bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

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Frau ohne Gewissen

„Es ging um viel Geld. Und um eine Frau. Ich verlor beides.“

Sein vierter Spielfilm sollte den Durchbruch für den österreichisch-stämmigen US-Regisseur Billy Wilder bedeuten, doch wichtiger noch: den Film-noir-Stil, der zu Beginn der 1940er-Jahre durch „Die Spur des Falken“ und Konsorten entwickelt worden war, um wichtige Facetten erweitern und damit ausdefinieren. „Frau ohne Gewissen“ aus dem Jahre 1944 ist die Verfilmung eines Romans James M. Cains, der wiederum auf einem realen Kriminalfall basiert – und galt aufgrund der Hays-Zensur lange Zeit als unverfilmbar. Bis Billy Wilder kam, das Drehbuch zusammen mit Hardboiled-Detective-Krimiautor Raymond Chandler verfasste und inszenatorische Mittel fand, die Zensur zu umgehen.

„Kalt und berechnend!“

Versicherungsagent Walter Neff (Fred MacMurray, „Liebling, zum Diktat“) lernt die Femme fatale Phyllis Dietrichson (Barbara Stanwyck, „Du lebst noch 105 Minuten“) kennen, verliebt sich sogleich in sie und lässt sich in ihren teuflischen Plan einspannen: Sie möchte ihren Ehemann (Tom Powers, „Der schwarze Reiter“) um die Ecke bringen, um ein hübsches Sümmchen aus dessen Unfallversicherung zu kassieren, von dem das Opfer in spe gar nicht weiß, dass sie sie bei Walter Neff für ihn abgeschlossen hat…

„Frau ohne Gewissen” alias „Double Indemnity“ spielt gegen Ende der 1930er Jahre und steigt direkt am Ende der Geschichte ein: Der vollkommen fertige und schwitzende, sterbende Walter schleppt sich in sein Büro und diktiert für seinen Chef ein Geständnis auf Tonband. Diese Szene leitet eine ausgedehnte Rückblende ein, die die Ereignisse rekapituliert; Walters Stimme wird dabei zum Voice-over-Erzähler – und damit zu einem zukünftig typischen Element des Film noir. Mit dem Inbegriff der Femme fatale, der eine blonde Perücke tragenden Phyllis Dietrichson, beginnt Walter justament zu flirten und besiegelt damit sein Schicksal. Aufgrund ihrer seltsamen Fragen steht schnell die Vermutung im Raum, sie wolle ihren Mann umbringen, doch sie wirft sich ihm, nach Jasmin riechend, an den Hals und verdreht ihm manipulativ den Kopf. Dass Walter Schlimmes hinter sich hat und gerade am Aufnahmegerät sitzt, wird zwischendurch immer mal wieder durch einen kurzen Schnitt in die filmische Gegenwart ins Gedächtnis gerufen.

Vor allem aber sieht man Walter sich bereitwillig in den Abgrund stürzend, indem er mit Phyllis den Mord plant, dessen Durchführung minutiös vor den Zuschauerinnen und Zuschauern ausgebreitet wird, ohne jedoch den entscheidenden Moment zu visualisieren. Dass es sich bei Walters Chef Edward S. Norton Jr. (Richard Gaines, „A Night to Remember“) um einen sehr integren und intelligenten Versicherer handelt, macht die Sache umso tragischer. Er wittert den Mordfall und will Phyllis überführen. Auch deren Stieftochter Lola (Jean Heather, „Der Weg zum Glück“) hegt diesen Verdacht, sie verdächtigt ihre Stiefmutter gar des Mordes an ihrer leiblichen Mutter. Diese interessanten Nebenfiguren bereichern das spannend erzählte Spektakel. Mit Lolas Freund Nino (Byron Barr, „Sturzflug ins Glück“) kommt gar ein weiterer Mann ins Spiel und es erhärtet sich der Verdacht, dass Walter nur ausgenutzt wurde…

Als Zuschauerin oder Zuschauer befindet man sich quasi permanent an der Seite eines Mörders, Regisseur Wilder macht einen zu so etwas wie dessen Komplizen – heute gang und gäbe, damals ein von den Zensoren nicht gerngesehenes Novum. Zudem ist Walter nicht schlicht ein kantiger Antiheld wie die bis dahin den Film noir dominierenden Hardboiled-Privatdetektive, sondern ein eigentlich recht sympathischer Verlierertyp, mit dem man trotz seiner Taten mitfühlt. Die fantastische Kameraarbeit treibt die vom deutschen Expressionismus inspirierten Schattenspiele auf die Spitze und obwohl sie zensurbedingt gar nicht alles zeigen darf, gelingt es Wilder, die sexuelle Spannung zwischen Walter und Phyllis spürbar werden zu lassen.

Der damalige Film noir im Allgemeinen spiegelte sich verändernde bzw. kriegsbedingt verändert habende Geschlechtergefüge in den USA wider. Vielen Frauen hatten eine neue Selbständigkeit entwickelt, als sie sich gezwungen sahen, in „Männerberufen“ zu arbeiten, während ihre Männer in den Krieg gezogen waren, und die alleinige Verantwortung für die Familie zu übernehmen. Diese neue Wirklichkeit zu akzeptieren fiel vielen Kriegsheimkehrern schwer, sie reagierten mit Skepsis oder Ablehnung. Im Film noir definiert sich die Femme fatale nicht mehr über ihre gesellschaftliche Rolle als Hausfrau und Mutter, sondern strebt nach sexueller und finanzieller Unabhängigkeit, womit sie das Idealbild der Familie dekonstruiert. Die von der patriarchalisch geprägten Gesellschaft empfundene Gefährlichkeit dieses neuen Frauentypus, der nicht nur attraktiv, sondern auch intelligent ist, zeigt sich in seiner Überzeichnung im Film noir: Manipulativ gehen diese Frauen über Leichen, um ihre Ziele zu erreichen. Sie nutzen die Verführbarkeit der Männer, um sexuelles und/oder partnerschaftliches Interesse vorzugeben und sie dadurch zu ihren Handlangern zu machen. Das Geschlechterverhältnis im Film noir ist somit ein von Manipulation, Ausnutzung und Egoismus auf der weiblichen und Verführbarkeit, Naivität, Ausgenutztwerden, emotionaler Abhängigkeit, sexueller Obsession oder eben auch Skepsis und Misstrauen im Falle „standhafter“ Protagonisten auf der männlichen Seite geprägtes. Zugleich steht die Femme fatale für das Infragestellen gesellschaftlicher Institutionen wie der Ehe und für Unabhängigkeitsdrang, Stärke, Mut und Kampfeslust, was ihr etwas Progressives verleiht, das (zumindest bestimmte) Männer wiederum so sehr fasziniert, dass sie sich von ihr angezogen fühlen und zu ihrem Spielball oder Opfer werden können.

