bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

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Auge in Auge – Eine deutsche Filmgeschichte

Unter der Regie des Journalisten und Dokumentarfilmers Michael Althen („München – Geheimnisse einer Stadt“) und des Filmhistorikers Hans Helmut Prinzler entstand der abendfüllende Essayfilm „Auge in Auge – Eine deutsche Filmgeschichte“, der im Jahre 2008 in die deutschen Kinos kam – und sich mit eben diesem auseinandersetzt.

Zehn deutsche Filmschaffende begleiten Althen und Prinzler auf einer Zeitreise durch die deutsche Kinofilmgeschichte und stellen jeweils einen für sie persönlich bedeutsamen Film vor. Zunächst aber führt Althen sehr wortgewandt als Voice-over-Erzähler ein, indem er collagiert bebildert bereits vorwegnimmt, was der deutsche Film eigentlich alles ist. Regisseur Tom Tykwer („Das Parfum“) eröffnet dann den Reigen, indem er die gruseligen Qualitäten Nosferatus, also Murnaus Stummfilmoriginal, herauskehrt. Bevor Tykwer den Staffelstab weitergibt, stellt Althen zu einer neuen Bildcollage die Frage nach Eigenarten des deutschen Films in den Raum, dazu ertönt (etwas irritierend) feierliche Orchestermusik. Das Plenum versucht, die Frage zu beantworten, im Anschluss feiert Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase „Menschen am Sonntag“ ab. Mit etlichen Filmausschnitten bebildert geht es daraufhin um Berlin-Filme, auch während des Kriegs und danach, um DEFA-Produktionen und die Nachwendezeit.

Wim Wenders („Der Himmel über Berlin“) übernimmt und schwärmt von Fritz Langs „M“, gefolgt von einem (ganz großartigen!) Zusammenschnitt rauchender Menschen in deutschen Filmen. Es folgt die Zeit der NS-Terrorherrschaft, die folgerichtig als Einschnitt in der deutschen Kinolandschaft betrachtet wird. In aller Kürze beschäftigt man sich in diesem Kontext mit Filmen Veit Harlans. Regisseur Christian Petzold stellt Helmut Käutner als Beispiel für einen Regisseur heraus, der sich nicht von den Nazis vereinnahmen ließ, und spricht über dessen Film „Unter den Brücken“. Auf einen Zusammenschnitt von Filmküssen folgt Alexander Kluges „Abschied von gestern“, der als Beginn des Neuen deutschen Films genannt wird, kommentiert von Schauspieler Hanns Zischler („Im Lauf der Zeit“). Ein Abriss zum Film in der DDR nennt zunächst „Spur der Steine“ und andere dort damals zensierte Filme, bevor Regisseur Andreas Dresen („Sommer vorm Balkon“) beschreibt, wie sehr und weshalb ihn der Film „Solo Sunny“ beeindruckt habe.

Der nächste Zusammenschnitt beinhaltet Frauenblicke, anschließend erweist der international gefragte Kameramann Michael Ballhaus Fassbinders „Die Ehre der Maria Braun“ und „Martha“ die Ehre. Ein Zusammenschnitt von Filmschreien geht über zu Filmemacher Dominik Graf, der anhand Klaus Lemkes „Rocker“ zum Fürsprecher des kultigen deutschen Independent-Films und von Genre-Produktionen wird. Ein in liebevoller Kleinarbeit kompilierter Zusammenschnitt von Telefongeklingel und -gesprächen ergibt sogar einen scheinbar sinnvollen Dialog, und dann kommt auch eine der wenigen Frauen des Ensembles zu Wort: Regisseurin Doris Dörrie („Männer“) gefällt Wim Wenders‘ „Alice in der Stadt“. Ein leider nur ultraknapper Exkurs führt zu außerhalb Deutschlands spielenden deutschen Filmen; doch rasch kehrt man zu deutschen Drehorten zurück, was den Übergang zu Edgar Reitz‘ „Heimat“-Trilogie bildet, die Regisseurin Caroline Link („Nirgendwo in Afrika“) kuratiert. Abschließende Worte Althens führen zurück den Anfängen des Bewegtbilds, als wolle man damit gewissermaßen den Kreis schließen.

Neben den collagenartigen Zusammenschnitten, Kurzexkursen und Off-Narrationen wird zwischendurch immer wieder Namedropping betrieben, indem von den Beteiligten genannte Filmtitel und Personennamen kurzgeschnitten aneinandergereiht werden, sodass sie wie Brainstorming-Assoziationsketten wirken. In den Schnitt dieses Films muss eine Heidenarbeit geflossen sein. Ein schönes Detail auch, dass die Filme, um die es dann jeweils etwas ausführlicher geht, als Buchstabenanschläge verschiedener Lichtspielhäuser visualisiert werden. Ein wenig schade ist es, dass nicht eingeblendet wird, wie die Talking Heads jeweils heißen, dies erschließt sich jedoch nach und nach aus dem Off-Kommentar. Und diese Filmschaffenden einmal über Filme anderer sprechen zu hören, ist wahrlich interessant, da sie in der Regel eine etwas andere Perspektive einnehmen können, als es Filmkritikern für gewöhnlich möglich ist. Was genau sie jeweils zu sagen haben, habe ich hier bewusst größtenteils ausgespart und gilt es, bei Interesse selbst zu rezipieren.

Die behandelten Filme sind chronologisch geordnet, werden mit vielen Filmausschnitten zitiert, stellen aber natürlich nur einen winzig kleinen und zudem sehr subjektiven Einblick in die deutsche Filmgeschichte dar. „Auge in Auge“ setzt nur einzelne Schlaglichter und spart viel aus. Alles andere wäre für einen einzelnen Dokumentarfilm auch überambitioniert und zum Scheitern verurteilt. Mit ihrem sich aus dem Titel bereits erahnen lassenden Konzept, nicht die, sondern lediglich eine deutsche Filmgeschichte zu erzählen, begegnen Althen und Prinzler dem ebenso wie mit ihren Collagen und ähnlich Stilmitteln. Ein Stilmittel ist eben auch das einer Oral History, ohne dass vollumfänglich eine daraus würde. Auch aus den behandelten Filmen heben die Protagonist(inn)en dieser Doku in erster Linie einzelne Szenen, die es ihnen besonders angetan haben, hervor, statt den gesamten Film analytisch zusammenzufassen.

Für die knappe Laufzeit ist das ziemlich ansprechend gemacht. Je nach persönlicher Zu- und Abneigung macht es mehr oder weniger Spaß, Dörrie, Wenders, Tykwer & Co. zuzuhören oder Lust, sich für die von ihnen abgehandelten Filme zu interessieren zu beginnen. Ein aufgeschlossenes Publikum könnte „Auge in Auge“ aber dazu bringen, sein bisheriges Bild vom deutschen Film zu überdenken oder zu erweitern und es im Idealfalls dazu animieren, selbst auf Entdeckungsreise zu gehen und zu erörtern, welche Klassiker nach eigenem subjektiven Empfinden hier sträflicherweise gefehlt haben.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Tatort: Geisterfahrt

„Hier wird nichts ausgefahren, ist’n Tatort!“

Nach nur sechs (respektive fünf, wenn man Lindholms Solo-Exkurs abzieht) Fällen zerbricht das Göttinger „Tatort“-Team aus Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) und Anaïs Schmitz (Florence Kasumba) in diesem von Christine Hartmann und Stefan Dähnert geschriebenen und von Hartmann auch inszenierten Kriminal-/Sozialdrama. Es ist ihre bereits zehnte Regiearbeit für die öffentlich-rechtliche Krimireihe. „Geisterfahrt“ wurde bereits gegen Ende des Jahres 2022 gedreht und auf dem Filmfest Oldenburg am 16. September 2023 uraufgeführt. Die TV-Erstausstrahlung erfolgte erst am 11. Februar 2024.

