einem Lied der dänischen Schlagersängerin Mette unterlegt, einzelne Kinder werden währenddessen per Namenseinblendungen vorgestellt. Sobald die Gruppe reisefertig ist, schaltet man auf Farbe um, als verließe man die triste, graue Erwachsenenwelt und begebe sich in die kunterbunte Welt der Eigenverantwortlichkeit und Freiheit. Ausdruck dieser Freiheit war offenbar auch Nacktheit; die pubertierenden Laiendarstellerinnen und -darsteller zeigen sich oben ohne, es wird geknutscht und nacktgebadet, Svend (Svend Christensen) und sein Zeltgenosse sammeln vorsichtig erste homosexuelle Erfahrungen, für andere findet die erste Liebe romantisch im Gras liegend statt. Die Jüngeren spielen vergnügt, Kleidung wird im Fluss gewaschen, schöne Natur- und Landschaftsbilder in Kombination mit anheimelnder Musik machen Lust auf Camping-Urlaub.

Die Kehrseite der Medaille beginnt jedoch mit dem Verlust des Boots ins Bewusstsein vorzudringen. Die Idylle bekommt erste Risse, als man den möglicherweise Verantwortlichen schneidet, ein Junge gar einen Stein auf ihn wirft. Man ist gezwungen, Fischen zu lernen, nicht alle kommen gut mit der nächtlichen Dunkelheit zurecht, mit dem knappen Essen wird gehadert. Ein gefundener Bonbon kann für satte 50 Kronen verkauft werden (witzigerweise durfte der Käufer vorher sogar von ihm kosten). Nachdem sich Martin als eine Art Führungspersönlichkeit hervortat, verliert jemand komplett die Nerven und geht mit einem Messer auf den Bootsverantwortlichen los. Sven ertrinkt im Meer, seine Leiche findet man am Strand, plötzlich erklingt rockige Musik auf der Tonspur. Am Lagerfeuer unterhält man sich über den Tod und verbuddelt Svend am nächsten Morgen. Interessanterweise stellen die Filmemacher nach diesem Todesfall die Musikuntermalung vollständig ein. Als sich jemand am Bein verletzt, wird ein Floß gebastelt, um den Patienten ans andere Ufer bringen zu können – was jedoch misslingt.

Gesellschafts- und Systemkritik sowie idealisierte politische Utopie finden in einer Sequenz Ausdruck, in der man zwei Jungen im Gespräch Dialogzeilen in den Mund legte, die ich hier gern komplett zitieren möchte: „Die lebten oben in einer Gemeinschaft, wo sie alles geteilt haben. Sie leben zusammen und teilen Sachen.“ – „Aber was, wenn du alleine sein willst?“ – „Das ist kein Problem in dieser Gemeinschaft. Du hast das Recht, allein zu sein, wenn du es willst. Ich war auch bei einem Treffen der Stadtverordneten. Da trafen sich Repräsentanten, die dem Bürgermeister halfen, die Stadt zu leiten. Aber die Idee hinter der neuen Gesellschaft, die sehr gut sein könnte, könnte auch bei uns klappen. Es wäre toll, wenn wir Freunde werden könnten und das hier zusammen regeln könnten. So, wie es jetzt läuft, wird es zu einem Krieg kommen, weil wir gegeneinander arbeiten. Ich mag es lieber, wenn wir zusammen sind, alles teilen, uns gegenseitig respektieren und dies als Gemeinschaft betrachten, in der jeder Verantwortung trägt. Eigentlich wäre ich gerne in einem Kommunistencamp. Kommunismus ist wie die Gesellschaft, in der Leute aufeinander achten und Sachen teilen, wo man gemeinsame Verantwortung spürt. Er bedeutet Liebe und Zusammenhalt, und jeder bekommt dasselbe. Niemand bekommt viel Geld und niemand bekommt wenig Geld.“

