bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Euer Filmtagebuch, Kommentare zu Filmen, Reviews

Moderator: jogiwan

Benutzeravatar
buxtebrawler
Forum Admin
Beiträge: 41695
Registriert: Mo 14. Dez 2009, 23:13
Wohnort: Wo der Hund mit dem Schwanz bellt.
Kontaktdaten:

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Beitrag von buxtebrawler »

Bild
Frau Wirtin treibt es jetzt noch toller

„Die Geheimpolizei ist das Einzige, was in Österreich wirklich funktioniert. Im Schnüffeln macht uns keiner was vor!“

Franz Antels Wirtin von der Lahn zum Fünften und Vorletzten: „Frau Wirtin treibt es jetzt noch toller“ stammt wie Teil 4 aus dem Jahre 1970, entstand wie gehabt in österreichisch-italienisch-deutscher Koproduktion, schraubte aber den Musical-Teil herunter und ist somit in erster Linie eine angesexte Kostümklamotte vor historischem Hintergrund der K.u.k.-Monarchie.

Die junge Ilona (Teri Tordai, „Ferien mit Piroschka“) lässt es sich in Ungarn gutgehen, soll aber, geht es nach ihrem Onkel (Herbert Probst, „Operation Walküre“), dem Maria-Theresia-Weingutverwalter, schnellstens unter die Haube. Auserkoren hat er den äußerlich unattraktiven französischen Grafen Vicomte de Champenoise (Jacques Herlin, „Das zehnte Opfer“). Die angedachte Eheschließung brächte zudem den Vorteil mit sich, dass sie ihm die Position des Gutsverwalters sichern würde. Ilona jedoch ist entsetzt, verkleidet sich kurzerhand als Junge und flieht nach Wien zu ihrer Schwester Suzanne (Teri Tordai), der berüchtigten Lahn-Wirtin. Die in Ungarn stationierten schwäbischen Soldaten des Offiziers Jedele (Harald Dietl, „In Frankfurt sind die Nächte heiß“) laben sich derweil am vergorenen Traubensaft jenes Weinguts. Damit ihr Glück perfekt wird, will Jedele seinen Männern zudem käufliche Frauen zur Verfügung stellen. Graf von Seibersdorf (Gunther Philipp, „Das Go-Go-Girl vom Blow-Up oder In Schwabing sind die Nächte lang“) ist dagegen, lässt sich aber mit ein paar Weinfässern umstimmen. Als auch dessen Libido erwacht, schmeißt er sich an Suzanne heran und ist neben ihrem Körper auch an ihrem Reichtum interessiert. Dies beruht jedoch nicht auf Gegenseitigkeit…

Da steht sie also wieder einmal auf der Bühne sind singt ein neues Lied für ihr Publikum, die werte Wirtin. Anschließend zieht sie sich um, was den Vorspann einleitet, der mit Blicken durchs Schlüsselloch kokettiert – das ist verspielt und nett gemacht. Anschließend geht’s aber in die Vollen mit Adel und Soldaten, mit Ehe- und Beischlafersuchen, die stets in Kombination mit Hintergedanken und materiellen oder Standesinteressen daherkommen, was nur folgerichtig ist, denn Frauen gelten hier ebenso als Besitz wie ein Stück Land oder ein Fass kostbaren Weins, und sollen nach Möglichkeit auch stundenweise mietbar sein. Diese patriarchalen Denkmuster zieht der Film leidlich durch die Wiener Melange, ohne dabei wirklich etwas von Satire zu verstehen, und wirkt dabei zumindest auf mich so unübersichtlich wie gewohnt, weshalb ich gar nicht erst mitzukommen versuchte und die Handlung nachlas. Immer etwas befremdlich, dieses Gefühl, für einen Fummelfilm zu doof zu sein… Immerhin stellt er ihr aber mindestens zwei starke weibliche Hauptrollen entgegen, die beide von Teri Tordai gespielt werden: Suzanne und Ilona.