„Bei Stress ham‘ die keine Möglichkeit, ‘ne Toilette aufzusuchen.“

Der rumänischstämmige DDP-Paketfahrer Ilie Balan (Adrian Djokic, „Wolfsland: Tote schlafen schlecht“) fährt mit seinem Lieferwagen in eine Menschenmenge, die Folge sind Tote und Verletzte – zu letzteren zählt auch er; schwerverletzt kommt er auf die Intensivstation des Krankenhauses, wo er im Koma um sein Leben kämpft. Kurz zuvor hatte er noch ein Paket an die Polizei ausgeliefert, wo er auch Kriminalhauptkommissarin Charlotte Lindholm begegnet war. Diese will nicht so recht an die insbesondere von ihrem Vorgesetzen, Kriminaldirektor Gerd Liebig (Luc Feit, „Erkan & Stefan“), vertretene These glauben, es habe sich um eine terroristisch motivierte Amokfahrt gehandelt. Zusammen mit ihrer Kollegin Anaïs Schmitz ermittelt sie bei DDP, wo sie auf ein Geflecht aus Sub- und Subsubunternehmen sowie prekäre Arbeitsbedingungen trifft. DDP-Subunternehmer Mischa Reichelt (Christoph Letkowski, „Feuchtgebiete“) scheint gegen Liebig, der Probleme mit seiner Ehefrau Tereza (Bibiana Beglau, „1000 Arten Regen zu beschreiben“) hat, mit irgendetwas in der Hand zu haben und zeigt sich bei den Ermittlungen wenig kooperativ; und das angespannte Verhältnis zwischen Lindholm und Schmitz wird auf eine weitere Zerreißprobe gestellt…

„Täter sind oft selbst Opfer.“

Wir sehen zunächst eine Übergabe vertraulicher Informationen von Reichelt an Liebig, ohne uns so recht etwas darunter vorstellen zu können. Daraus versucht diese „Tatort“-Episode jedoch Spannung und Rätselraten zu generieren, denn der eigentliche Fall ist weitestgehend klar. Dieser wird in einer 24 Stunden zurückliegenden Rückblende inszeniert: Liebig feierte seinen 60. Geburtstag im Kollegenkreis, eines seiner Geburtstagsgeschenke wurde mit leichter Verspätung vom abgehetzten DDP-Fahrer Balan zugestellt. Parallel wird skizziert, wie stressig es bei DDP zugeht. Auf der Feier sorgt das Göttingen-Lied der französischen Chanson-Sängerin Barbara für ein wenig Lokalkolorit. Balans Unfall ist dann unschwer erkennbar auf seine Überlastung zurückzuführen, der ausgesprochene Amokfahrt-Verdacht für die Zuschauerinnen und Zuschauer somit hinfällig.

„Alle Fahrer agieren komplett eigenverantwortlich!“

Wie im im Dezember des Vorjahrs ausgestrahlten „Tatort: Des anderen Last“ dreht sich die Handlung von nun an um die Schattenseiten der Paketlieferbranche. Ein gesellschaftlich und politisch relevantes Thema, das hier nun aber leider wenig originell erscheint, da die Ausstrahlung des artverwandten (und fast zeitgleich mit „Geisterfahrt“ gedrehten) Kölner „Tatorts“ erst kurz zurückliegt. In Göttingen jedoch verliert man diesen Fokus bald zunehmend aus den Augen, und zwar zugunsten persönlicher Verbindungen der Figuren, die sich nach und nach herauskristallisieren. Es stellt sich heraus, dass DDP-Subunternehmer Reichelt Polizeichef Liebig erpresst, weshalb dieser die Ermittlungen sabotiert. Womit genau, weiß man noch nicht, lässt sich jedoch umso besser erahnen, je mehr sich der Verdacht häuslicher Gewalt Liebigs gegen seine Frau Tereza erhärtet. Dies verlegt den Fall endgültig auf eine persönliche Ebene. Reichelt darf immerhin versuchen, die Verantwortung für die Missstände seiner Branche auf die Verbraucherinnen und Verbraucher abzuwälzen, bevor in einem dritten Handlungsstrang die horizontale Erzählung der Göttinger „Tatorte“ weiter- und auserzählt wird.

„Der Fisch stinkt immer vom Kopf!“

Gerichtsmediziner Nick Schmitz (Daniel Donskoy), Anaïs‘ Ehemann, liegt ein Stellenangebot aus Wien vor, mit dem er liebäugelt. Lindholm und er scheint so etwas wie Torschlusspanik zu befallen, anders ist das reichlich unmotiviert und vor allem unüberlegt wirkende, natürlich offscreen (und offenbar mit anbehaltener Unterwäsche) stattfindende Schäferstündchen der beiden miteinander nur schwer zu erklären. Zumindest versucht es die Handlung gar nicht erst. Mehr noch als zuvor regiert von nun an das Drama, das um den trauernden Vater (Attila Georg Borlan, „Die Ungewollten – Die Irrfahrt der St. Louis“) des DDP-Fahrers sogar noch erweitert wird. Die eigentlichen Ermittlungen fördern Aufputschmittel zutage, die in Balans Blut seltsamerweise gar nicht nachgewiesen wurden, doch die Nebenschauplätze dominieren mittlerweile den „Tatort“. Lindholm sucht ihre Psychologin auf und begibt sich auf eigene Faust in Ermittlungen gegen ihren Vorgesetzten. Ein gelungener dramaturgischer Kniff ist hierbei die Visualisierung ihrer Vermutungen und der Entgegnungen ihrer Psychologin, von der man zunächst nicht weiß, ob sie nicht auch die realen Ereignisse widerspiegelt – auch wenn man darüber nur kurz im Unklaren gelassen wird. Am Ende von „Geisterfahrt“ schlagen neben den Opfern aus Balans Unfallfahrt (die der Handlung keinerlei Aufmerksamkeit wert sind) zwei Tote und ein Selbstmordversuch zu Buche.

Und eben das Ende eines „Tatort“-Teams. Lindholm wird zurück nach Hannover gehen. Lindholm und Schmitz wurden für Freundinnen und Freunde des Dramas von vornherein als dysfunktionales Team angelegt, und wie wir jetzt wissen, ohne dass man sich im Laufe der Zeit so richtig zusammenraufen und zu „Buddys“ werden würde. Statt das dramatische Potential der Kriminalfälle auszuschöpfen, wird insbesondere in „Geisterfahrt“ eine über- und damit wenig glaubwürdig konstruierte Handlung fast schon nach Seifenoper-Manier aufgesetzt, die voller persönlicher Verwicklungen steckt, als handele sich bei der Universitätsstadt Göttingen um ein kleines Kaff, in dem jeder mit jedem klüngelt. Mit einer grundsätzlich interessanten Kommissarinnenfigur wie Anaïs Schmitz schien man in der „Tatort“-Redaktion wenig anfangen zu können, jedenfalls machte man nicht viel mehr aus ihr als die exotische, schroffe Schwarze mit der Glatze. So unnahbar, wie ihre Rolle auf andere Figuren wirken soll, blieb sie letztlich dann leider auch fürs Publikum. Nach Fällen wie dem Debüt „Das verschwundene Kind“ oder „National feminin“ ist all das ziemlich schade.