Die abtrünnige Gruppe um Jens spielt Indianer, schlitzt sich die Handflächen auf und jagt einen Fasan, dem sie den Kopf abschneidet, um sich mit dessen Blut zu beschmieren. Regieduo und Darsteller schrecken für diese Szene offenbar nicht vor Tiersnuff zurück. Die „Indianer“ erklären zudem einen vorbeischlendernden Jungen zum Eindringling in ihr Gebiet und fesseln ihn an einen Baum. Unbeaufsichtigt stranguliert sich der Gefesselte mit tödlichem Ausgang, zum allgemeinen Entsetzen. Die Indianer-Metapher und -Konnotation, die hier heraufbeschwören wird, ist ziemlich unglücklich und erinnert an rassistische alte US-Western. Bevor der Film endet, findet ein weiterer Junge den Tod, als er während einer Prügelei mit einem Stein erschlagen wird. Auf einen Abspann wird verzichtet, der Schlager vom Beginn wird nun zum schwarzen Bild geträllert und klingt verdammt zynisch.

Natürlich ist die Handlung als Allegorie auf die Gesellschaft und Erwachsenenwelt zu verstehen: Während die einen über eine neue, bessere Gesellschaftsordnung nachdenken, verrohen die anderen. Das ist gleichzeitig ein gutes Stichwort, denn wer nun glaubt, es bei „Leave Us Alone!“ von seinen Schwächen abgesehen mit einem Film zu tun zu haben, der große gesellschafspolitische Themen auf eine Gruppe Heranwachsender herunterbricht, damit zwecks besserem Verständnis abstrahiert verhandelt und diesen Aspekt zudem mit halbwegs authentischen Coming-of-Age-Motiven vermengt, die vor der Skandalisierung natürlicher, ungezwungener Nacktheit auch Minderjähriger die Zeit des Entdeckens von Sexualität und erster Liebe vor dem Hintergrund eines großen Abenteuers geschmackvoll illustriert, liegt einerseits nicht unbedingt verkehrt, denn eine voyeuristische Fleischbeschau ist der konsequent düster werdende, mit einem offenen Ende versehene „Leave Us Alone“ sicherlich nicht. Andererseits könnten, wie meine Recherchen für diese Zeilen ergaben, die realen Drehumstände nicht widersprüchlicher gewesen sein, denn in der jüngeren Vergangenheit häuften sich massive Vorwürfe von unter diesen Regisseuren gearbeitet habenden Darstellerinnen und Darstellern: Diese bezichtigen die sich ausgerechnet nach Thailand abgesetzt habenden und dort unter Decknamen lebenden Regisseure des systematischen sexuellen Missbrauchs. Zumindest Johansen räumte die Taten ein und ist mehrfach aufgrund Kindesmissbrauchs verurteilt worden.

Damit erfüllt sich leider einmal mehr das Klischee der, unter dem Deckmantel damals zeitgenössischen Freiheitsbegehrens und offenen Umgangs mit Sexualität nach Jahrzehnten der Prüderie, ausgemachten Perversion älterer Männer, die die Errungenschaften der sexuellen Revolution auf verachtenswerte Weise ausbeuten, dabei noch von einer besseren und gerechteren Gesellschaft zu träumen vorgeben, jedoch alle vorgegebenen Ideale mit Füßen treten und in den Dreck ziehen. Insbesondere die irrige Annahme, sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen könnte in irgendeiner Weise vertretbar sein, scheint sich wie ein roter Faden durch jene häufig idealisierten Zeiten ziehen. Dass ausgerechnet ein dänisches Unternehmen in den 1970ern einer der größten professionellen Anbieter von (damals unfassbarerweise legaler!) Kinderpornographie war, passt da ins beschämende Bild einer weit übers Ziel hinausgeschossenen Liberalisierung.

„Leave Us Alone!“ an sich ist für das, was er ist, kein schlechter Film und die deutsche FSK bescheinigte ihm sogar eine Freigabe ab 12 Jahren, vermochte also ebenfalls keine Jugendgefährdung oder gar allzu sexuelle Ausrichtung erkennen. Bei Kenntnis der eben beschriebenen Hintergründe dürfte sich das Sehvergnügen jedoch empfindlich reduzieren.