Für Phyllis, um auf „Frau ohne Gewissen“ zurückzukommen, bedeutete ihr Plan (vorausgesetzt er wäre aufgegangen) nicht nur finanzielle Unabhängigkeit, sondern auch ein Ausbruch aus ihrer für sie unbefriedigenden Ehe. Somit lassen sich bei aller Gefühlskälte ihre Beweggründe auch als Kommentar zu einer damals verbreiteten, die Frau einengenden und von ihrem Mann abhängig machenden Form der Ehe auffassen. Den Ausgang der literarischen Vorlage musste Wilder abändern, damit sein Film nicht der Zensur zum Opfer fällt. Dennoch ist „Frau ohne Gewissen“ ein sich sehr „komplett“ anfühlender Genrebeitrag, der diverse Charakteristika, die im weiteren Laufe der Filmgeschichte überstrapaziert und zu Klischees werden sollten, etablierte. Wer sich für den Film noir interessiert, muss ihn gesehen haben!
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Tatort: Schönes Wochenende

„Die Alarmanlage ist mit ‘ner Sprengladung verbunden!“

Am 16. November 1980 endete eine „Tatort“-Ära: Hansjörg Felmy schlüpfte in den bundesdeutschen Flimmerkisten ein letztes Mal in die Rolle des Essener Kriminalhauptkommissars Heinz Haferkamp, der zusammen mit Willy Kreutzer (Willy Semmelrogge) 20 Episoden der öffentlich-rechtlichen Krimireihe bestritt. Einmal ließ er sich vertreten („Der Zeuge“, 1980) und im Anschluss sollte er Kreutzer einmal ohne ihn klarkommen müssen lassen („Herzjagd“, 1980), dann aber wich Essen bis auf Weiteres von der „Tatort“-Karte und machte Platz für Duisburg und die Herren Schimanski und Thanner. Haferkamps Schwanengesang wurde von Uwe Erichsen sowie Martin Gies, Bruder des Schimanski-Miterfinders und späteren Duisburger „Tatort“-Regisseurs Hajo Gies, geschrieben und von Wolfgang Staudte im Januar und Februar 1980 inszeniert. Es wurde Staudtes sechster und damit vorletzter „Tatort“, in den 1980ern sollte nur noch „Freiwild“ (1984) folgen.

„Gegen Woody Allen kann ich natürlich nichts machen…“

Das Gauner-Trio Georg Michalke (Dieter Prochnow, „Atemlos vor Liebe“), Nelles (Willy Thomczyk, „Bang Boom Bang – Ein todsicheres Ding“, hier debütierend) und Oebel (Uwe Ochsenknecht, „Das Ding“) plant einen Überfall auf den Essener Lebensmittelgroßhandel. Dabei sind ihnen die Pläne dienlich, die Michalkes alternder ehemaliger Gefängniszellenmitinsasse Peter Brehm (Werner Eichhorn, „Aufforderung zum Tanz“) stibitzt hat. Als dieser dafür beim Coup mitmachen und an der Beute entsprechend beteiligt werden will, macht Michalke kurzen Prozess und erschießt ihn. Der Leichnam wird jedoch schnell auf dem stillgelegten Zechengelände gefunden, wo die Bande ihn behelfsmäßig versteckt hatte. Während die Kommissare Haferkamp und Kreutzer in diesem Mordfall ermitteln, setzen Michalke und seine Komplizen ihren Plan in die Tat um. Da jemand aus der Belegschaft jedoch geistesgegenwärtig den Alarm auslöst und die Polizei umgehend vor Ort ist, versteckt Michalke die Beute in einem Lebensmittelkarton und verlässt das Gebäude ohne sie. An Haferkamp und Kreutzer ist es nun, die Verbindung zwischen dem Mord und dem Überfall zu ziehen, herauszufinden, weshalb die Bande schon feiert, obwohl sie doch eigentlich noch gar nicht wissen dürfte, wie sie wieder an die Beute herankommt, und was all das mit einem Hotel in Lüdenscheid zu tun hat, wo Haferkamp sich selbst auf eine Feier einlädt…

„Scheint eine gefährliche Gegend hier zu sein…“

Das Ambiente könnte nicht stimmiger für Haferkamps Abschied sein: Graue Industriekulissen, ein Großhandel, noch unpersönlicher als jeder Supermarkt, und dazu passendes trübes Winterwetter ohne Eis und Schnee. Haferkamp betritt muffig und sarkastisch die Szenerie, noch bevor der Überfall auf den Großmarkt gezeigt wird: spannend und versiert inszeniert, unterlegt mit funkiger Musik. Tiefergehende Einblicke beschert diese Finalepisode in Haferkamps Privatleben: Er muss wieder einmal Überstunden machen, weshalb er zu spät zu seiner Ex-Frau Ingrid (Karin Eickelbaum) kommt, mit der er verabredet ist. Kreutzer ermittelt, und zwar erfolgreich, woraufhin Haferkamp den Täter zu Hause bei dessen Mutter aufsucht. Anschließend folgt er der Route des Todesopfers, die diese nicht mehr antreten konnte: Er bezieht sein Zimmer in einem Lüdenscheider Hotel, wo der Frühstücksflocken-Großfabrikant „Röders Mühle“ gerade sein Firmenjubiläum feiert. Der Firmenpatriarch (Dirk Dautzenberg, „Ansichten eines Clowns“) hält eine eher unangenehme Feierrede und die zunächst so abweisende, nun tiefdekolletierte Hotelleiterin Doris Zils (Birke Bruck, „Der verliebte Teufel“) wird Haferkamp gegenüber relativ auskunftsfreudig.

„Ich war eben sehr sanft.“ – „Schade…“

Auf eben jener Feier glaubt ein Peepshow-Betreiber, möglicherweise in Menschenhandel mit Thailänderinnen involviert, Haferkamp sei seinetwegen dort – eine witzige, nur leider nicht sonderlich gut geschauspielerte (oder synchronisierte) Szene. Ingrid, die die Einladung ihres Ex-Manns zunächst ausgeschlagen hatte, taucht überraschend doch noch im Hotel auf und nimmt ebenfalls an der Feier teil. Die weniger angenehme Arbeit bleibt für Kreutzer liegen. Als auch er bei Michalkes Mutter vorstellig wird, verplappert sich diese. Obwohl es zunächst nicht den Anschein hat, gehen die Ermittlungen gewissermaßen Hand in Hand. Dennoch gilt es, eine harte Nuss zu knacken. Es ergeben sich am Ende eine überraschende Komplizenschaft, ein innerfamiliärer Generationenkonflikt sowie eine ungesunde Beziehungskiste, aber auch die Überlegenheit des Kombinationsvermögens Haferkamps, der seinem Spürsinn folgend den richtigen Riecher hat. Sein zurückhaltenderes Auftreten und seine Manieren bei ausgeprägtem Hang zur Sachlichkeit, ohne dabei ein Spießer zu sein oder einen übermäßig konservativen Eindruck zu vermitteln, sind jene Eigenschaften, die für seinen WDR-„Tatort“-Nachfolger Schimanski durch eine proletarische Rüpelhaftigkeit und expressive Impulsität ersetzt wurden.