Die ungemütliche herbstliche Stimmung dieses Falls verführt weniger dazu, sich in Melancholie fallenzulassen, sondern eher, ihr möglichst bald wieder entkommen zu wollen. Nach rund eineinhalb Stunden hat man die Gelegenheit und darf gespannt sein, welches Unheil die eigenartige Kommissarin Lindholm als nächstes in Hannover anrichten wird. Oder man nutzt die Gelegenheit des Teambruchs, zukünftig einen „Tatort“-Ableger weniger im sonntäglichen Glotzplan vorzusehen…
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In the Folds of the Flesh

„What has been, remains imbedded in the brain, nestled in the folds of the flesh; distorted, it conditions and subconsciously impels…“

Nach seiner reichlich misslungenen Sex-„Dokumentation“ „Libido – Das große Lexikon der Lust“ aus dem Jahre 1969 drehte der italienische Regisseur Sergio Bergonzelli in italienisch-spanischer Koproduktion den 1970 veröffentlichten Giallo „In the Folds of the Flesh“. Und um es vorwegzunehmen: Der ist wesentlich unterhaltsamer.

„Den Schwung der Kunst abzubrechen, ist eine Hinterlist!“

Der Ganove Pascal Gorriot (Fernando Sancho, „Eine Pistole für Ringo“) befindet sich auf seinem Motorrad auf der Flucht vor der Polizei und erspäht kurz vor seiner Ergreifung, wie eine Frau in Strandnähe einen Leichnam vergräbt. Bei der Frau handelt es sich Lucille (Eleonora Rossi Drago, „Die Bibel“), die auch 13 Jahre später noch das opulente Anwesen mit Meerblick zusammen mit ihrem Neffen Colin (Emilio Gutiérrez Caba, „Maribel, die Sekretärin“) und ihrer Stiefschwester Falesse (Anna Maria Pierangeli, „Sodom und Gomorrha“) bewohnt. Falesses Vater André (Alfredo Mayo, „Höllenkommando“) ist der eigentliche Besitzer des Grundstücks und pikanterweise in eben jener Nacht spurlos verschwunden, als Lucille sich einer Leiche entledigte. Falesse ist seither schwer traumatisiert und neigt zu Gewaltausbrüchen. Nach seiner Haftentlassung erpresst Pascal Lucille und ihre Familie mit seinem Wissen und terrorisiert sie…

„Das ist alles so fürchterlich!“

Auf eine Texttafel folgt direkt der Anblick eines Leichnams mit abgeschlagenem Kopf, der Rest des Prologs besteht aus der Verfolgungsjagd der Polizei auf Pascal, dem Verscharren der Leiche – und einem Freud-Zitat auf einem psychedelischen Farbwirbel. Die eigentliche Handlung springt 13 Jahre in der Zeit vor: Michel (Víctor Barrera, „Dem Teufel ins Gesicht gespuckt“) besucht die Familie. Dessen Hund macht sich am geheimen Grab zu schaffen und wird daraufhin von Colin abgemurkst. Michel versucht man beizupulen, André sei vor Jahren auf See gestorben, was mit Fotos belegt werden soll. Spätestens jetzt wird klar, dass er der der Tote aus dem Prolog ist – und was man von dieser sich einen Geier als Haustier haltenden Familie um die blasse, schwarzhaarige Lucille zu halten hat. Die psychotische Falesse wird von Visionen oder Erinnerungen an ihre Kindheit, verfremdet visualisiert, übermannt und ersticht Michel.

„Eine perfekte Komödie.“

Soweit zunächst zur Gewalteskalation, es darf auch gefummelt werden: Michels Freund Alex kommt ihn suchen und rückt Falesse auf die Pelle, die jedoch etwas Colin hat – eine Gemengelage, die Regisseur Bergonzelli zum Anlass für bizarre Szenen nimmt. Und klar, dass es Alex ähnlich ergehen wird wie seinem Kumpel. Erst jetzt taucht Pascal wieder auf, ein zutiefst schmieriger Typ, um seinerseits Lucille & Co. übel mitzuspielen, was sich sogleich in einer Vergewaltigung Falesses manifestiert. Die Kuckucksuhr im Badezimmer aber hilft, auch ihn loszuwerden. Mit einer Schwarzweiß-Rückblende in ein Nazi-KZ, zu nackten Frauen und Vergasungen, holt Bergonzelli zum Großangriff der Geschmacklosigkeiten aus, bevor er mit der ersten Wendung innerhalb der Handlung Verwirrung stiftet: Ein Totgesagter lebt (bekanntlich) länger und taucht plötzlich wieder auf. Eine Rückblende zeigt, was damals wirklich passierte. Die Ereignisse überschlugen sich in diesem Film ab der ersten Minute, von nun an aber auch die Twists, mit denen Bergonzelli die Hirnwindungen seines Publikums malträtiert. Immer mehr Rückblenden, immer komplizierte Familienverhältnisse, eine tote Tochter und Menschen, die nicht sind, wer sie zu sein vorgeben – oder auch glauben; oder auch doch wieder alles anders. Was weiß denn ich!

Bergonzelli gelang es indes nicht, mich damit derart zu lobotomieren, dass mir grober Unfug wie ein nach seinem Abschlagen umgehend mumifizierter Kopf oder plötzliche Gesundungen psychisch Kranker entgangen wären. In den Bereich unfreiwilliger Komik gehören auch Falesses weitaufgerissene Augen, eingefangen von Bergonzellis hektischen Gesichtszooms, und Latexköpfe im Säurebad. Die abgeschlagenen Köpfe in Blumentöpfen wirken dagegen fast schon rational. Die Handlung dieses Giallos bereitet solche Kopfschmerzen, dass manch Zuschauer eine Selbstenthauptung in Betracht ziehen dürfte.

Es gibt Gialli, die edel und geschmackvoll daherkommen, mittels ein, zwei Wendungen für Thrill und Aha-Momente sorgen, dabei recht stringent erzählt sind, ihr Publikum mit wohldosierter Erotik umgarnen und final alles befriedigend auflösen. Und es gibt Gialli wie „In the Folds of the Flesh“, die konfus und überkonstruiert ihre irre Handlung bis ins Groteske übersteigern, Bizarrerie ausbuchstabieren, Erotik durch Sleaze ersetzen und sich im Absurden suhlen. Dem kann man aus sicherer Entfernung schon mal beiwohnen – sei es zum fröhlichen Delirieren oder auch nur, um die eigenen Geschmacksgrenzen auszuloten.
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Sommer der Angst

„Ich bin so hungrig, ich ess' deinen Hengst!“

Zwischen „Hügel der blutigen Augen“ und „Tödlicher Segen“ inszenierte der spätere „A Nightmare on Elm Street“- und „Scream“-Regisseur Wes Craven diesen auf einem Roman basierenden, auch unter dem Titel „Night Kill – Eine tödliche Bedrohung“ im deutschsprachigen Raum veröffentlichten Mystery-/Horror-Thriller fürs Fernsehen, wo er an Halloween 1978 erstausgestrahlt wurde.