P.S.: Für die Untertitel wurde bei weitem nicht jede Dialogzeile übersetzt, was evtl. ein Indiz für deren Redundanz sein könnte.
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Tatort: Das verschwundene Kind

Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) ist zurück! In ihrem 26. Fall allerdings nicht mehr als LKA-Ermittlerin in Hannover, sondern nach ihrer Strafversetzung als Kripo-Kommissarin in Göttingen. 2017 hatte sie im Rahmen erfolgloser Ermittlungen einen solchen Druck auf einen Unschuldigen ausgeübt, dass dieser sich das Leben nahm (vgl. „Tatort: Der Fall Holdt“). Neu an ihrer Seite ist Kommissarin Anaïs Schmitz (Florence Kasumba, „Black Panther“), mit der sie ein Team bilden muss – ob sie will oder nicht. Der 2018 gedrehte und am 03.02.2019 erstausgestrahlte Fall entstand nach einem Drehbuch Jan Brarens, Stefan Dähnerts und Franziska Buchs („Yoko“), welche auch Regie führte und damit innerhalb der Krimireihe debütierte.

Nach ihrer Versetzung nach Göttingen sieht sich Lindholm unter Leitung des Kripo-Chefs Gerd Liebig (Luc Feit) zusammen mit ihrer Kollegin Anaïs Schmitz mit einem ungewöhnlichen Vermisstenfall konfrontiert: In schmuddeligen Schulumkleideräumen fand eine Geburt statt, doch von Mutter und Kind fehlt – abgesehen von Blut, Käseschmiere und Plazenta – jede Spur. Die Kindsmutter Julija Petkow (Lilly Barshy, „Die verschwundene Familie“) jedoch ist bald ermittelt, die Tochter eines alleinerziehenden, gottesfürchtigen Einwanderers aus Russland (Merab Ninidze, „Ikarus“) hatte ihre Schwangerschaft verdrängt und sie allen gegenüber verheimlicht. Doch wo ist das Kind? Diese Frage genießt für Lindholm und Schmitz höchste Priorität, denn möglicherweise ist es noch am Leben. Es stellt sich jedoch auch die Frage nach dem Vater: Kommt Julias Lehrer Johannes Grischke (Steve Windolf, „Tatort: Mord Ex Machina“) infrage, in den sie verliebt war? Oder ist der mit Drogen dealende Kleinkriminelle Tim Bauer (Oskar Belton, „Die Bergretter: Winterkind“) verantwortlich, der Julia bereits einmal unter Drogen gesetzt und sie sexuell missbraucht hat? Muss man evtl. gar Julias seine Tochter zu einem engelsgleichen Wesen idealisierenden Vater in Verdacht nehmen? Julias einzige Unterstützung ist zurzeit ihr gerade erst aus dem Gefängnis entlassener Stiefbruder Nino Brehmer (Emilio Sakraya, „Bibi & Tina - Voll verhext!“), der sich eigentlich weder ihr noch ihrer Familie nähern darf. Sein Kickbox-Trainer Ralf Schmölke (Oliver Stokowski, „Der Skorpion“) hält seinen Schützling für ein großes Talent und betrachtet die Situation mit Argwohn…