Als Teil des „Tatort“-Publikums darf man sich im bewusst zynisch betitelten „Schönes Wochenende“ noch einmal über die kabbeligen Dialoge zwischen Haferkamp und Kreutzer (der sogar unangekündigt zum Hotelfrühstück auftaucht) freuen, sich ohne Whodunit? oder Motivsuche lange Zeit fragen, wo genau nun eigentlich die Beute steckt und wie die Kripo Michalke und Konsorten habhaft werden will, sowie feststellen, wie nett Lüdenscheid gegen Essen doch aussieht. „Schönes Wochenende“ ist aber auch eine Episode über die Freundschaft respektive Liebe zwischen den Haferkamps, die mehr als verdeutlicht, dass sie viel zu wenig Privatzeit für sich haben (woran auch die Ehe gescheitert ist).

Auf Haferkamps Abschied aus der Reihe deutet indes überhaupt nichts hin. Regisseur Staudte scheint in seinem unterhaltsam erzählten Fall vielmehr auf anderes hindeuten zu wollen, beispielsweise als er Michalkes Tapete mit den vielen Fotos aus dessen Bundeswehrzeit von der Kamera abtasten lässt, ohne dass dies im weiteren Verlauf noch einmal eine sonderliche Rolle spielen würde. Sollte das etwas über die Täterpersönlichkeit aussagen? Dass Unternehmenschef Röder in seinem autoritären Duktus an einen alten Nazi erinnert und man am Ende für mindestens einen Mittäter Verständnis aufbringt, ist sicher kein Zufall, näher ausformuliert wird in dieser Hinsicht jedoch auch nichts. Vielleicht war das aber auch schlicht nicht nötig.

Der Essener „Tatort“ unter der vielschichtigen und sympathischen Kommissarsfigur Heinz Haferkamp dominierte den „Tatort“ der 1970er-Jahre, kein anderer Städtezweig kam auf eine derartige Episodenanzahl. Er illustrierte in seinen Bildern und seinen transportierten Stimmungen nicht selten die Ernüchterung nach den gesellschaftlichen und politischen Reformprozessen der ‘68er und den Verfall ach so ausgeflippter und freier Zeiten in der ersten Dekadenhälfte in Tristesse und Desillusion in der zweiten, wie sie Schäfer, Fricke und Wartusch einst als „schlechte Siebziger“ von den „guten Siebzigern“ abgrenzten. Das Schönste aber: Der überwiegende Teil der Episoden war gelungen, darunter einige herausstechende Glanzlichter. Mach’s gut, Hafi!
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Der Vagabund und das Kind

“A picture with a smile – and perhaps, a tear.”

„Der Vagabund und das Kind“ alias „The Kid“ aus dem Jahre 1921 war mit seinen ursprünglich 67, später 53 Minuten Laufzeit Stummfilm-Slapsticker Charlie Chaplins erster Langfilm. Wie so oft verfasste er nicht nur das Drehbuch und inszenierte es höchstselbst, sondern übernahm er auch die Hauptrolle und schnitt das Material zur Endfassung zusammen. Es heißt, Chaplin habe hier seine eigene, von Armut geprägte Kindheit reflektiert. „The Kid“ gilt als eine der ersten Dramödien respektive Tragikomödien der Filmgeschichte, da sie Chaplins typischen Slapstick-Humor mit anrührend tragischen und ernsten dramatischen Szenen vereint, die ihre Protagonistinnen und Protagonisten ernstnehmen, und auch mit Sozialkritik nicht geizt.

Eine alleinstehende, unverheiratete Mutter (Edna Purviance, „Vergnügte Stunden“) ist derart mittellos, dass sie keine Möglichkeit sieht, ihr frischgeborenes Kind (Silas Hathaway) durchzubringen. Der Erzeuger (Carl Miller, „Die kleine Kanaille“) hat sie sitzengelassen und auch sonst scheint von niemandem Hilfe zu erwarten. In ihrer Verzweiflung setzt sie ihr Baby in einer an der Straße geparkten Luxuskarosse aus und hofft, dass die offenbar vermögenden Autobesitzer sich seines annehmen. Dass das Gefährt kurz darauf gestohlen wird und die dreisten Diebe ihr Baby kurzerhand in einem Armenviertel neben einer Mülltonne ablegen, bekommt sie nicht mehr mit. Dort kommt jedoch der Tramp (Charlie Chaplin) vorbei, der das Kind an sich nimmt, allerdings eigentlich nur, um es schnellstmöglich wieder loszuwerden. Dies misslingt und so nimmt er es mit zu sich in seine äußerst bescheidene Hütte nach Hause, wo er im Laufe der Zeit in die Vaterrolle hineinwächst und dafür sorgt, dass es dem Kleinen trotz Armut an nichts mangelt. Nach fünf Jahren kann ihm der kleine John (nun Jackie Coogan) bereits bei der „Arbeit“ helfen, indem er Fensterscheiben einwirft, die sein „zufällig vorbeikommender“ Ziehvater daraufhin repariert – gegen Bezahlung, versteht sich. Johns Mutter hat derweil Karriere als Opernsängerin gemacht und keine Geldsorgen mehr. Sie engagiert sich sozial und fasst den Entschluss, ihren Sohn ausfindig zu machen…

Chaplins persönlicher biographischer Bezug äußert sich u.a. dadurch, dass er für den Film ganze Straßenviertel seines Londoner Geburtsorts nachbauen habe lassen. Noch wichtiger aber sind das Gefühl und die Sensibilität, mit der sich Chaplin der Thematik filmisch nähert. In seiner Paraderolle als Tramp ist er ein kleiner Gauner, der das Herz am rechten Fleck hat und seiner eigenen prekären Situation zum Trotz Verantwortung für das Findelkind übernimmt. Nach dem Zeitsprung von fünf Jahren zeigt der kleine Jackie Coogan ein beeindruckendes Schauspiel, zudem scheint die Chemie zwischen Chaplin und ihm ideal gewesen zu sein. Diverse Elemente wie Fluchtszenen oder Johns Prügelei mit einem anderen Kind werden Stummfilm-Comedy-typisch beschleunigt wiedergegeben und die Slapstick-Choreographien sind natürlich, ebenso wie die Situationskomik, vom Feinsten, für die nachdenklichen und traurigen Momente gibt Chaplin der Handlung aber die nötige Zeit. Dramatische Höhepunkte sind die Versuche, dem Tramp John mittels Behörden- und Polizeigewalt wegzunehmen. Die Visualisierung eines Traums hingegen geriet in ihrer kitschigen Überzeichnung gewöhnungsbedürftig.