„Findest du nicht auch, dass sie eine merkwürdige Art hat?“

Die Waise Julia (Lee Purcell, „Das Gesetz bin ich“) zieht bei den Bryants, der Familie ihrer Tante und ihres Onkels, ein, nachdem sie ihre Eltern bei einem Autounfall verloren hat. Ihre Cousine Rachel (Linda Blair, „Der Exorzist“) beobachtet als Erste, dass seit Julias Ankunft seltsame Dinge vor sich gehen und sich Julia subtil manipulativ und toxisch verhält. Schließlich gelangt sie zur Erkenntnis, dass Julia über übersinnliche Kräfte verfügt, die sie destruktiv einsetzt…

„Tut mir leid, die Dinge ändern sich eben!“

Im Vorspann sehen wir einen mitsamt Explosion pompös inszenierten schweren Autounfall, der kurz den Anschein erweckt, lediglich ein Alptraum Rachels zu sein. Doch tatsächlich erfährt sie nach dem Aufstehen vom Tode ihrer Tante und ihres Onkels. Ihre Eltern (Carol Lawrence, „Kiss Me Kate“ und Jeremy Slate, „Dead Pit“) fahren nach Kansas, wo die beiden lebten, und holen die hübsche Teenagerin Julia ab, damit sie bei ihnen einzieht. Zunächst ist alles sehr harmonisch; doch die Idylle bekommt erste zarte Risse, als ihr Bruder sich in Julia verguckt und Rachels Hengst Sundance ausbricht und auf Julia losgeht. Als Rachel zum Schulball möchte, bekommt sie Ausschlag; Julia, zu everybody’s Darling avanciert, begleitet an ihrer Stelle Rachels Freund zum Ball. Rachels Bruder weiß anschließend zu berichten, sie seien dort ausschließlich miteinander beschäftigt gewesen. Es scheint, als wolle sich Julia überall an Rachels Stelle drängen.

„Er kommt von einer Universität und weiß eine Menge über Hexerei!“

Rachels Welt bricht nach und nach zusammen: Ihr Freund macht Schluss und geht fortan mit Julia; beim Reitturnier geht Sundance wieder durch (mittels deftiger Tierstunts inszeniert), bricht sich das Bein und muss eingeschläfert werden, und ihr väterlicher Bekannter, Professor Jarvis (Macdonald Carey, „Roots“) erleidet einen Kollaps. Rachel vermutet Voodoo-Hexerei und findet Hinweise, die ihre These stützen. Sie schnüffelt in Julias Briefen, die eine gewisse Mary an sie adressierte, und kontakt diese. Als Jarvis im Krankenhaus wieder zu Bewusstsein kommt, erteilt er Rachel Ratschläge, wie sie Julia mit einer List als Hexe überführen könne. Julia wirft sich derweil sogar an Rachels Vater heran…

„Töte du deine Nattern, ich töte meine!“

Inhaltlich bewegt sich „Sommer der Angst“ also durchaus auch in Coming-of-Age-Drama-Gefilden, was dem Film guttut. Rachels Umfeld bricht ihr weg, eine gegenseitige Entfremdung findet statt. Um diesen Effekt zu erreichen, wurde eben jenes Umfeld allerdings zumindest zeitweilig als enorm unsensibel gezeichnet. Der Film scheint im ländlichen Kalifornien zu spielen, das sehr sonnige Ambiente bildet einen angenehmen Kontrast zu den düsteren Geschehnissen. Der Soundtrack nimmt sich mit stimmiger, oft sehr dezent eingesetzter Orchestermusik anders als in späteren Filmen des Regisseurs stark zurück. Die Handlung wird konventionell, aber dramaturgisch in angenehmem Tempo erzählt, bis es zur Eskalation in einer Dunkelkammer kommt und man im Finale dann auch ein wenig mit Make-up- und Spezialeffekten agiert. Alles in allem ist die Inszenierung aber etwas unspektakulär, wenn auch das dick aufgetragene Happy End von einer finalen Wendung konterkariert wird, für die man u.a. auf eine Point-of-View-Perspektive zurückgreift.

Dem Schauspielensemble, allen voran den Jungmiminnen, zuzusehen macht Spaß, Rachels Mutter hat optisch zudem hin und wieder ein bisschen was von Morticia Addams und die spätere SitCom-Nanny Fran Drescher gibt sich als Krankenschwester ein Stelldichein. Sicherlich ist „Sommer der Angst“ kein großer Wurf, aber diese TV-Produktion gefiel mir dann doch besser, als die allgemeinen Bewertungen im Vorfeld hätten vermuten lassen.
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Tatort: Leiche im Keller

„Ich schreib‘ dir ‘ne Karte!“

In seinem vierten Fall bekommt der Hamburger „Tatort“-Kriminalhauptkommissar Paul Stoever (Manfred Krug) seinen Partner Peter Brockmöller (Charles Brauer) zur Seite gestellt, der ihm bis zu seinem Ausstieg die Treue halten sollte. „Leiche im Keller“ wurde von Kurt Bartsch geschrieben und von Pete Ariel inszeniert, der damit bei seiner dritten von insgesamt neun Episoden der öffentlich-rechtlichen Krimireihe Regie führte. Die Erstausstrahlung erfolgte am 31. März 1986.

„Was gibt’s denn zum Frühstück?“ – „Eier im Glas!“

Wachmann Herbert Koslowski (Holger Mahlich, „Stammheim“) überfällt einen Geldtransport seines Arbeitgebers und lässt den Fahrer gefesselt und geknebelt zurück. Er erbeutet fast zwei Millionen DM. Mit seinem eineiigen Zwillingsbruder und Komplizen Karl (ebenfalls Holger Mahlich) kommt es zum Streit, weil sich beide gegenseitig misstrauen und zu übervorteilen versuchen. Der Streit eskaliert, Herbert bringt seinen Bruder um und nimmt dessen Identität an, während die Behörden den Leichnam für den verblichenen Herbert halten. Doch Karl, der seinen Lebensunterhalt als Fotograf verdiente, hatte mehr Dreck am Stecken, als Herbert ahnte – und dieser holt ihn nach und nach ein…

Am beeindruckendsten ist zunächst der coole ‘80s-as-fuck-Synthierock-Song „Money Is The Power“ im dialoglosen Auftakt, den Komponist Franz Bartzsch unter dem Pseudonym „F.B. Eye“ eigens für diesen „Tatort“ aufgenommen hat (und der als 7“-Single veröffentlicht wurde). Die recht laut und dominant eingesetzte Musik zieht sich als wiederkehrendes Thema durch die gesamte Episode. Brockmöller wird eingeführt, indem man ihn beim Frühstück mit seiner Tochter im Teenie-Alter Suse (Traudel Sperber, „Tatort: 30 Liter Super“) zeigt, während dessen er vom Überfall erfährt.

Die Koslowski-Brüder hassen sich und bekämpfen sich bis aufs Blut. Nur für kurze Zeit macht sich Regisseur Ariel einen Spaß daraus, sein Publikum darüber im Unklaren zu lassen, wer als Überlebender hervorgegangen ist, ob also ein Identitätstausch stattgefunden hat oder nicht. Dies wird recht bald aufgelöst, bietet aber auch ohne Whoisit? und Whodunit? genügend Potential für eine reizvolle Räuberpistole. Dass es einen zweiten Toten gibt, nämlich den unglücklich am Knebel erstickten Fahrer, erfährt Herbert aus der Zeitung – was sein Bruder auf dem Kerbholz hatte, jedoch von der Polizei und einem Kiezganoven (Nicolas Brieger, „Tatort: Das Haus im Wald“). Konkret geht es um minderjährige Aktmodelle, die an ausländische Bordelle verschachert wurden. Dieses pikante Thema wird frei von jeglichem falschen Sleaze oder reißerischer, boulevardesker Sensationsgier aufgegriffen, was jedoch im Umkehrschluss leider auch bedeutet, dass es nicht tiefgehender verfolgt wird.