Regisseurin Franziska Buch musste sich der Herausforderung stellen, sowohl dem nach Art eines Kriminaldramas konzipierten Ermittlungsfall als auch Lindholms Zurechtfinden in einem neuen Umfeld ausreichend Platz einzuräumen. Dabei trifft sie auf ein unsympathisches Arschloch von Vorgesetztem, der jedoch „flache Hierarchien“ betont und sofort zum kollegialen Duzen übergeht, gerät mit ihrer neuen Kollegin, der farbigen Schmitz, aneinander, die sie irrtümlich für eine Reinigungskraft hält, und zeigt selbst keinerlei Reue ihre Vergehen in Hannover betreffend, sondern lässt in ihrer Arroganz keinen Zweifel daran, dass sie die Entscheidung anfechten und in spätestens zwei Wochen wieder weg sein werde. In dieser Troika ist also zunächst einmal eine(r) unsympathischer als der/die andere, doch man ist zusammenzuarbeiten gezwungen, wenn auch vor lauter Stutenbissigkeit hin und wieder die Fetzen fliegen und auch schon mal die Hand ausrutscht. Auf diese Weise wird schön illustriert, wie man es sich an einem neuen Arbeitsplatz selbst unnötig schwermachen kann. In Person Anaïs Schmitz hat Lindholm indes eine neue Partnerin an der Seite, die Haare auf den Zähnen hat, keinen Spaß versteht und permanent eine latente Aggression ausstrahlt. Eigentlich gehört keine von beiden in den Polizeidienst.

Nun sind sie aber doch da und treten viel auf der Stelle, bis Zufälle wie eine Zeichnung der kleinen Schwester Julijas zur Lösung des Falls führen. Und dieser Fall geht an die Nieren. Bereits der sich vor Wehenschmerz krümmenden Julija bei ihrem Gang auf die Toilette einer Umkleide zuzusehen, bereitet beinahe körperliche Schmerzen, von ihrer anschließenden Flucht voller Blut, den Bildern des blutverschmierten Orts und dem Herausfischen der Plazenta aus der verstopften Toilette ganz zu schweigen. Dass der Verdacht im Raum steht, es könne einen Missbrauchshintergrund geben, trägt ebenso wenig zur Erheiterung bei wie die Bilder des toten Neugeborenen. Ein in der Umkleide gefundener Ring mit Teufelsfratze und ein überlebensgroß an die Wand geschmiertes Pentagramm lenken den Verdacht zudem in Richtung einer Okkult-Sekte, womit die Handlung jedoch auf eine vollkommen falsche Fährte führt. Problematisch ist dabei auch, dass man suggerierte, das Pentagramm sei im Rahmen der Niederkunft mit dem Blut der Mutter oder gar des Kinds aufgetragen worden, was jedoch im weiteren Verlauf nie mehr aufgegriffen wird.

Dies ist bereits die größte erzählerische Schwäche dieses „Tatorts“, dessen übrige Fragen nach dem Auswerfen diverser roter Heringe allesamt zufriedenstellend geklärt werden – und man sich sogar um so etwas wie ein für alle Seiten versöhnliches Ende bemüht, womit man einen möglichen Umgang mit einer solchen oder ähnlichen Situation für selbst Betroffene empfiehlt. Größtes Pfund ist das eindringliche Schauspiel Lilly Barshys, die im wahrsten Sinne des Wortes alles aus sich herausholt. Werbung für die Universitätsstadt Göttingen ist dieser Fall eher nicht, dafür mangelt es ihm an Sympathieträgern und ist er schlicht zu unangenehm. Der um mehr Diversität bemühte „Tatort“ mit seiner ersten schwarzen Ermittlerin ist für einen verkaterten Sonntagabend im Fernsehsessel oder auf dem Sofa starker Tobak, der nur unwesentlich vom Running Gag des ständig verlegten Handys Lindholms aufgelockert wird. Die (falschen) Verdächtigungen werden mitunter etwas plump integriert, streifen dabei aber immer wieder eigene Themen, die unter anderen Filmschaffenden als eigene Aufhänger eines ganzen Kriminalfalls herangezogen werden. Uhrzeiteinblendungen sollen insbesondere während der Suche nach dem Neugeborenen den Wettlauf gegen die Zeit illustrieren. Und wer bis zum Ende durchgehalten hat, hat vielleicht ein differenzierteres Bild vom zunächst immer so eigenartig anmutenden Phänomen der verdrängten oder unbemerkten Schwangerschaft, ihrer möglichen Hintergründe und der schwierigen Situation, in der sich die – häufig jungen – Mütter befinden, gewonnen.
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Dr. Zyklop

