„Dezenz war Schwäche in den 90ern!“
Dieser knapp 90-minütige Dokumentarfilm aus dem Jahre 2019 ist Teil des vergangene Dekaden Revue passieren lassenden Infotainment-Programms, mit dem der WDR Dokumentarfilm-Autorin und -Regisseurin Melanie Didier Ende der 2010er beauftragt hatte. Als erste waren also die 1990er an der Reihe, die drei Jahre zuvor in einem offenbar ganz ähnlichen Format von Pia Lüke und Cornelia Quast für „Einfach krass! Die coolen 90er“ beackert worden waren (jener auch unter anderen Titeln wiederholt ausgestrahlte Film ist mir leider bis auf eine Inhaltsangabe unbekannt). Während sich Heiko Schäfer in „Die verrückten 90er – Das Turbo-Jahrzehnt der Deutschen“ aus einer erwachsenen Perspektive dem Jahrzehnt widmet, geht es Didier ausdrücklich um ein Jugendporträt – sodass der Film als Ergänzung Schäfers Arbeit betrachtet werden kann, wenngleich es zu Überschneidungen kommt.
Das Konzept ist bekannt: Eine Stimme aus dem Off führt durch eine Aneinanderreihung historischer Fernsehausschnitte, die jeweils ein damaliges populärkulturelles Phänomen, einen Trend oder eine Neuheit dokumentieren, welche wiederum von verschiedenen Prominenten kommentiert und in Bezug zum eigenen Leben in den ‘90ern gesetzt werden. Für diesen Film versammelte man die Hippiesänger Angelo und Joey Kelly, Pop-Sängerin Jasmin „Blümchen“ Wagner, Musiker und Schlager-Parodist Guildo Horn, Hip-Hopper und Entertainer Bürger Lars Dietrich, Moderatorin Aleksandra Bechtel, Moderator Marco Schreyl sowie die Humoristinnen Lisa Feller und Meltem Kaptan vor der Kamera.
Folgende Themen kommen aufs Tapet:
- Take That, Kreischerei und weitere Boygroups
- Plateau- und Buffalo-Schuhwerk (schlimmer geht’s kaum – und dass mit „Buffalos“ seinerzeit etwas ganz anderes als Cowboystiefel bezeichnet wurden, will mir noch immer nicht so recht in den Sinn)
- „Girlpower“ mit den Spice Girls
- Lucilectric (die war cool)
- Der TV-Sender Viva (furchtbar aufgesetzt)
- Eurodance (nur ultrakurz angerissen und damit seiner damaligen Omnipräsenz nicht gerecht werdend)
- Bauchfreie Mode, Bauchtaschen, Levi’s-Jeans, Markenwahn
- Aber auch: Grunge-Look
- Grunge als musikalisches Phänomen
- Tattoos und Piercings, Arschgeweihe
- Tic Tac Toe
- Die Bravo
- Schule
- Game Boy
- PCs und Internet
- Spielkonsolen
- Fernsehen und gestiegener Fernsehkonsum
- Die Fernsehserie „Baywatch“
- Tägliche Talkshows
- Die Fernsehserie „Verbotene Liebe“
- Skateboarding wird Mainstream und Poppertrend
- Baggie Pants (Schlabberhosen) und Fat Laces (dicke Schnürsenkel)
- Die fantastischen Vier im Speziellen und Hip-Hop im Allgemeinen
- Techno und die „Loveparade“-Neohippies, Ecstasy und die „Mayday“
- Supersoakers, Furbys und das Tamagotchi (Spielzeuge)
- Die unvermeidliche Diddl-Maus
- Die Kelly Family
- Mobiltelefonie
- Millennium (das vermeintliche, was man aber verschweigt)
Viva wird thematisiert, der Einfluss von MTV bleibt hingegen unerwähnt. Immer populärer werdende Top-Models und ihr nicht immer positiver Einfluss auf die Jugend fehlen ebenso wie musikalische Entwicklungen à la Britpop, Alternative, zu überlebensgroßen Stadionbands mutierende Metallica und Guns n‘ Roses, Gitarrenmusik-/Hip-Hop-Crossover, das Punk-Revival (inkl. der legendären Chaostage 1995) und der Siegeszug von Gesangsdiven wie Whitney Houston oder Mariah Carey. Und wenn man Guildo Horn schon mal dahat, könnte man seine Rolle im Musikzirkus ruhig auch mal erwähnen. Dafür geht man bei Modetrends bis ins Schnürsenkel-Detail. Die Gewichtung stimmt hier ganz und gar nicht!
Der Off-Kommentar ist mitunter launig und lakonisch, die Aussagen der Promis hingegen häufig etwas arg naiv und vor allem gefällig. Feller war also „Grungerin“? So so… Je weiter die Doku voranschreitet, desto mehr Unfug wird verzapft und desto mehr wird Schönrednerei betrieben. Das authentische Quellenmaterial, also die TV-Ausschnitte, wissen dafür häufig zu gefallen; zudem hat man den Film mit zeitgenössischer Musik unterlegt – außer bei der Mobiltelefonie, wo man auf Falcos „Vienna Calling“ zurückgreift. Sein Tod bleibt unerwähnt.
„Jung in den 90ern – Gameboy, Girlies, Glücksgefühle“ ist leider nicht mehr als ein seichter, unreflektierter und sehr selektiver Nostalgietrip und markiert unter den von mir bisher gesehenen Dekaden-Retrospektiven des WDR den bisherigen Tiefpunkt. Oder kurz: So überflüssig wie eine Telekom-Aktie. Glücklicherweise steigerte man sich innerhalb der „Jung in den…“-Reihe bereits mit dem nur wenige Wochen später ausgestrahlten „Jung in den 80ern“ deutlich.