Ilona lebt mit ihrem Onkel zusammen, einem Deutsche hassenden, cholerischen, spießigen Tyrann, der aber zu folkloristischer Musik nackt die Puppen tanzen lässt. Sie lässt sich nur zum Schein auf die Heiratspläne ein und sucht das Weite. Die Folge sind lange Zeit ausschließlich unerträgliche Albereien bereits damals weitestgehend überholten Humors, über die vermutlich nur lachen konnte, wer die K.u.k.-Zeit selbst noch miterlebt hatte. Antel schien jedoch derart überzeugt von seiner Komik gewesen zu sein, dass er sie nicht einmal durch die üblichen Nackedeis aufzuwerten versuchte. Irgendwann erinnerte er sich wieder ihrer und ließ sie durchs Bild hüpfen, alles andere bleibt aber verzichtbares Bauerntheater inklusive dem obligatorischen Stotterer im Figurenensemble. Nett: Der Running Gag um einen ungarischen Beamten, der ständig absurde Gebühren verlangt.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
Benutzeravatar
buxtebrawler
Forum Admin
Beiträge: 41695
Registriert: Mo 14. Dez 2009, 23:13
Wohnort: Wo der Hund mit dem Schwanz bellt.
Kontaktdaten:

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Beitrag von buxtebrawler »

Bild
Einfach machen! She-Punks von 1977 bis heute

„Nicht labern, einfach machen!“

Der schweizerische Dokumentarfilmer Reto Caduff („Krokus – As Long as We Live“), der sich mit Vorliebe musikalischen Themen widmet, übernahm dieses Filmprojekt von Drehbuchautorin Christine Franz („Bunch of Kunst“), die ursprünglich auch Regie führte, aufgrund künstlerischer Differenzen aber ausschied. Was genau vorgefallen ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Das Ergebnis scheinen indes gleich zwei Filme zu sein, die sich weiblich besetzten frühen Punkbands widmen: Franz‘ „Punk Girls. Die weibliche Geschichte des britischen Punk“, den ich noch nicht gesehen habe, und eben Caduffs „Einfach machen! She-Punks von 1977 bis heute“, der am Tag der Arbeit 2025 seinen Kinostart hatte.

Im Mittelpunkt des Films stehen drei Bands bzw. Szenen: ÖSTRO 430 aus ehemals Düsseldorf, seit der Reunion aus Hamburg, MANIA D bzw. die aus ihnen mithervorgegangenen MALARIA! aus West-Berlin und der Züricher Klüngel um Protagonistinnen der Kapellen KLEENEX, LILIPUT und TNT („Züri brännt“) sowie, aktuell: ONETWOTHREE, die sich aus Mitgliedern der genannten Bands zusammensetzt. Darüber hinaus kommen unter anderem die Betreiberin des legendären Düsseldorfer Szenetreffs „Ratinger Hof“, Carmen Knoebel, sowie „Monogam Records“-Labelchefin Elisabeth Recker zu Wort. Es dreht sich also vornehmlich um die Zeit Ende der 1970er bis maximal Mitte der 1980er vorm großen Zeitsprung in die Gegenwart.

Cadoff beschränkt sich demnach auf den deutschsprachigen Raum und erhebt auch für diesen keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Man bekommt dennoch viel von dem geboten, was man sich von einem solchen Film erhofft: Eine unterhaltsame, auch in der Postproduktion stilistisch auf punkig-rau getrimmte Collage aus historischen und kultigen Originalaufnahmen musikalischer und audiovisueller Natur inklusive Ausschnitten aus Fernsehauftritten. Diese vermittelt ein Gefühl für die damalige Zeit – nicht nur in Bezug auf das gesellschaftliche Frauenbild –, das Wirken, die vom DIY-Prinzip geprägte, nicht nur in geschlechtlicher Hinsicht emanzipatorische Herangehensweise, den Anspruch und das Selbstverständnis der Künstlerinnen sowie ihre Strahlkraft auf nachziehende Punks und Artverwandte. So begleitet man die Bands jeweils ungefähr bis zur (ersten) Auflösung, ergänzt um nicht minder interessante aktuelle Interviews mit Gudrun Gut und Bettina Köster (MANIA D/MALARIA!), der aktuellen ÖSTRO-430-Besetzung inklusive der Originalmitglieder Martina Weith und Bettina Flörchinger sowie mit Madlaina Peer, Sara Schär und Klaudia Schifferle, die die Drei-Bassistinnen-Band ONETWOTHREE gründeten. Leider verstarb Madlaina Peer noch während der Dreharbeiten. Sowohl von ÖSTRO 430 als auch ONETWOTHREE gibt es zudem aktuelle Einblicke in den Proberaum und auf die Live-Bühne. Auch Gudrun Gut ist der Musik treu geblieben, schraubt an Elektrosounds und organisiert Festivals, stand zudem – wie hier zu sehen ist – mit Bettina Köster im Zuge des „M_Dokumente“-Festivals wieder gemeinsam auf der Bühne.