„Wir halten in unseren Händen die kosmische Kraft der Schöpfung an sich!“

Vor seiner seriösen und äußerst gelungenen Heimkino-Veröffentlichung im deutschen Raum schien „Dr. Zyklop“ beinahe so etwas wie das bestgehütete Geheimnis des Science-Fiction-Horror-Genres zu sein: Das 1940 erschienene Mad-Scientist-Abenteuer wurde von „King Kong“-Co-Regisseur Ernest B. Schoedsack inszeniert, Tom Kilpatrick geschrieben und Merian C. Cooper koproduziert. Für seine Spezialeffekte wurde es für einen Oscar nominiert, stellte er doch bereits 17 Jahre vor Jack Arnolds „Die unglaubliche Geschichte des Mr. C“ ein Menschenschrumpfungs-Spektakel dar, das zudem in Technicolor gedreht wurde. Dennoch läuft er verglichen mit vielen als Klassiker anerkannten Genre-Größen (auch aus dem B-Bereich) in der cineastischen Aufmerksamkeit unter ferner liefen.

„Sind Sie krank?!“

Im peruanischen Dschungel betreibt der Biologe Dr. Thorkel (Albert Dekker, „Rattennest“) Forschungen mit radioaktivem Erz. Als er ein Team Mineralienforscher unter der Leitung Professor Bulfinchs (Charles Halton, „Sein oder Nichtsein“) herbestellt, wird ihm dieses bald zu neugierig und aufmüpfig. In der Konsequenz beschießt er die Forscher mit einem hochkonzentrierten Radiumstrahl, wodurch sie auf Zentimetergröße schrumpfen. Dr. Thorkel freut sich über den Ausgang seines Experiments, weiß jedoch auch, dass seine Versuchsobjekte bald wieder auf normale Körpergröße anwachsen – weshalb er sich gezwungen sieht, sie umzubringen. Ein Überlebenskampf Klein gegen Groß, David gegen Goliath, beginnt…

„Was Sie tun, ist Wahnsinn! Es ist diabolisch! Sie spielen mit Kräften, die nur einem vorbehalten sind: Gott!“

Bereits im Prolog endet ein Streit zwischen Thorkel und einem Wissenschaftskollegen tödlich (inkl. eines hübschen Kopfskelettierungseffekts), sodass man gleich weiß, wie man Thorkel einzuschätzen hat. Die anschließende Exposition hingegen erscheint zunächst sehr idyllisch, Bulfinch stellt die Expedition zusammen und frohgemut geht es gen Peru. Nach Ankunft seiner Gäste gibt sich der sehschwache Brillenträger Thorkel zunächst äußerst jovial. Bald jedoch folgen Schrumpfung, Versteckspiel, Messungen, Renitenz, Fluchtversuch und Überlebenskampf. Alltägliche Gegenstände erscheinen plötzlich überlebensgroß und stellen echte Herausforderungen dar. Haus- und Nutztiere werden zu tödlichen Gefahren und die Natur hält manch schier unüberwindliche Hindernisse bereit. Kurioserweise wurden die Delinquenten ihrer Kleidung beraubt und müssen sich nun in weiße Gewänder hüllen.