Und wer beispielsweise glaubte, dass Brockmöllers Tochter eventuell in diese Machenschaften involviert werden würde, sieht sich getäuscht: Sie spielt nach der Frühstücksszene keinerlei Rolle mehr. Auch wird hier kein Pädo-Ring zerschlagen. Jedoch führt man mit Angelika Winter (Beate Finckh, „Ich oder du“) eine Figur ein, die Koslowski auf eigene Faust zur Rechenschaft ziehen will, aber auch Kommissar Stoever kennenlernt und unbewusst zur entscheidenden Hinweisgeberin wird. Stoevers Blick – und Gedächtnis – für Details hilft ihm schließlich, den Fall zu lösen. Bis dahin bekommt man noch ein bisschen Kiez ohne die entsprechende Folklore geboten, dafür mit klassischer Polizeiarbeit in Form einer Beschattung, die in eine kleine Verfolgungsjagd und einen schönen Taxitrick des Gangsters mündet, mit dem er die Polizei an der Nase herumführt.

„Leiche im Keller“ ist relativ langsam erzählt, meist, um die Lässigkeit oder Nachdenklichkeit handelnder Figuren zu verbildlichen. Dies resultiert in einem nach dem Auftakt recht gedrosselten Tempo, das alles etwas schaumgebremst wirken lässt. Zudem wird das volle Potential der Geschichte kaum ausgeschöpft. Eines der vermissten Mädchen sieht auf einem der Fotos interessanterweise nach Punkerin aus, aber auch Subkultur bleibt außen vor. Das Buch konzentriert sich dann eben doch in erster Linie auf Herbert Koslowski und auf die gruselige Vorstellung, nach einem vermeintlich vorteilhaften Identitätsdiebstahl überraschend schlechter dran zu sein als zuvor – und aus diesem Dilemma auch als abgebrühter Kapitalverbrecher kaum einen Ausweg zu finden. Mahlich spielt seine Doppelrolle überzeugend, gemeinsame Szenen beider Rollen sind aber sehr simpel getrickst. Brockmöller hingegen ist eigentlich einfach nur da, darf immerhin einen Zuhälter in einer Befragung ohrfeigen. Stoever erscheint dafür umso souveräner. 6,5 von 10 Solariumsbesuchen ist mir das wert, allerdings inklusive nicht ungefährem ‘80er-Bonus.
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Studentin, 19, sucht...

Vom Callcenter zum Callgirl

„Wir haben genug geredet!“

Die französische Schauspielerin und Regisseurin Emmanuelle Bercot („Viel zu jung“) verfilmte im Jahre 2010 für das französische Fernsehen einen anonym veröffentlichten, autobiografischen Roman über Studentinnenprostitution, der 2008 erschienen war. Buch und Film greifen das gesellschaftliche Phänomen und Problem auf, dass ein angeblich nicht unbeträchtlicher Anteil Studentinnen sexuelle Dienstleistungen anbietet, um sich sein Auskommen während des Studiums zu finanzieren.

„Ob du dich vielleicht freimachen könntest?“

Laura (Déborah François, „Das Mädchen, das die Seiten umblättert“) ist 19 Jahre jung und hat gerade begonnen, an der Universität Fremdsprachen zu studieren. Trotz ihres Nebenjobs in einem Callcenter haben ihr Freund (Benjamin Siksou, „Blau ist eine warme Farbe“) und sie Probleme, das Geld für die Miete der gemeinsamen Wohnung aufzutreiben. Als sie sich im Internet nach alternativen Verdienstmöglichkeiten umsieht, stößt sie auf Kontaktanzeigen, in denen nach Sexarbeit gesucht wird. Sie lässt sich darauf ein und macht trotz schlechter Erfahrungen weiter, woran die Beziehung zu ihrem Freund zerbricht, wodurch sie aber immerhin ein stattliches Einkommen erzielt…

„Ja, sei sexy!“

Bei diesem Film, dessen Handlung ich hier grob wiedergeben werde, handelt es sich ausdrücklich um ein Drama, ohne „Erotik-“-Präfix. Trotz freizügiger Hauptdarstellerin und Inszenierung ist „Studentin, 19, sucht…“ nicht auf eine anregende Wirkung hin konzipiert, sondern rückt eine nach gängigen Maßstäben eher durchschnittlich attraktive Figur, die zudem nicht als klassische Sympathieträgerin gezeichnet ist, in den Mittelpunkt eines schroffen Realismus. Es handelt sich aber auch um keinen moralistischen Film, denn mit grundlegenden Verurteilungen in die eine oder andere Richtung hält er sich zurück. Das mag zunächst irritieren und trägt dann auch zum ambivalenten, nicht nach gewohnten dramaturgischen Strukturen funktionierenden Filmerlebnis bei.

„Was erwartest du? Du bist keine Kate Moss!“

Laura wirkt überaus naiv, als sie überrascht auf die Forderung ihres Freunds reagiert, sie möge sich doch bitte an der Miete beteiligen. Ihr unterernährungsbedingter Kreislaufzusammenbruch im Hörsaal ist in seiner Suggestion, sie würde aus Armut hungern, arg dick aufgetragen, und wie schnell sie beim bezahlten Sex landet, scheint erzählerisch überhastet und dadurch zu wenig motiviert. Ab dem Moment, ab dem man ihr bei der Ausübung ihres neuen „Jobs“ beiwohnt, packt einen der Film aber mit dieser Mischung aus Abscheu und Neugier, die einen dann eben doch dranbleiben lässt: Während ihres ersten Auftrags ist sie noch sehr verunsichert, tut dann aber rasch sehr abgeklärt. Bereits ihr zweiter Job fühlt sich jedoch mehr wie eine Vergewaltigung an. Die Beziehung zu ihrem Freund, dem sie nichts davon erzählt hatte, beendet sie im Anschluss – was auch bedeutet, dass sie die Miete für die Wohnung zukünftig allein stemmen muss.

„Besser das als Kassiererin im Supermarkt!“

Dass sie sich zum Lernen ausgerechnet in einen Livemusik-Club setzt, erscheint bizarr, ist für die Handlung aber insofern von Bedeutung, als sie dort jemanden kennenlernt. Sie lässt Erotikfotos von sich schießen und scheint dem horizontalen Gewerbe zu entkommen. Ein Zeitsprung führt zum Ende des ersten Semesters. Nur noch ein einziges Mal möchte sie sich prostituieren und gerät dabei ausgerechnet wieder an ihren allerersten Kunden: Joe (Alain Cauchi, „Wir waren Zeugen“). Der bezahlt sie mit einem neuen Notebook, benutzt sie für eine Bondage-Nummer und vergewaltigt sie mit einem Dildo. Das sind kranke, schwer erträgliche Szenen. In Benjamin (Mathieu Demy, „Stille Jagd“) findet sie einen neuen Freund, mit dem sie auch über ihre Erfahrungen sprechen kann. Ihre permanenten Geldsorgen werden nun wiederholt erwähnt – und in aneinandergereihten Szenenfragmenten wird gezeigt, dass sie sich ihren Vorhaben und Gewalterfahrungen zum Trotz weiterhin prostituiert. Die Summe, die sie jeweils einnimmt, wird dabei wie an einer Registrierkasse eingeblendet. Einer der Freier bescheißt sie, zahlt nur 20,- statt 200,- Euro. Und als ein weiterer Freier zu nerven beginnt, reagiert Benjamin gereizt. Er bekommt zunehmend Probleme mit ihrem Job. Die Beziehung zerbricht.