Nun ist das, was ÖSTRO 430 mit ihrem Verzicht auf eine Gitarre, die kurzerhand durch ein Keyboard ersetzt worden war, und MALARIA! mit ihrem Sound zwischen Wave, Post-Punk und Avantgarde gemacht haben, kein klassischer Punkrock. Dies gilt auch für das, was ONETWOTHREE derzeit machen. Allen gemein ist aber, dass sie durch die Punk-Explosion und das sich damit bald herausbildende DIY-Prinzip erst zu Musik und Szene gefunden haben – und darauf basierend das Selbstbewusstsein entwickelten, innerhalb einer patriarchal geprägten Musiklandschaft ihr ganz eigenes Ding durchzuziehen. Sieht man Gudrun Gut vor ihrem nerdigen Audio-Equipment sitzen, oder hört man ÖSTRO-Martina mit ihrem herrlich rotzig-frechen Mundwerk damals wie heute, oder sieht man ONETWOTHREE-Musikerinnen, die sich zum Teil im Rentenalter befinden, aber vor einem altersmäßig völlig gemischten Club-Publikum spielen und sich backstage ‘ne Pulle Bier aufreißen, weiß man, dass sich daran nichts geändert hat.

All das ist faszinierend anzusehen und erfüllt mich mit Genugtuung, da es sich auch ohne kommerziellen Megaerfolg überwiegend nach Happy End, Selbstverwirklichung und authentischer Leidenschaft anfühlt. Größtes Problem dieses Films dürfte aber sein Titel sein, der nicht viel weniger als einen Ritt durch die gesamte Geschichte weiblicher Punks inklusive aktueller Entwicklungen suggeriert und damit maximal irreführend ist. Je länger ich zusah, desto mehr freute mich aber über die Fokussierung dieses Films, in dem die genannten Bands und Personen eben einfach mal nicht zu kurz kommen, sondern sich im Gegenteil reichlich Zeit für sie genommen wird. Und wenn ich sehe, dass der Film auch mit öffentlichen bundesdeutschen Geldern finanziert wurde, empfinde ich das nicht als Ausverkauf, sondern als einen Teilsieg.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
Benutzeravatar
buxtebrawler
Forum Admin
Beiträge: 41695
Registriert: Mo 14. Dez 2009, 23:13
Wohnort: Wo der Hund mit dem Schwanz bellt.
Kontaktdaten:

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Beitrag von buxtebrawler »

Bild
Deutschlandlied

„Ein Leben ohne Angst!“

Der deutsche Fernsehfilmspezialist Tom Toelle („Das Millionenspiel“, „Der Trinker“) drehte Mitte der 1990er-Jahre den rund 290-minütigen Dreiteiler „Deutschlandlied“ fürs ZDF, ein Wiederaufbau-Drama, das, in der fiktionalen deutschen Kleinstadt Königsbruck (nicht zu verwechseln mit dem sächsischen Königsbrück) spielend, mit der Befreiung durch die Alliierten im Jahre 1945 einsetzt. Die drei Teile wurden im Jahre 1995 erstausgestrahlt.