Die Spezialeffekte sind fürs Jahr 1940 höchst beeindruckend ausgefallen und wurden u.a. mittels Rückprojektionen ohne Bluescreen umgesetzt, darüber hinaus natürlich mit zahlreichen Miniaturen. Das Waldambiente verstärkt den Eindruck des Abenteuerfilms, zumal diverse Anspielungen auf die klassische Odyssee inkl. „Zyklopenblendung“, als man die Brille des Docs zerstört, in die Handlung integriert wurden (und damit auch den Filmtitel erklärt). Der zurückgezogen agierende irre Wissenschaftler ist ein gängiges Genremotiv, für das man mit Albert Dekker den idealen Schauspieler fand: Ihm haftet hier etwas teutonisch nazihaftes an, was die Skrupellosigkeit und den Größenwahn seiner Rolle unterstreicht. Der Umgang mit bzw. die Erwartungshaltung an Radioaktivität mutet in „Dr. Zyklop“ noch sehr naiv an und die Hintergrundgeschichte bleibt leider flach: Worauf genau zielen Thorkels Experimente eigentlich ab, von der Befriedigung seiner Allmachtsphantasie einmal abgesehen? Die erzählte Geschichte kann als Allegorie auf die Möglichkeiten Unterprivilegierter, sich mittels List, Intelligenz und Zusammenhalt gegen scheinbar übermächtige Bedrohungen zu behaupten, verstanden werden, wobei die Gruppe Geschrumpfter indes recht heterogen, nicht durchweg sympathisch und etwas klischeebehaftet ist, der Mexikaner unter ihnen (Frank Yaconelli, „Im Zeichen des Zorro“) zudem als unterwürfig und im Geiste etwas schlicht negativ konnotiert wird, was aus heutiger Sicht natürlich fragwürdig erscheint. Dem Unterhaltungswert ihrer von einem etwas aufdringlichen Bombast-Orchester-Soundtrack unterlegten Abenteuer tut das selbstverständlich keinen Abbruch.

Auch aus heutiger Sicht bietet „Dr. Zyklop“ durchaus aufregende Unterhaltung, bezieht seinen Charme aus manch zeitgenössischer Naivität und versetzt mit seinen frühen Spezialeffekten sowie dem Aufwand und der Sorgfalt, mit denen sie umgesetzt wurden, in Erstaunen. Hauptdarsteller Albert Dekker wurde übrigens später unter ungeklärten Umständen ermordet, sein(e) Mörder wurde(n) nie gefasst.
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Nenè - Die Frühreife

„Verliebt zu sein ist Wahnsinn!“

Aus dem Jahre 1977 stammt „Malizia“- und „Der Filou“-Regisseur Salvatore Samperis Verfilmung eines Romans Cesare Lanzas, für die er zusammen mit Alessandro Parenzo auch das Drehbuch verfasste: Die im Nachkriegsitalien des Jahres 1948 angesiedelte Dramödie „Nenè - Die Frühreife“.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs stehen die ersten freien Wahlen im postfaschistischen Italien an. Während die katholische Kirche ihren Einfluss nutzt, um sich für die Christdemokraten starkzumachen, appelliert die Kommunistische Partei an die Solidarität der Bevölkerung und ihren Menschenverstand. Ein Kriegsheimkehrer und Familienvater zweier Kinder (Tini Schirinzi, „Drei Brüder“), der Tochter Pa (Vittoria Valsecchi) und des Sohns Ju (Sven Valsecchi, „Silbersattel“), versucht, seine Familie trotz Geldmangels über die Runden zu kriegen, wird jedoch von seiner Frau aus gutem Hause (Paola Senatore, „Black Emanuelle - Stunden wilder Lust“) immer wieder harsch kritisiert. Regelmäßig platzt ihm dann der Kragen und er züchtigt Frau und Tochter mit Gerte und Stock. Sein intelligenter neunjähriger Sohn bleibt davon verschont. Mit ihm spielt er Schach, wobei er regelmäßig verliert, und lässt ihm verhältnismäßig viele Freiheiten. Unterrichten lässt er ihn von einer Privatlehrerin (Rita Savagnone, „Liebe auf sizilianisch“). Als sein Bruder, dessen Frau abgehauen ist und der aufgrund starker gesundheitlicher Probleme seine Rolle als Vater nicht mehr ausfüllen kann, ihn darum bittet, seine 14-jährige Tochter Nenè (Leonora Fani, „Giallo a Venezia“) bei sich aufzunehmen, kommt er der Bitte nach. Schnell freundet sich Ju mit seiner attraktiven Cousine an, die sehr freizügig mit ihm über Sex redet und sich in den jugendlichen Mulatten Rodi (Alberto Cancemi) verliebt, den Ju kurz zuvor kennengelernt hatte.