„Heutzutage ist alles käuflich...“

Es eskaliert, als sie von ihrem Fotografen ihre Aktfotos zurückfordert. Sie will nach Paris gehen und einen Neuanfang wagen, trifft sich trotz allem aber doch wieder mit Joe, der sie in einen Sexclub mitnimmt. Was dort geschieht, wird ausgespart, außer Lauras Entsetzen. Dennoch kassiert sie ihre 1.000,- Euro. Hinterher ist sie ganz aufgelöst und angewidert. Und dann hat Joe auch noch weniger Geld als vereinbart in den Umschlag gepackt, weil er sie noch einmal wiedersehen will. Er verarscht und belästigt sie weiterhin. Spätestens in diesen Momenten ist’s mit der Nachvollziehbarkeit Lauras Verhaltens ganz dahin, das eher an das eines Junkies denn an eine Studentin in finanziellen Nöten erinnert. Der Alternativlosigkeit, die sie empfinden muss, stellt der Film dann auch nichts zur Seite, sodass er das fatale Signal zu senden droht, dem sei tatsächlich so. Was nicht stimmt, denn, und das ist für alle Betroffenen wichtig zu wissen: Es gibt immer eine Alternative. Und, siehe da: Plötzlich nimmt sie dann doch einen Job in der Gastronomie an. Ihr zweites Semester besteht sie mit „gut“. Dann ruft sie Joe an, um ihm das zu sagen, weil er doch eine Art Vaterersatz geworden sei – das ist grotesk und erschreckend, aber immerhin ein Hinweis darauf, dass bei Laura psychologisch etwas sehr im Argen liegen muss.

Was genau das ist und ob es sich um eine Folge ihrer Erfahrungen als Prostituierte oder um eine bereits zuvor vorhandene Disposition handelt, beantwortet der Film nicht. Auch lässt er offen, ob sie nicht doch wieder mit der Sexarbeit angefangen hat, um sich eine Luxuswohnung leisten zu können. Der Epilog zeigt sie im TV-Studio, wo sie ihre Geschichte erzählt. Der Talkmaster unterstreicht diese mit Statistiken, die die prekäre finanzielle Situation von Studierenden untermauern. „Studentin, 19, sucht...” geht damit zurück auf Anfang, zurück zum Sozialdrama über mittellose Studentinnen und über die allgemeine Käuflichkeit von beinahe allem (wahrscheinlich die stärkste Aussage des Films). Eine psychologische Vertiefung bleibt aus, Laura einem seltsam fremd und das Ende offen, ohne Pointe, ohne Fazit. Das ist unbefriedigend und erweckt den Eindruck, als wisse der Film respektive Bercot respektive die anonyme Autorin der Literaturvorlage selbst nicht so recht, worauf sie eigentlich hinauswollen bzw. warum Laura – respektive die Buchautorin – sich eigentlich so verhält, wie sie es tut.

Wer Antworten, die über eine klamme Kasse hinausgehen, sucht, scheint mir hier an der falschen Adresse. Eine durch Sexarbeit erlernte Sucht nach dem schnellen Geld, die das eigene Gewissen und Selbstwertgefühl korrumpiert, wäre eine mögliche Antwort, doch das ist reine Interpreta- und Spekulation. Wer eine mitunter recht drastische Entromantisierung der Prostitution sucht, dürfte hier hingegen fündig werden.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Krieg im Weltenraum

„Eine fliegende Untertasse – in Deckung!“

Der japanische Filmemacher Ishirô Honda ist in erster Linie für seine Kaijūs, allen voran „Godzilla“, bekannt, verdingte sich aber auch immer mal wieder im Science-Fiction-Bereich, beispielsweise bei „Weltraum-Bestien“ aus dem Jahre 1957. Zwei Jahre später folgte „Krieg im Weltenraum“.

„Ich glaube, dass wir Menschen bald unsere romantischen Gefühle verlieren werden!“

Die nahe Zukunft des Jahres 1965: Kaum herrscht auf der Erde einigermaßen Frieden, zetteln Außerirdische kräftig Stunk an. Die Erdengemeinschaft wehrt sich redlich und reist auf den Mond, wo die extraterrestrischen Fieslinge vermutet werden, wird jedoch von einem unter feindlicher Kontrolle stehenden Besatzungsmitglied sabotiert… Wird man trotzdem die Invasion aus dem „Weltenraum“ abwenden können?

„Ich schieße mit der Strahlenpistole! Achtung!“

Honda geht mit einem Angriff auf eine Raumstation im All direkt all in; die Spezialeffekte aus der Weltraumschlachten-Frühzeit sind durchschaubar, sehen aber geil aus. Anschließend passiert irgendetwas mit einem Bahnbrückenwärter und Honda lässt eine Märklin entgleisen. Katastrophenmeldungen aus aller Welt überschlagen sich, visualisiert in Form von Zeitungsschlagzeilen und Ausschnitten aus Nachrichtensendungen, eine UN-Versammlung wird einberufen. Die Ursache für die Katastrophen scheinen gezielte Schwerkraftabschwächungen zu sein. Schnell werden Außerirdische als Übeltäter in Betracht gezogen.

Experimente mit einer neuartigen, äußerst effektiven Strahlenkanone und die Präsentation neuer Raumschiffe steigern den Futurismus des Films. Dr. Achmed (Malcolm Pearce) ist sodann der erste, der unter Einfluss der Aggressoren steht; durch ihn als Medium geben sie sich erstmals zu erkennen. Kurz darauf versklaven sie einen Autofahrer, der sich später als das sabotierende Mitglied der Besatzung der Mondmission entpuppen wird. Zuvor aber werden die Taikonauten mit einer Militärparade feierlich verabschiedet. Die Fahrt zum Mond ist mit Weltraumkriegsszenen ausgeschmückt; auf dem Erdtrabanten hingegen werden sie von leider alles andere als bedrohlich erscheinenden kleinen humanoiden Wesen umzingelt, die lustige Quietschgeräusche erzeugen und wie Kinder wirken. Dennoch werden sie mit der Strahlenwumme einfach umgeballert.

Charmanter ist da der Angriff auf die fliegende Untertasse, generell wissen die Schlachten auf dem Mond zu gefallen – auch wenn sie alles andere als epische Ausmaße annehmen. Eigentlich etwas schade ist jedoch, dass aus dem Film mit seinen Paranoia-Horror-Ansätzen damit ein fast reinrassiger Science-Fiction-Action-Film geworden ist. Ein zwischenzeitlicher Triumph, der die Menschheit auf Erden vereint, wirkt zunächst wie ein verfrühtes Ende des Films; doch offenbar fiel Honda auf, dass es das noch nicht gewesen sein kann, und so flanschte einen Nachschlag an, der es in sich hat: Die, wie ein Off-Sprecher zu berichten weiß, nun in extremem Ausmaße Waffen produzierenden Erdenbewohnerinnen und -bewohner ziehen schon bald in die nächste Weltraumschlacht, die – und das ist überraschend deftig ausgefallen – zu Zerstörungen in New York, San Francisco und Tokio führt. Hondas Crew durfte sich in diesen hübschen Miniaturzerstörungsorgien so richtig austoben und vorm bedauerlich kitschigen Happy End dem einen oder anderen Wahrzeichen dem Garaus machen.

„Krieg im Weltenraum“, wahrscheinlich einer der ersten richtigen Weltraum-Actioner, verfügt über eine tolle Farbgestaltung und mag zwar dramaturgisch etwas eigenwillig und aus heutiger Sicht mit manch Spezialeffekt altbacken und überholt wirken, war aber nicht nur mit seiner gemischtgeschlechtlichen Raumfahrtbesatzung fortschrittlich, mit der Visualisierung der globalen Ausmaße kühn – und mit Hondas auch in anderen Filmen eingeflochtenem Traum vom Zusammenrücken der Menschheit utopisch.
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Ghoulies

„Ich brauche was Süßes vor die Flinte, Kumpelchen!“

Schauspieler Luca Bercovici debütierte für Charles „Full Moon“ Band im Jahre 1984 mit dem Horrorfilmchen „Ghoulies“ als Regisseur.