„Deutschland braucht Möbel!“

Im Mai 1945 ist endlich Schluss mit Weltkrieg und Naziterror: Die US-Armee übernimmt die Kleinstadt Königsbruck, in der Anna Mahlmann (Ulli Philipp, „Monaco Franze – Der ewige Stenz“) auf die Rückkehr ihres Mannes hofft und ihre minderjährige Tochter Betty (Julia Brendler, „Nur über meine Leiche“) erzieht. Der schwarze GI George (David Ramsey, „Der Voodoo-Fluch“) hatte Anna das Leben gerettet, als sie während der letzten Kriegszuckungen zwischen die Fronten geraten war, und freundet sich mit ihr an. Der Sozialist Schuhbeck (Matthias Habich, „Jenseits der Stille“), den Anna während des Kriegs heimlich bei sich aufgenommen und versteckt hatte, wird kurzerhand als neuer Bürgermeister installiert. Der ehemalige Kreisleiter, Nazi Sternke (Mathias Gnädiger, „Der Untergang“), hingegen hält an den NS-Dogmen fest und wird verhaftet. Sternkes Sohn Paul (Fabian Busch, „Geisterstunde – Fahrstuhl ins Jenseits“) hält sich und die Familie derweil – wie so viele – mit Schwarzmarktgeschäften über Wasser. Lisa (Katja Riemann, „Der bewegte Mann“) wartet etwas weniger sehnsüchtig auf die Rückkehr ihres Mannes, denn sie geht eine Affäre mit ihrem Schwager Hanno (Heino Ferch, „Der Unhold“) ein und lässt sich sogar von ihm schwängern. Betty bekommt zunehmend Frühlingsgefühle für GI George, Neubürgermeister Schuhbeck hingegen das eine oder andere Problem und so hilfsbereit und freundlich viele US-Soldaten auch sein mögen – dies trifft nicht auf alle zu, was insbesondere George und Betty zu spüren bekommen…

„Du tust gerade so, als ob die Neger Juden wären!“

Diese und weitere sich überschneidende Geschichten aus dem frischen Nachkriegs-Königsbruck erzählt Toelle in seinem Dreiteiler, den er mit der Einführung der wohl sympathischsten Figur des Ensembles eröffnet: Anna gerät mit ihrem Fahrrad gegen Kriegsende in eine Brückensprengung, was sie nur knapp überlebt, dies aber lakonisch kommentiert. Anna ist, sofern es hier so etwas gibt, der Mittelpunkt der Handlung und klasse von Ulli Philipp gespielt, die ihre Rolle dezent komödiantisch anlegt. Während die US-Amerikaner anrücken, wird in der feinen führertreuen Familie des deutschen Soldaten, der gerade die Brücke in die Luft gejagt hat, Klavier gespielt und sich gefürchtet. Auf Kampfszenen und Zerstörung hin bilden sich mehrere parallel verlaufende Handlungsstränge heraus, wodurch „Deutschlandlied“ zunächst ziemlich unfokussiert und, nach eingetretenem Gewöhnungseffekt, eher soapig denn authentisch-dramatisch wirkt.

„Wenn uns nicht bleibt, so bleibt uns die Ehre!“

„Deutschlandlied“ dekliniert die typischen Themen jener Etappe anhand von Einzelschicksalen durch: Frauen in Verantwortung, weil die Männer gefangen, tot oder auf einem elendig langen Rückweg sind; eine sich schnell mit den Besatzern anfreundende Bevölkerung; reger Tauschhandel und florierender Schwarzmarkt; wirtschaftliche Aufbruchsstimmung besonders Geschäftstüchtiger; stockende bzw. ausgebliebene Entnazifizierung; schwarze Soldaten und Rassismus; Liebeleien zwischen Amis und Fräuleins… Das ist nicht frei von Klischees und visuell auf etwas zu ansehnlich getrimmt, die Gräuel des Kriegs bekommt man hier kaum vermittelt – es soll schließlich familientauglich bleiben. Durch diese für eine TV-Produktion verständliche, von mir jedoch nicht favorisierte Herangehensweise an einen Stoff wie diesen kriegt mich die Handlung lange Zeit nicht so recht an den Haken; das Dranbleiben lohnt sich aber für die zweite Hälfte, in der die Handlung mit der „heilen kaputten Welt“ bricht, Klischees aufbricht und in ein leider etwas arg melodramatisches Finale mündet.