Nichtsdestotrotz ist „The Kid“ ein wunderbar warmherziger Film, mit dem Chaplin Filmgeschichte schrieb. Jackie Coogan avancierte durch ihn zum gefragten Kinderstar und wechselte später ins Charakterfach. Den meisten dürfte er als Uncle Fester aus der „The Addams Family“-Fernsehserie bekannt sein. Im Gegensatz zu späteren Director’s-Cut-Trends, die die Filme i.d.R. länger machten, kürzte Chaplin seinen Film im Jahre 1971 um einige sentimentale Szenen (tatsächlich ist das Timing eine der Stärken dieser Fassung) und komponierte eine Filmmusik, die die Bilder ganz vorzüglich untermalt und in ihrer Wirkung verstärkt. Auch wer sich für gewöhnlich keine Stummfilme ansieht, sollte „The Kid“ einmal gesehen haben – es lohnt sich!
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Die Reise zum Mond

Der Franzose Georges Méliès war einer der umtriebigsten Filmemacher der Pionierzeit des Spielfilms. Leider sind viele seiner Werke nicht erhalten geblieben, eines der wichtigsten jedoch glücklicherweise schon: der Science-Fiction-Film-Urknall „Die Reise zum Mond“, den Méliès nach Motiven Jules Vernes und H.G. Wells‘ schrieb und in filigraner Kleinarbeit als rund 15-minütigen Stummfilm inszenierte.

Professor Barbenfouillis (gespielt von Méliès höchstpersönlich) lässt sich zusammen mit sechs Astronauten in einer Kapsel auf den Mond schießen, die im Auge des Mondgesichts landet. Auf dem Mond gibt es eine Atmosphäre, die die Menschen atmen lassen, einen Fluss und Vegetation – und humanoide Mondwesen, die Seleniten, die die Eindringlinge angreifen, jedoch in Rauch aufgehen, sobald sie geschlagen werden. Dennoch schaffen sie es, die Erddelegation zu überwältigen und ihrem Herrscher zuzuführen. Barbenfouillis gelingt es jedoch, sich zu befreien und mitsamt seiner Astronauten die Flucht anzutreten. Man lässt sich mit der Kapsel von einer Mondklippe aus in den Erdozean fallen (!) und zum nächsten Hafen schleppen. Die Expedition war erfolgreich, man konnte sogar einen Selenit gefangen- und mit zur Erde nehmen. Barbenfouillis wird als Held gefeiert und ihm wird ein Denkmal errichtet.

Ich sah die restaurierte, jahrzehntelang verschollene Farbfassung mit der musikalischen Untermalung durch die Band „Air“. An das flimmernde, dabei kunterbunte Bild hat man sich schnell gewöhnt und das Menschengewusel im Palast, das den ersten Akt des Films bestimmt, erschließt sich auch ohne Zwischentitel (auf die Méliès bewusst verzichtete) und ohne Méliès‘ erläuternden Text, den er bei den Aufführungen rezitieren ließ, weitestgehend. Nachdem Kapsel und Abschussvorrichtung fertiggestellt sind, beginnt das eigentliche Faszinosum des Films: die Tricktechnik. Méliès war ein Illusionist, dessen Anliegen es war, diese Kunst auf das Medium Film zu übertragen, was ihm eindrucksvoll gelang. Das Bild des blutenden Monds, dem die Kapsel im Auge steckt, ist legendär und vielzitiert. Bei den auf dem Mond spielenden Szenen kommt sorgfältig in minutiöser Handarbeit entwickelte frühe Tricktechnik zum Einsatz, die Méliès auch als Pionier filmischer Spezialeffekte ausweisen.

Die Saltos der Seleniten erinnern an das Videospiel „Castlevania“, gerade weil auch die Kampfszenen wie aus einem 2D-Plattform-Arcade-Spiel wirken (die es damals selbstredend noch nicht gab). „Die Reise zum Mond“ ist ein aus heutiger Sicht unfassbar naiver, beschwingter und ir- bis surrealer LSD-Trip, der die Fantasie anregte bzw. ihr Bewegtbilder schenkte und den Grundstein vor allem für jene Ausrichtung des Genrefilms legte, die es mit der Wissenschaft nicht so genau nimmt, es vielmehr mit spektakulären Spezialeffekten auf überwältigende Unterhaltung des Publikum auslegt.
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Der große Eisenbahnraub

„Der große Eisenbahnraub“, auch bekannt unter dem Titel „Der große Eisenbahnüberfall“, aus dem Jahre 1903 ist entgegen häufig kolportierter anderer Behauptungen nicht der erste Western der Filmgeschichte, aber zumindest einer der ersten – und dazu ein bahnbrechender. US-Spielfilmpionier Edwin S. Porter, der seit 1898 Filme drehte, ließ sich von einer Geschichte Scott Marbles und einem Überall Butch Cassidys Bande, der drei Jahre zuvor stattgefunden hatte, für einen elfeinhalbminütigen Schwarzweiß-Stummfilm inspirieren:

Vier Banditen überfallen die Fahrgäste einer Eisenbahn, nachdem sie einen Bahnangestellten gefesselt und den Zug in ihre Gewalt gebracht haben. Sheriff & Co. sind ihnen jedoch schnell auf den Fersen…

Porters Film kommt narrativ noch komplett ohne Zwischentitel aus, erzählt aber bereits eine aus 14 Szenen bestehende Geschichte, die mit Parallelmontagen zeitgleich stattfindender Handlungselemente arbeitet, traut sich zwecks erzählerischer Verdichtung Auslassungen zu und weist einen Spezialeffekt auf, wenn nach einem technisch verschleierten Stopp eine Puppe anstelle eines Schauspielers vom Zug geworfen wird. Porter bewies ein gutes Händchen für Timing und Dramaturgie, gestaltete seinen Film aber auch derart brutal und bleihaltig, dass er sein damaliges Publikum in große Aufregung versetzt haben muss. Verstärkt wird dieser Eindruck gar noch durch eine von der Handlung losgelöste Schlusseinstellung, in der Schauspieler Justus Barnes in halbnaher Kameraperspektive in die Kamera blickt und mehrere Revolverschüsse direkt ins Publikum abfeuert. Zudem gilt „Der große Eisenbahnraub“ als Urvater manch typischer, später zu Klischees geratener Genre-Versatzstücke.

Ohne von der Phantastik wie beispielsweise in „Die Reise zum Mond“ gefangen und gewissermaßen abgelenkt zu sein, fallen aus heutiger Sicht natürlich die – trotz einiger erster Schwenks! – weitestgehend statische Kamera auf, während das Overacting noch den Ursprüngen des Schauspiels im Theater geschuldet gewesen sein dürfte. Nichtsdestotrotz ist „Der große Eisenbahnraub“ ein auch heute noch überraschend kurzweiliges Pionierwerk, das allen filmhistorisch Interessierten ans Herz gelegt sei.
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Tatort: Der Zeuge

„Tschüß – und komm nicht so bald wieder…“

Ende der 1970er Jahre ereignete sich ein Kuriosum innerhalb des Essener „Tatort“-Zweigs um die Kriminalkommissare Heinz Haferkamp (Hansjörg Felmy) und Willy Kreutzer (Willy Semmelrogge): Felmy war unzufrieden mit Peter Adams Drehbuch zur geplanten Episode „Der Zeuge“, er habe es als „zu schlicht“ (Wikipedia) empfunden. Der WDR beharrte jedoch offenbar auf dieser Episode, mit dem Ergebnis, dass Haferkamp aus dem Drehbuch geschrieben wurde (er befinde ich im Urlaub, wird es in einem Dialog heißen). Als seine Vertretung sprang Jörg Hube („Tatort: Schüsse in der Schonzeit“) als Kommissar Paul Enders ein, dessen einziger Auftritt als „Tatort“-Kommissar dieser Einsatz bleiben sollte. Eine weitere Besonderheit ist es, dass dieser Fall hauptsächlich in Frankfurt am Main statt im Ruhrgebiet spielt. Adam inszenierte sein Drehbuch höchstpersönlich und debütierte mit diesem etwas holprigen Einstand innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe, für die er es auf insgesamt sieben Beiträge bringen sollte – die meisten davon für Haferkamps und Kreutzers Ruhrpott-Kommissars-Nachfolger Schimanski und Thanner. „Der Zeuge“ wurde am 7. April 1980 erstausgestrahlt.