„Schubidu, Hokuspokus, let's fetz!“

Jonathan Graves (Peter Liapis, „Swordkill“) ist Erbe des Schlosses seines Vaters (Michael Des Barres, „MacGyver“), der als Magier tätig war. Dort zieht er mit seiner Freundin Rebecca (Lisa Pelikan, „Swing Shift – Liebe auf Zeit“) ein, findet alte Bücher okkulten Inhalts, führt eine Geisterbeschwörung durch, findet Gefallen daran und gibt sich weiteren Ritualen hin, wodurch er die Ghoulies, kleine grüne Monster, herbeilockt…

„Ich kann dieses Haus nicht mehr verlassen!“

Hui, ein Horrorfilm aus den glorreichen ‘80ern um fiese kleine Monster für „Gremlins“- und „Critters“-Fans, dazu noch ein wunderbar trashiges Plakat mit einem Ghoulie, der sich aus einer Toilettenschüssel erhebt? Her damit, „Play“ gedrückt! Der Prolog zeigt eine unheilige Zeremonie. Ein Baby soll geopfert werden, wird aber gerettet. Ein paar Monsterchen hängen dort herum. Der Obermufti hat grüne Augen und die Frau irgendwas unter der Haut. Oha, eine Charles-Band-Produktion. Na gut, schauen wir mal. Der Kindsretter führt nach dem mit cooler Mucke unterlegten Vorspann in die Gegenwartshandlung ein. Ein Paar bezieht ein altes Haus. Aha, Jonathan, Nachkomme des satanischen Obermuftis mit seiner Perle. Hat die Butze von seinem Alten geerbt. Werden ihnen die Ghoulies das Leben schwermachen?

„Das ist eine schöne Nacht...“ – „Schön gespenstisch!“

Erst mal findet Jonathan die alten Wälzer und schmeißt eine Einweihungsparty mit debilen Dialogen und der für Horrorfilme damals anscheinend obligatorischen bekloppten Tanzszene, diesmal Breakdance für Arme (und Beine). Zum Spaß führt man eine Geisterbeschwörung durch, wodurch man eine hässliche Ratte heranbeamt. Ein paar False Scares werden platziert; na Mensch, da hab‘ ich mich aber erschrocken… Jonathan bringt die Bude auf Vordermann, plötzlich quatscht der Off-Sprecher wieder rein. Jonathan findet eine Kutte und führt ein weiteres Ritual durch. Den Anhänger, den er gefunden hat, schenkt er seiner Freundin. Nun kann er auch grün mit den Augen leuchten und ruft viele kleine Monster aus dem Garten zu sich. Da sind sie also endlich, die Ghoulies, und sehen tatsächlich ganz geil aus. An seinen Beschwörungen hat Jonathan nun aber echt einen Narren gefressen, selbst beim Sex hört er nicht auf damit. Will man mich verarschen?

„Zum Teufel, wo ist meine Robe?!“

Zudem ist bereits die Hälfte um. Wann kommt der Film denn endlich in Gang? Jonathan holt sich noch zwei Zwerge dazu, wieder Gequatsche aus dem Off. Er hat Freunde zum Essen eingeladen, Kirchenorgelmucke erklingt. Die Freunde dürfen bei ihm übernachten, ich bin mittlerweile ungelogen schon zweimal weggenickt. Ah, der Obermufti kehrt im Zombie-Make-up zurück, das ihm mehr Ausdruck verleiht, als das gesamte laienhaft agierende Ensemble bisher zu bieten hatte. In Minute 55 ist es so weit: der erste Ghoulie-Angriff! Leider sehr harmlos inszeniert. Nett: Eine vermeintliche Sexbraut stranguliert einen Gast mit ihrer Riesenzunge. Seinen zweiten Punkt hat der Film damit schon mal sicher. Geht’s ab jetzt richtig rund, Monsterparty galore? Nee. Die Zwerge kämpfen gegen die Ratte, nachdem sie einen Gast niedergeschlagen und rausgezerrt haben. Irgendjemandem soll etwas ins Gesicht geworfen werden, das Ergebnis sieht man aber nicht. Ein schleimiges grünes Monster pellt sich aus einem Jokerkostüm und Rebecca fällt vor Schreck die Treppe herunter. Die Gäste sind anscheinend allesamt den Angriffen erlegen, was aber ebenfalls gar nicht erst gezeigt wurde.

„Ihr verdammtes Gewürm!“

Sie finden sich nun unter Laken drapiert im Keller wieder, wo es zum Kampf Vater Obermufti gegen Sohn Jonathan kommt. Paps manipuliert Rebecca und der zauselige Hausmeister, anscheinend (wie jeder Hausmeister) ein allwissendes mystisches Wesen, das man nur anfänglich kurz erspähen konnte und bisher tatenlos zusah (vermutlich ebenfalls vor Langeweile eingeschlafen), greift nun ein, man duelliert sich mittels Blitzen und einem leichtem Erdbeben mit dem Alten. Rebecca ist nach ihrem Sturz wieder fit und alle anderen auch… Komm, hör mir auf. Und was sollten überhaupt die Ghoulies in dieser dämlichen Böser-Magier-Story, die hätten bei alldem doch im Prinzip weiter im Garten chillen können!?

Verdammt, ich bin auf eine Mogelpackung hereingefallen. Ich liebe das Plakatmotiv, aber der Film ist unausgegorene Billigscheiße auf Beinahe-Amateurniveau. Dabei hätte ich es von vornherein wissen können, schließlich suggeriert das Motiv bereits den Griff ins Klo…

Zu Teil 2 haben die (damals noch) Schock-Metaller W.A.S.P. einen exklusiven Song beigesteuert, den ich seit meiner Kindheit schätze. Also muss auch der bald mal vor die Linse. Hilft ja nüscht – und kann eigentlich nur besser werden…
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Angriff der Riesenkralle

„...für eine Wolke flog es viel zu schnell!“

Der im Jahre 1957 von Regisseur Fred F. Sears („Fliegende Untertassen greifen an“) inszenierte US-Low-Budget-Science-Fiction-Horrorfilm um ein riesiges geflügeltes Ungetüm, die titelgebende „Riesenkralle“, schaffte es durch eine RTL-Ausstrahlung erst im Jahre 1996 in den deutschsprachigen Raum, wurde entsprechend spät deutsch synchronisiert – und genießt seither unfreiwilligen Kultstatus.

„Habt ihr mit 'ner fliegenden Untertasse geknutscht?“

Flugzeugingenieur Mitch MacAfee (Jeff Morrow, „Metaluna 4 antwortet nicht“) macht ein riesiges unbekanntes Flugobjekt am Himmel aus. Umgehend schickt das US-Militär seine Flieger los, um den Luftraum danach abzusuchen, doch werden sie genauso wenig fündig wie die Radare am Boden. Aber auch, wenn irdische Radartechnik es nicht erfassen kann: das Objekt existiert, bringt zahlreiche Flugzeuge zum Absturz – und ist ein außerirdischer Riesenvogel, der reichlich Appetit mitgebracht hat. MacAfee reist zusammen mit der Mathematikerin Sally Caldwell (Mara Corday, „Tarantula“) nach New York, und ihr Flug wird von der Bestie angegriffen… Wie kann man dem Monstrum Herr werden?

„Für was für ein infantiles Rindvieh halten Sie mich eigentlich?!“

Ein reißerischer Voice-over-Sprecher führt in den Film ein, der zur Kostenreduktion anfänglich viel mit Militärarchivmaterial arbeitet. Der Sheriff erzählt den Leuten wenig sensibel von der Legende um den Vogel („Wer ihn sieht, wird bald sterben!“) und MacAfee schmeißt sich an die Mathematikerin heran. Nach einer knappen halben Stunde zieht der Off-Erzähler wieder vom Leder und man bekommt das Vieh erstmals in voller „Pracht“ zu sehen. Der Flattermann sieht aus wie ein gerupfter Truthahn bzw. wie eine Marionette aus dem Kindertheater und frisst zwar Fallschirmspringer, wirkt aber alles andere als bedrohlich, viel mehr belustigend. Eigentlich sollte es vom Stop-Motion-Creature-Design-Großmeister Ray Harryhausen gestaltet werden, aus Kostengründen habe man jedoch auf eine mexikanische Discount-Variante zurückgreifen müssen….