Als gesellschaftliche Momentaufnahme und Sittenbild der porträtierten Zeit dürfte „Deutschlandlied“ meiner Kritik zum Trotz dennoch mit Abstrichen funktionieren, wenn auch unter anderem deshalb, weil Toelle und sein Autorenteam die großen politischen Themen konsequent aussparen (damit aber auch nicht Gefahr laufen, sich an ihnen zu verheben). Kleinstadtgeschichten, kleinstädtisch erzählt eben.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
Benutzeravatar
buxtebrawler
Forum Admin
Beiträge: 41695
Registriert: Mo 14. Dez 2009, 23:13
Wohnort: Wo der Hund mit dem Schwanz bellt.
Kontaktdaten:

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Beitrag von buxtebrawler »

Bild
Midsommar

„Das ist Teil unserer Zeremonie.“

Der nach „Hereditary – Das Vermächtnis“ zweite Langfilmstreich des New Yorker Regisseurs Ari Aster ist der in Schweden spielende Folk-Horror/Mystery-Thriller „Midsommar“ aus dem Jahre 2019, der es in der Kinofassung auf rund 150, im Director’s Cut gar auf gut 170 Minuten bringt.

„Das ist was Kulturelles.“

Anthropologie-Student Christian (Jack Reynor, „Sing Street“) möchte eigentlich die Beziehung zu seiner Freundin Dani (Florence Pugh, „Malevolent – Und das Böse existiert“) beenden, bringt dies jedoch nicht übers Herz, da sie gerade mit einem familiären Schicksalsschlag fertig werden muss. Kurzerhand lädt er sie ein, zusammen mit ihm sowie seinen Freunden Pelle (Vilhelm Blomgren, „Gösta“), Josh (William Jackson Harper, „Paterson“) und Mark (Will Poulter, „Wir sind die Millers“) einen Urlaub in Schweden zu verbringen. Pelle ist Schwede und hat angeboten, mit der Gruppe in sein altes Dorf zu reisen, wo anlässlich des Midsommar ein nur alle 90 Jahre stattfindendes, neuntägiges Fest gefeiert wird. Christian kommt dies gelegen, denn er plant, seine daraus resultierenden Erkenntnisse für seine Dissertation zu verwenden. Doch die traditionellen Rituale erweisen sich den US-Amerikanern nicht nur als fremd, sondern auch als gefährlich…

„Ist Inzest ein Problem?“

Dani wird als traumatisiert, problembehaftet und ihrem Freund, der sie loswerden will, unterwürfig charakterisiert. Ab dem Zeitpunkt, an dem sie im schwedischen Dorf ankommt, ändert sich ihr Mindset jedoch langsam, aber beständig. Ähnlich wie der beunruhigende Horrorfilm „Ein Kind zu töten…“ spielt „Midsommar“ beinahe durchgehend bei gleißendem Sonnenschein und ist dabei fest im nur selten bedienten Folk-Horror-Subgenre verwurzelt. Der Culture Clash ist hier noch das Harmloseste: „Midsommar“ erschreckt mit einer überraschend blutigen Selbstmordszene mit anschließender Großaufnahme des zertrümmerten Schädels. Das Bein des danach gesprungenen Alten sieht auch nicht besser aus. Man bekommt visualisierte Traumsequenzen und immer wieder eklige Bilder zu sehen. Ein Behinderter macht auf Leatherface, nackte Haut und Sex läuten das hochdramatische Finale ein. Man stolpert von einem Ritual ins nächste; mal wird’s unfreiwillig komisch, dann wieder hart. Das Ende ist grotesk.