Nach’m Kriech, wir hatten ja nüscht… Nicht mal Namen (wie die hier namenlosen Eltern) oder zweite Silben für die Namen der Kinder. Die zweite Silbe hält erst mit Nenès Ankunft Einzug, der Film ist jedoch aus der neugierigen und zugleich unverdorben kindlich-naiven Sicht Jus erzählt. Dass sein Vater im Krieg gewesen sei und dem Tod ins Auge geblickt habe, wird zum geflügelten Wort und muss immer wieder für Unzulänglichkeiten des Vaters als Entschuldigung herhalten, derer zunächst gar nicht so viele offensichtlich sind. Klar hat man es nicht leicht, aber das gegenseitige Gekabbel hat einen ironischen Unterton und erinnert bisweilen an Screwball-Komödien. Umso überraschender erscheint es, als er tatsächlich zur Gerte greift. Gegenüber seiner Frau könnte dies jedoch auch sado-masochistisch motiviert sein, wie von Ju beobachtete Bettszenen evtl. suggerieren möchten.

Nicht heimlich beobachten muss Ju seine Cousine, mit der er in einem Zimmer schläft und die ihm gegenüber keinerlei Schamgefühl zeigt. Sie zeigt sich ihm nackt, masturbiert neben ihm im Bett liegend und lutscht auf seinen Wunsch hin später sogar an seinem Penis, wie er es zuvor bei seinen Eltern beobachtet hatte – natürlich ohne ein vergleichbares Ergebnis zu erzielen. Solche Szenen allerdings zeigt Samperi nicht in expliziten Bildern, sondern lässt sie unter der Bettdecke stattfinden – kinder-/jugendpornographische Tendenzen weist der Film in keiner Weise auf. Es fällt jedoch auf, wie sich das Motiv von Jungen, die mit älteren Mädchen/Frauen erste sexuelle Erfahrungen sammeln, durch Samperis Filmographie zieht. Nenès Interesse gilt zudem Rodi, dem gegenüber sie sich wesentlich zurückhaltender verhält.

Und der Tonfall wird mit der Zeit immer ernster. War des Vaters Friseur (Ugo Tognazzi, „Das große Fressen“) zunächst noch voller Euphorie und fest davon erzeugt, dass seine Kommunisten den Wahlsieg davontragen würden, steht er am Ende ernüchtert auf seiner eigens anberaumten, ins Wasser gefallenen Wahlparty – die verdammten Christdemokraten stellten die stärkste politische Kraft. Als sich Nenè und Rodi näherkommen, mündet zartes Liebesspiel in einem wütend rasenden Aggressionsausbruch Jus Vaters, der mit den vorausgegangenen mehr oder weniger kontrollierten Züchtigungen durch „Hinternversohlen“ nicht mehr zu vergleichen ist. Und Ju, der alles mitansehen muss, dürfte spätestens jetzt bewusst werden, in welch verrohter Welt er auch nach Kriegsende zu leben verdammt ist. Insofern vermute ich, dass Samperi und Lanza eine Allegorie auf noch lange nachwirkende Kriegswehen und zerplatzte Hoffnungen nach den ersten Wahlen erschaffen wollten, dass darin die Aussage des Films liegt. Ohne zumindest marginale Hintergrundkenntnisse ist diese sicherlich nicht ohne Weiteres herauszulesen. Und auch ich bin nicht in der Lage, das exemplarisch gezeigte Gesellschafts- und Sittenbild auf Realismus, Anachronismen u.ä. hin abzuklopfen. Zweifelsohne aber ist „Nenè - Die Frühreife“ gut geschauspielert – auch von den Kindern –, bringt dank der damals eigentlich bereits keine Teenagerin mehr gewesenen Leonora Fani einen nicht ungefähren Sex-Appeal mit, provoziert die eine oder andere extreme Reaktion und illustriert Italien an einem geschichtsträchtigen Scheidepunkt, der Strukturen gebar, auf denen das Land noch heute mehr schlecht als recht fußt. Irritierend ist die changierend artikulierte Handlung dennoch.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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