„Vernünftiges Handeln ist kein Privileg der Zivilisten!“

So darf man ungläubig diesen Kreaturenspektakel-Unfall beäugen und einigen (pseudo-)wissenschaftlichen Dialogen zu Atomen und Antimaterie lauschen, bevor unserer Riesenkralle die Eier zerschossen werden. Doch diese ist weiterhin und nicht nur in ihrer schnieken Fönwelle auf Krawall gebürstet: Halbstarke Rowdys im Straßenverkehr enden als Vogelfutter. Der Kackvogel landet wie einst sein unerreichtes Vorbild King Kong auf dem Empire State Building und nimmt es auseinander, ja, schreckt nicht einmal davor zurück, das Gebäude der Vereinten Nationen anzugreifen. Letztlich zerstört es die halbe Stadt.

„Eine Art molekulare Osmose!“ (So kann man es natürlich auch nennen.)

Wenn Militär und Wissenschaft zusammenarbeiten, sind sie unschlagbar – so oder so ähnlich lautet am Ende die Aussage dieses Ausflugs in die bestgehüteten Geheimnisse des Vogelparks Walsrode, der interessanterweise fast zeitgleich mit dem japanischen Kollegen „Rodan“ produziert und, um zusätzlich Geld zu sparen, auch noch mit Actionszenen aus Sears‘ vorausgegangenem Film „Fliegende Untertassen greifen an“ angereichert wurde. Dass er über weite Strecken von einem A-Cast mit verbissenem Ernst gespielt wird, ist damit zu erklären, dass der extraterrestrische Schluckspecht erst nachträglich in den Film eingefügt wurde – und die Schauspielerinnen und Schauspieler ihn erst während der Kinopremiere erstmals und peinlich berührt zu Gesicht bekamen. Der Kontrast aus bemühter Seriosität und völliger Wirkungsverfehlung macht das Trash-Vergnügen erst perfekt!
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Ich und Kaminski

„Er muss natürlich noch sterben.“

Wolfgang Beckers („Good Bye, Lenin!“) bis dato jüngster Film „Ich und Kaminski“ aus dem Jahre 2015, eine Verfilmung des (mir unbekannten) gleichnamigen Romans Daniel Kehlmanns, ist eine Mischung aus Dramödie und Satire auf den Kunstbetrieb, versetzt mit Roadmovie-Elementen. Der Film entstand in deutsch-belgischer Koproduktion.

„Da rollt ein Kaminski-Zug auf uns zu!“

Der ebenso ehrgeizige wie überhebliche Kunstkritiker Sebastian Zöllner (Daniel Brühl, „Der ganz große Traum“) hat es in seinem Beruf bisher kaum zu Erfolg gebracht und lässt sich von seiner Freundin Elke (Jördis Triebel, „Die Päpstin“) aushalten. Dies soll sich mit seinem neuen Projekt ändern: Er will die Biografie des altgewordenen und erblindeten Malers Manuel Kaminski (Jesper Christensen, „Casino Royale“) verfassen, von dem er annimmt, dass er nicht mehr lange leben wird – und ihn der Lüge überführen, denn er glaubt nicht an Kaminskis Blindheit. Zunächst scheitern seine Versuche, an den zurückgezogen in den Schweizer Alpen lebenden Kaminski heranzukommen, dessen Tochter Miriam (Amira Casar, „Michael Kohlhaas“) den Künstler vor schädlichen äußeren Einflüssen weitestgehend abschottet. Als es ihm mithilfe unlauterer Methoden doch noch gelingt, Kaminski ohne Aufpasserin Miriam zu treffen, eröffnet er ihm, dass dessen alte Muse und Jugendliebe Therese (Geraldine Chaplin, „Wolfman“) noch lebe, und macht sich mit ihm zusammen auf dem Weg zu ihr…

„Gleich kommt das Millionenspiel!“ (Eine Anspielung auf Tom Toelles böse TV-Satire?)

Der Prolog ist eigentlich ein vorangestellter Epilog, denn er setzt mit dem Tode Manuel Kaminskis ein, der erst nach dem Ende der Handlung eingetreten ist. Vermittelt wird dieser in Form von Fotos und Bewegtbildern aus Kaminskis Leben sowie Aussagen seiner Weggefährten und sogar Fotomontagen, die Kaminski mit berühmten Persönlichkeiten zeigen, im Stile eines dokumentarischen Nachrufs. Das ist mit viel Verve umgesetzt und beweist schelmischen satirischen Humor. Zöllner, gespielt von einem bärtigen Brühl, lernen wir, auch über seinen eigenen Off-Kommentar, als unsympathischen und zynischen Egomanen kennen, der wie eine Karikatur peinlicher Flitzpiepen der Springer-Presse wirkt. Zugleich werden sowohl Kunstbetrieb als auch Literaturbranche aufs Korn genommen. Die in Kapitel unterteilte Handlung kostet zudem ein wenig den Kultur-Clash zwischen der BRD und der ländlichen Schweiz aus, bevor es nach Frankreich geht. Französische Dialoge werden untertitelt.

Auch nach dem Prolog arbeitet Becker mit netten visuellen Effekten. So werden kleinere Zeitsprünge integriert, indem Zöllner auf seinem Diktiergerät zurückspult und damit auch die Bilder bis zum Zeitpunkt des jeweiligen Gesprächs zurücklaufen. Schön auch, wie ein ehemaliges Aktmodell Kaminskis in ein junges Modell zurückverwandelt und schließlich zum Gemälde wird. Auch Zöllners Fantasien werden verbildlich, z.B. Sex mit Kaminskis Tochter. Auf ihrer gemeinsamen Reise gerät Zöllner fast ausschließlich an Bekloppte, was leider ab einem gewissen Zeitpunkt ein bisschen beliebig wirkt. Generell zieht sich die Handlung umso mehr, je stärker Drama und Melancholie Einzug halten. Das scheint mir Becker hier nicht ganz zu liegen, der Film leidet unter Timing-Problemen und wird auf Dauer ein bisschen langweilig. Und manch schwerverständliches Sprachwirrwarr wirkt dann auch eher enervierend denn komisch.

Klar, Zöllner macht an der Seite Kaminskis eine gewisse (wenn auch minimale) Entwicklung durch, aber wer geduldig auf eine überzeugende Moral oder Pointe wartet, dürfte sich am Ende enttäuscht sehen, denn der Film endet – offenbar beabsichtigt – im Nichts. Dass Zöllner sein Ziel nicht erreichen würde, war von vornherein abzusehen. Die Konsequenz daraus ist, dass „Ich und Kaminski“ mit all seinen Spielereien, Sticheleien und satirischen Anwandlungen bei gleichzeitigen erzählerischen Schwächen und der Verweigerung eines Höhepunkts im finalen Akt ähnlich selbstverliebt erscheint wie das, was er durch zuspitzende Verballhornung kritisiert. Oder sich nicht traut, die Literaturvorlage kinotauglicher abzuändern.

Es existierte übrigens tatsächlich ein deutscher Maler namens Max G. Kaminski, der mit dem hier Porträtierten jedoch bis auf den Familiennamen nichts gemein haben dürfte.
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