„Kommt mir ziemlich amerikanisch vor.“

Frankfurt am Main: Uwe Draeger (Heinz-Werner Kraehkamp, „Die Leute vom Domplatz“) organisiert einen Leihwagen, den er kurz darauf als Fluchtwagen für einen Banküberfall nutzt, welchen er zusammen mit Inga Weiss (Claudia Demarmels, „Theo gegen den Rest der Welt“) und Klaus Bender (Heinz Hoenig, „Messer im Kopf“) begeht. Zuvor hatte das Trio bereits im Essener Raum ähnliche Taten verübt, hier jedoch gerät der Überfall außer Kontrolle: Klaus schießt auf einen Wachmann, der später im Krankenhaus seinen Verletzungen erliegen wird. Otto Baumann (Uwe Dallmeier, „Ein Mädchen“), Angestellter des Fahrzeugverleihs, wird zum wichtigen Zeugen, denn er erkannte Uwe Draeger wieder und macht ihn später in einer Kneipe ausfindig, wo ihn die Polizei festnimmt. Der urlaubsbedingt Kommissar Haferkamp in Essen vertretende Kommissar Enders wird aufgrund der Parallelen zu den Essener Überfällen informiert und nach Frankfurt abberufen. Dort arbeitet er mit Kommissar Fischer (Walter Renneisen, „Das Mädchen meiner Träume“) zusammen, der noch nicht weiß, dass Draeger nicht der Schütze ist. Enders entwickelt den Plan, sich als Zeuge Baumann auszugeben, um dadurch Draegers Komplizen anzulocken: Er geht davon aus, dass sie ihn zu überreden versuchen würden, die Zeugenaussage zurückzuziehen. Tatsächlich wirft sich Inga Weiss ihm an den Hals, sich zunächst als Journalistin ausgebend. Enders glaubt, alle verliefe nach Plan und er habe die Situation im Griff, gerät jedoch bald darauf selbst in Gefahr…

„Wir werden doch mit einem Tankwart fertigwerden!“

Dieser Essener „Tatort“ ist eigentlich ein Frankfurter: Er beginnt in Frankfurt, unterlegt von der Musik Bruce Springsteens, und zeigt stolz das Stadtpanorama, um dann den Überfall bzw. vielmehr dessen unmittelbare Folgen temporeich einzufangen. Erst dann geht’s für eine kurze Weile nach Essen, jedoch nur, um den als etwas unterkühlt und wortkarg eingeführten Kommissar Enders nach Frankfurt zu schicken – wo er alsbald Kreutzer nachholt. Auf ein Whodunit? wurde verzichtet, den Schützen und seine Freundin und Komplizin Inga lernen wir, parallel zur polizeilichen Ermittlungsarbeit, sogar auf durchaus amüsante Weise kennen. Auf beiden Seiten grübelt man, wie es weitergehen soll, bis Enders seinen grandiosen Einfall bekommt. Daraus wird ein doppeltes Rollenspiel, denn auch Inga schlüpft in eine Rolle. Das ist durchaus reizvoll für das Fernsehpublikum, geht damit doch u.a. einher, dass Enders Baumanns Stelle beim Fahrzeugverleih übernimmt. Zu diesem Zeitpunkt ist noch nicht klar, dass der Wachmann seinen Verletzungen erlegen ist. Enders wird über die geändertem Umstände informiert, beschließt aber, trotzdem in seiner Rolle zu bleiben.

„Frankfurt ist doch ganz gut, oder?“

Wer nun glaubt, dass durch die gesteigerte Brisanz des Falls die Spannung ein entschiedenes Maß hochgeschraubt würde, sieht sich jedoch getäuscht. Peter Adam scheint sich etwas zu sehr auf die Darstellung der ungewöhnlichen Ermittlungsmethoden zu verlassen, die jedoch in vielem und etwas langatmigen Herumgeplänkel zu versanden drohen, bis gegen Ende endlich wieder etwas Action zum Zuge kommt. Kreutzer indes ist die meiste Zeit zum Stillstand verdammt, spielt im Finale aber eine wichtige Rolle. Dieser Essener Fall, der eigentlich ein Frankfurter ist, wartet mit einigen hübschen urbanen Bildern auf und ist aufgrund der Entstehungsgeschichte und der Figurenkonstellation trotz seiner dramaturgischen Schwächen etwas Besonderes im „Tatort“-Kosmos, womit sich Peter Adam für diverse weitere Arbeiten für die Reihe in den 1980ern empfahl.
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Tatort: Herzjagd

„Ich bin Arzt, ich bin kein Mörder!“

Nachdem sich Hansjörg Felmy mit dem „Tatort: Schönes Wochenende“ von seiner Rolle als Essener Kriminalhauptkommissars Heinz Haferkamp verabschiedet hatte, kam es noch zu einer Art Nachklapp, indem Regisseur Axel Corti ein Drehbuch Bernd Schwamms für den Essener „Tatort“-Zweig inszenierte, das – wie zuvor bereits das Buch zum „Tatort: Der Zeuge“ – von Felmy wegen Missfallen abgelehnt worden war. Anstatt eine Vertretung als Chefermittler zu installieren, ließ man die Ermittlungsverantwortung ganz auf den Schultern Willy Kreutzers (Willy Semmelrogge) lasten, Haferkamps beruflichem Partner, stellte ihm aber in der Figur des österreichischen Kriminalbeamten Klein (Towje Kleiner, „Geheimtip für Tommy“) einen ihm untergeordneten Mitarbeiter zur Seite. Damit ist die im Frühjahr 1980 gedrehte und am 14. Dezember 1980 erstausgestrahlte „Herzjagd“ der tatsächliche Schlusspunkt unter den Essener „Tatort“, bevor der WDR den Staffelstab nach Duisburg an die Herren Schimanski und Thanner weitergab. Für Regisseur Corti wurde es der nach „Tatort: Wohnheim Westendstraße“ zweite und letzte Beitrag zur öffentlich-rechtlichen Krimireihe. Möglicherweise erklärt Felmys ablehnende Haltung, weshalb in seinem vorausgegangenen letzten Fall nichts auf seine Verabschiedung hindeutete. Begründet wird seine Abwesenheit innerhalb der Handlung schlicht mit einem Urlaub.

„Ist das modern, oder was?!“

Der Bundeswehrgefreite Wolfgang Tielens (Claude-Oliver Rudolph, „Das Boot“) setzt sich über sein jüngst gegen ihn verhängtes Ausgangsverbot hinweg, um seine herzkrankte Mutter (Brunhild Hülsmann, „Notarztwagen 7“) im Krankenhaus zu besuchen. Dort erfährt er, dass sie operiert werden solle, wähnt sie jedoch nicht in guten Händen. Er möchte, dass ihr die bestmögliche Behandlung anheim wird, und flieht vor den anrückenden Feldjägern, um Klinikprofessor Dr. Heinrich (Gunther Malzacher, „Das Schlangenei“) aufzusuchen und Druck auf ihn auszuüben, die OP persönlich durchzuführen. Als während seiner Versuche, die Feldjäger abzuschütteln, einer von ihnen die Waffe zückt, kommt es zu einem Handgemenge, an dessen Ende Wolfgang ihn eine Treppe hinunterstößt und dessen Waffe an sich nimmt. Dieser Fall landet auf Kommissar Kreutzers Schreibtisch, als besagter Feldjäger am nächsten Tag plötzlich tot umfällt, anscheinend aufgrund innerer Verletzungen infolge seines Treppensturzes. Währenddessen wird der flüchtige Wolfgang mitsamt Waffe bereits bei Herrn Dr. Heinrich vorstellig…

„…wenn Sie wissen, was ich meine…“

Der junge Claude-Oliver Rudolph als Soldat Wolfgang Tielens donnert zusammen mit Ralf Richter („Das Boot“) als namenlosem Beifahrer mit einem Bundeswehr-Lkw durch den Wald, wovon sein Vorgesetzter (Dieter Pfaff, „Der Fahnder“) nicht begeistert ist. Eine Urlaubs- und Ausgangssperre ist die Konsequenz, die Wolfgang alles andere als recht ist – womit das Unglück seinen Lauf nimmt. Mit seiner Mutter geht der rüpelige junge Mann äußerst liebevoll um, was seiner Rolle die nötige Ambivalenz angedeihen lässt. Das Katz-und-Maus-Spiel mit den Feldjägern beginnt harmlos, wird aber ebenso eskalieren wie die Gesamtsituation für Wolfgang, der sich in seiner Verzweiflung angesichts des desolaten Gesundheitszustands seiner geliebten Mutter und seiner Ohnmacht immer tiefer reinreitet. Kurzzeitig quartiert er sich bei seiner Tante Inge Köndgen (Tilli Breidenbach, „Lindenstraße“) ein, die noch auf ihn einzureden versucht, von wo aus er jedoch in eine leerstehende Wohnung weiterflieht, als man ihm auch dort auf die Pelle rückt.

„Ich bedaure zutiefst, Ihnen begegnet zu sein.“

Erst jetzt wird die Perspektive hin zur Kriminalpolizei gewechselt und kommen Kreutzer und Klein ins Spiel – wobei letzterer gleich zu spät kommt. Haferkamp schreibt aus seinem Urlaub in Griechenland, womit dessen Abwesenheit kurz und bündig abgehandelt wird. Im Mittelpunkt der Handlung wird aber bis zu ihrem Ende Wolfgang stehen. Fragen nach dem Täter oder dessen Motiv stellen sich weder fürs Fernsehpublikum noch für die Polizei und der Tod des Feldjägers wird nicht einmal im Ansatz, beispielsweise offscreen nach einer vorausgegangenen Szene, visualisiert, vielmehr erfährt man aus einem polizeilichen Dialog heraus von ihm. „Herzjagd“ ist lediglich sekundär eine Krimi-Episode; primär handelt es sich um ein gen Melodram tendierendes Drama, das sowohl das Problem aufgreift, die bestmögliche medizinische Behandlung lediglich gegen viel Geld erkaufen zu können, als auch die Unfähigkeit Wolfgangs, den wahrscheinlich nahen Tod seiner Mutter zu akzeptieren. Er hat sich sogar tief in potenzielle Behandlungsmethoden eingelesen und ist bestens informiert. Obwohl der finanzielle Aspekt derjenige mit dem größeren sozialen Sprengstoff ist, orientiert sich dieser „Tatort“ dann doch zunehmend an Wolfgangs psychischem Ausnahmestand entlang. Diese macht ihn gar zum Geiselnehmer, eine Straftat, die seinerzeit durch die Aktivitäten der RAF allgegenwärtig schien und vermutlich deshalb auch von dieser Episode aufgegriffen wurde. Zwischen den Zeilen schwingt aber auch Kritik an der Bundeswehr mit: Es ist klar, dass jemand wie Wolfgang, dessen Mutter im Sterben liegt, eigentlich nicht gerade seinen Wehrdienst ableisten sollte müssen.

Bemerkenswert ist die bedrückende Atmosphäre dieser Episode: Von Ruhrpottcharme keine Spur, stattdessen hässliche Hinterhöfe, marode Wohnungen, ein seltsam beengt wirkendes Polizeirevier, schlechtes Wetter, Kälte, gegen Ende gar eine Art Wintereinbruch. Essen ist hier wahrlich keine Schönheit, wird zur Kulisse und zugleich Ausdruck der Hoffnungslosigkeit dieses Falls. Die Versuche, etwas Humor einzubringen, indem man die Beamten darüber diskutieren lässt, wie man Frikadellen nennt, oder einen aufdringlichen, wenig maskulinen und damit eventuell vorsichtig als homosexuell konnotierten Nachbarn (Ernst Jacobi, „Die Blechtrommel“) auf Wolfgang loslässt, erzielen kaum aufheiternde Wirkung. Interessant ist, dass es mit Frau Baumann (Christl Welbhoff, „Tatort: Zwei Leben“ (dort jedoch lediglich als Kellnerin)) nun auch weibliches Polizeipersonal gibt, mit dem die weitere Vorgehensweise diskutiert wird. Das Finale dreht noch einmal stark an der Spannungsschraube: Ein Kind verschwindet, das Fernsehen wird eingeschaltet und zu einer Live-Übertragung genötigt (ist das schon Meta-Ebene?), ein Schuss fällt.

Rund 100 Minuten lang spitzt sich in „Herzjagd“ alles sehr zu, um letztlich doch tragisch zu enden. Die Conclusio scheint zu sein, dass sich Manches einfach nicht abwenden lässt. Etwas Straffung hätte diesem Fall vielleicht gutgetan, womit auch die leichte Überlänge zu vermeiden gewesen wäre. Rudolph spielt seine Rolle in diesem auf ihn zugeschnittenen „Tatort“ höchst respektabel; die neue – und einmalig gebliebene – Ermittlerfigur Klein wirkt sympathisch, bekommt jedoch ebenso wie Kreutzer nur wenig Raum zur Entfaltung. Rührte daher eventuell Felmys ablehnende Haltung? Ob „Herzjagd“ angesichts der zentralen Rolle, die neben Wolfgang das Telefon hier spielt, von der Bundespost gesponsert wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Als „Tatort“ ein Unikum und Kuriosum, als Kriminaldrama spannend und sehenswert, für manch später populär und beliebt gewordenen Schauspieler eine gut genutzte Bühne.

Damit endet meine Retrospektive auf dann doch gar nicht so wenige „Tatort“-Episoden aus den 1970ern über verschiedene Ermittlerfiguren und -teams hinweg. Vielleicht hat sie der respektive die eine oder andere Leser(in) als interessant oder aufschlussreich empfunden. Für mich zumindest war sie es.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Polizeiruf 110: Paranoia

„Du bist mein Hauptproblem!“

Mit der Münchner „Polizeiruf 110“-Episode „Paranoia“ verabschiedet sich Oberkommissarin Elisabeth „Bessie“ Eyckhoff (Verena Altenberger) nach sechs Fällen aus der öffentlich-rechtlichen Krimireihe. Die Mischung aus Verschwörungskrimi und Psycho-Thriller wurde von Martin Maurer sowie Claus Cornelius Fischer geschrieben und von Tobias Ineichen („Tatort: Kriegssplitter“) inszeniert, der damit seinen ersten „Polizeiruf“ absetzte. Die Erstausstrahlung erfolgte am 11. Juni 2023.

„Das ist wie bei den Detektiven im Fernsehen…“

Als Rettungssanitäterin Sarah Kant (Marta Kizyma) und ihr Kollege Carlo Melchior (Timocin Ziegler, „Zwischen uns“) zu einem Einsatz in einer Wohnung gerufen werden, kommen sie anscheinend gerade noch rechtzeitig, um einen mutmaßlichen Mordversuch zu unterbrechen und durch ihr Eintreffen den Täter in die Flucht zu schlagen. Sie bringen die schwerverletzte Frau Schnabel (Maria Lüthi, „Madrid“) nach der Erstversorgung ins Krankenhaus, wo man am nächsten Tag jedoch nichts von dieser Patientin wissen will. Ein Fehler im Computersystem, eine Lücke in der Dokumentation? Oder steckt mehr dahinter? Die psychisch labile Sarah, die sich gerade in einem schmerzhaften und kräftezehrenden Trennungsprozess von ihrem Kollegen Carlo befindet, glaubt, dass mehr dahintersteckt, und bringt auch den Wagen, von dem sie sich während des Patientinnentransports ins Krankenhaus verfolgt wähnte, damit in Verbindung. Zudem hat die Patientin ihr offenbar eine Videokassette mit pikanten Aufnahmen in den Notfallrucksack gesteckt. Kommissarin Eyckhoff untersucht mit ihrem Kollegen Dennis Eden (Stephan Zinner) gerade einen anderen Mordfall, als Carlo tot aufgefunden wird und sich damit ihre und Sarahs Wege kreuzen…

„Paranoia“ wird zu großen Anteilen aus Sarahs Perspektive erzählt, was diesem „Polizeiruf 110“ die Möglichkeit eröffnet, mit dem Element der unzuverlässigen Zeugin als Abwandlung des unzuverlässigen Erzählers zu arbeiten und zu spielen. Zunächst handelt „Paranoia“ vornehmlich von den großen Herausforderungen, die ein beruflicher Kollegenstatus mitsichtbringt, wenn es sich bei jenem Kollegen gleichzeitig um den Ex-Lebensgefährten handelt und die Trennung nicht einvernehmlich erfolgte. Während Carlo sich bereits wieder mit anderen Frauen trifft, ist Sarah alles andere als über die Trennung hinweg. Als sie in seine Wohnung eindringt – sie hat noch immer den Schlüssel – und damit ein Rendezvous Carlos mit einer Neuen jäh unterbricht, missversteht er dies als Eifersuchtsposse, obwohl ihre primäre Motivation darin begründet liegt, ihren noch an seinem Fernseher angeschlossenen Videorekorder zu nutzen, um sich die Kassette anzusehen. Dies wird nach wenigen Sekunden von Carlo unterbunden und der Videorekorder geht kaputt. Sarahs weitere Versuche, anachronistisch anmutend noch irgendwo einen funktionstüchtigen Rekorder vorzufinden, münden in groteske Situationen, die zugleich Hinweise auf ihren psychischen Ausnahmezustand geben. Dieser wird zuweilen auch recht stimmig audiovisualisiert.

Nach Carlos Ableben, das offscreen stattfindet, stehen für die Filmfiguren ebenso viele Fragen im Raum wie für das Fernsehpublikum. Sarah wird zur Zeugin, Tatverdächtigen und Privatermittlerin zugleich – und wird zusehends misstrauischer, insbesondere gegenüber der Polizei, was Eyckhoffs und Edens Ermittlungen erschwert. Die Spuren dieses undurchsichtigen, aber stets interessanten Falls führen schließlich zu einer real existierenden, gesetzlich legitimiert verschwörerisch tätig sein dürfenden ehemaligen NS-Organisation, womit dieser Fall klug und kritisch an Systemfragen rührt. Der zwischenzeitlich eingestreute, auflockernde Humor (inklusive einer seltsamen Toaster-Animation, in deren Zusammenhang ich irgendwo von einer „Nahtoasterfahrung“ las) ist nicht unbedingt meiner, dafür begleitet man die sehr ambivalente und von Marta Kizyma eindrücklich gespielte Figur der Sarah bis in ein superspannendes Finale hinein, auf das ein wenig kathartisches, dafür umso mehr Unwohlsein erzeugendes offenes Ende folgt. Dieses verhindert leider einen standesgemäßen Abschied Eyckhoffs aus der Reihe, den sie verdient gehabt hätte. 7,5 von 10 Amateurvideos auf dem Kindergeburtstag für diese nichtsdestotrotz sehr sehenswerte Abschiedsvorstellung!
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Schabowskis Zettel – Die Nacht, als die Mauer fiel

Diese von Spiegel TV für die ARD produzierte und dort am 2. November 2009 anlässlich des nahenden zwanzigjähren Jubiläums der innerdeutschen Grenzöffnung erstausgestrahlte und später innerhalb der „Der Spiegel“-Magazinbeilagen-DVD-Reihe unter dem Covertitel „9. November '89: Das Protokoll eines Versehens“ physikalisch veröffentlichte Dokumentation ist eine von so vielen über jene schicksalhafte Nacht, mit 74 Minuten Laufzeit sogar in Dokumentarfilmlänge. Umgesetzt wurde der Film von den Dokumentarfilmern Florian Huber („Unterwegs in Kanada“) und Marc Brasse („Sir Henry Morgan – Pirat im Auftrag seiner Majestät“).

Im reißerischen Springer-Duktus führt ein framender und primender Sprecher durch den Film, der diverse Szenen im Dokudrama-Stil mit Schauspielerinnen und Schauspielern nachstellen lässt, ansonsten aber erwartungsgemäß auf viel Archivmaterial und Zeitzeug(inn)enaussagen zurückgreift. Neu, interessant und damit größtes Pfund dieses Films ist es, dass man mit Gerhard Lauter jenen DDR-Innenministeriumsmitarbeiter für die Zusammenarbeit gewinnen konnte, von dem der entscheidende Passus innerhalb des Papiers zur neuen Ausreiseregelung, das Krenz schließlich abgesegnet hatte, stammte – ein sehr sympathisch anmutender Mann, der nach dem Ende der DDR als Anwalt tätig und seinen sozialistisch-humanistischen Überzeugungen als aktives Mitglied erst der PDS, dann der Linken treu geblieben war. Auf ihn fokussiert sich der Film zunächst, dessen Sprecher zu suggerieren scheint, Krenz habe das Papier gar nicht gelesen, um diesen Ansatz dann jedoch selbst zu verwerfen.

Mit Peter Brinkmann präsentiert man, neben einem Kollegen der US-Medien, ausgerechnet einen ehemaligen „Bild“-Journalisten als weiteren Zeitzeugen. Nachdem Schabowski bekanntermaßen die Sperrfrist übersehen und die Grenzöffnung innerhalb der Pressekonferenz verfrüht bekanntgegeben und damit Chaos ausgelöst hatte, konzentriert sich der Film auf die DDR-Grenzbeamten, von denen Harald Jäger vom Grenzübergang Bornholmer Straße als Zeitzeuge bereitwillig Auskunft erteilt, sowie auf die Ereignisse in jener Nacht. Einzelne zivile Zeitzeug(inn)en berichten exemplarisch von ihrem damaligen Erlebnissen und Besuchen West-Berlins. Das ist trotz des bekannten Ausgangs mitreißend und spannend, wenngleich bewusst emotionalisierend aufbereitet. Dass unter den vielen Zeitzeug(inn)en ausgerechnet Egon Krenz fehlt, der für gewöhnlich sehr offen mit seiner Rolle in der DDR-Regierung und seinen die Wende besiegelnden Entscheidungen umgeht, ist ärgerlich, dürfte aber in der mitnichten schlicht nicht-, sondern dogmatisch antikommunistischen Doktrin des „Spiegels“ begründet liegen, der an der DDR nie ein gutes Haar gelassen hat und statt mit jemandem vom Format eines Egon Krenz lieber mit einem Wendehals wie Günter Schabowski den Austausch sucht, der hier bereitwillig aus dem Nähkästchen plaudert.

Schön, dass am Schluss erwähnt wird, was aus den Zeitzeuginnen und -zeugen jeweils geworden ist – dadurch wirkt der Film wie eine Wendegewinnergeschichte. Schade, dass er nicht zeigt, was in den 1990ern aus den neuen Bundesländern und der gesamtdeutschen Gesellschaft geworden ist, oder wenigstens die Schattenseiten des weiteren politischen Verlaufs nach der Grenzöffnung und des schließlich daraus resultierenden „Einigungs“prozesses aufzeigt. Auch auf die Vermittlung jeglicher geschichtlicher Hintergründe zu Themen wie deutsche Spaltung, innerdeutsche Grenze, Mauerbau, NATO/Warschauer Pakt o.ä. verzichtet der Film gänzlich, der in seiner Einseitigkeit haarscharf an Propaganda vorbeischrammt.
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Circus

Charlie Chaplins vierter abendfüllender, weil rund 70-minütiger Spielfilm „Circus“ alias „Der Zirkus“ datiert mit seinem Erscheinungsjahr 1928 auf die bereits auslaufende Stummfilm-Ära. Alleskönner und Filmgenius Chaplin fungierte auch für diese Slapstick-Komödie als Produzent, Autor, Regisseur und Hauptdarsteller in Personalunion und besorgte ferner den Schnitt der von Kameramann Roland Totheroh eingefangenen Bilder.

Der namen- und mittellose Tramp (Charlie Chaplin) bekommt es mit der Polizei zu tun, als er in einen Taschendiebstahl verwickelt wird, den er gar nicht begangen hat. Seine Flucht vor der Exekutive verschlägt ihn in einen Zirkus, über den der Direktor (Al Ernest Garcia, „Goldrausch“) mit strenger Hand herrscht. Doch ausgerechnet der Tramp ist es, der das Publikum zum Lachen bringt – wenn auch unfreiwillig. Daraufhin wird er vom Direktor engagiert, kann jedoch nicht auf Knopfdruck lustig sein wie ein klassischer Clown. Um ganz auf seine Tollpatschigkeit und unfreiwillige Komik zu setzen, wird ihm eine Tätigkeit als Requisiteur zugeteilt – mit Erfolg. Ohne es zu beabsichtigen, avanciert er zur Hauptattraktion des Zirkus, bekommt jedoch erst ein angemessenes Gehalt ausgezahlt, nachdem Merna (Merna Kennedy, „Der Jazzkönig“), Kunstreiterin und Stieftochter des Direktors, ihm die Augen geöffnet und sich für ihn eingesetzt hat. Der Tramp verliebt sich bis über beide Ohren in Merna, doch deren Herz schlägt für den neuen Seiltänzer Rex (Harry Crocker, „Die große Parade“) …

Chaplin erzählt in „Circus“ eine tragikomische Liebesgeschichte, die ans Herz geht, und kombiniert diese mit einer Handlung um Unterdrückung bis hin zu Gewalt hinter der heilen Fassade eines Zirkusbetriebs. Der Direktor ist ein fieses Ekel, der nicht einmal davor zurückschreckt, seine Stieftochter zu schlagen. Die zuweilen Stummfilm-typisch beschleunigt wiedergegebenen Slapstick-Einlagen sind – ebenso wie Chaplins akrobatische Leistungen auf dem Hochseil – auf höchstem Niveau und auch nach heutigem Humorempfinden noch immer urkomisch.

Als der Tramp den Lohn erhält, der ihm zusteht, scheint dies seinem Charakter nicht gutzutun und er bekommt einen kurzzeitigen Höhenflug, wird aber bald jäh auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Gegen Ende täuscht die Handlung ein dick aufgetragenes Happy End an, das der Tramp letztlich jedoch konterkariert. Auch für „Circus“ beschränkt sich Chaplin auf die allernötigsten Texttafeln und setzt stattdessen auf eine ausdrucksstarke Optik inklusive vieler Zirkusnummern und echter Wildtiere gar sowie eine visualisierte Imagination, die mit einem Spezialeffekt einhergeht. Die Filmmusik sollte ursprünglich im Jahre 1948 von Hanns Eisler nachgereicht werden, die damalige antiprogressive US-Cancel-Culture machte dem jedoch einen Strich durch die Rechnung. Für die Neuaufführung einer um Filmmusik ergänzten Fassung im Jahre 1969 schrieb Chaplin schließlich selbst die Musik und sang das Titelstück höchstpersönlich ein.

Allen unumstößlichen Qualitäten des Films zum Trotz stand er für Chaplin unter keinem guten Stern. Während der elfmonatigen Dreharbeiten ließen seine Ehefrau Lita Grey und er sich scheiden, was von einer Schlammschlacht begleitet wurde, die u.a. Chaplins Affäre mit „Circus“-Schauspielerin Merna Kennedy publik werden ließ und Chaplin in einen Nervenzusammenbruch trieb, weshalb er lange Zeit kaum ein Wort über seinen eigentlich so warmherzigen, groß- und dezent wehmütigen Film verlor. Davon unabhängig lohnt sich das Ansehen in jedem Falle!
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