Aster erzählt seinen Film extrem langsam, was prima zur Antiurbanität passt und diese indirekt betont. Die Kamera arbeitet gern mit Vogelperspektiven, das Finale weist eine längere Plansequenz und expressionistisch Schattenspiele auf. Moderne Kommunikationsmittel, die regelmäßig aufploppen, bilden den Kontrast zur detailverliebt gestalteten folkloristischen Welt der schwedischen Dorfgemeinschaft und deren Verständnis von Gemeinschaft und Kultur. Die musikalische Untermalung trägt ihren Teil zur atmosphärischen Großtat, die „Midsommar“ zweifelsohne geworden ist, bei – wobei es insbesondere das Unterschwellige, Leisere ist, das für eine permanente Anspannung sorgt. Zudem ist „Midsommar“ eine Geschichte weiblicher Emanzipation der etwas anderen Art, die insbesondere von Pugh eindringlich geschauspielert ist, und diskutiert der Film darüber hinaus existenzielle Fragen. Wer heutzutage noch in der Lage ist, sich auf eine überlange Produktion einzulassen und ein Gespür für diffuses Unheil zu entwickeln, wird mit einigen durchaus grafischen Spitzen belohnt und bekommt ein besonderes Filmerlebnis geboten. Und ich fühle mich darin bestätigt, sich vor trutschigen Trachtengruppen besser in Acht zu nehmen…

Dafür klinke ich mir 8,5 von 10 psychoaktiven Pilzen ein.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
Benutzeravatar
buxtebrawler
Forum Admin
Beiträge: 41695
Registriert: Mo 14. Dez 2009, 23:13
Wohnort: Wo der Hund mit dem Schwanz bellt.
Kontaktdaten:

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Beitrag von buxtebrawler »

Tatort: Solange du atmest

„Liebe macht dumm.“

Dieser siebte Fall der Bremer Ermittlerinnen Liv Moormann (Jasna Fritzi Bauer) und Linda Selb (Luise Wolfram) wurde im Frühjahr 2024 nach einem Drehbuch Judith Westermanns von Regisseurin Franziska Hoenisch („Club Europa“) inszeniert, die damit innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe debütierte. Die Erstausstrahlung dieser Mischung aus Sozial-/Beziehungsdrama und Psycho-Thriller wurde am 11. Mai 2025 erstausgestrahlt.

„Ich geh‘ nicht mehr zur Polizei!“

Die alleinerziehende Rani (Via Jikeli, „BOOM – eine Band, 1000 Probleme“) und ihre kleine Tochter Mia (Pola Friedrichs, „Frisch“) erhalten viel Hilfe von ihrer Mitbewohnerin Paula (Sarina Radomski, „Vorübergehend glücklich“), doch Rani lebt in ständiger Angst, da Marek Kolschak (Jonathan Berlin), ihr Ex, ihr nachstellt. Zugleich arbeitet Marek in seinem Beruf als Journalist an einer brisanten Story über ein tödliches Drogenmilieu um den Bremer „Dark“-Club – und wird eines Morgens tot aus der Weser gefischt. Damit hätten gleich zwei Parteien ein Motiv, ihn um die Ecke zu bringen. Die Kripo-Beamtinnen Moorman und Selb ermitteln in beide Richtungen, wobei zwischen den Ermittlerinnen berufliche und persönliche Konflikte immer offener zutage treten. Dass Rani plötzlich wie vom Erdboden verschluckt ist, macht die Polizeiarbeit nicht einfacher…

Dieser „Tatort“ thematisiert zunächst die Wut Selbs darüber, dass eine Frau derart abhängig von ihrem Freund ist, dass sie anstelle seiner für Drogendelikte ins Gefängnis geht und der Polizei die Hände gebunden sind. Die Handlung geht in eine ähnlich, aber anders ungesunde Beziehung über – es geht um Stalking und die Frage, warum der Stalker nun tot ist. Und ums Misstrauen von Stalking-Opfern gegenüber der Polizei. Auch wird Kritik am staatlichen Umgang mit alleinerziehenden Müttern laut. Der Drama-Anteil dieser Episode wird zusätzlich verstärkt, indem Moormann und Selb sich gegenseitig anzuzicken beginnen, bis sie kaum noch zu einer konstruktiven, professionellen Zusammenarbeit fähig sind. Und natürlich spielt auch das Verhältnis Moormanns zu ihrer kriminellen, eine Haftstraße absitzenden Schwester erneut eine Rolle.

Leider wirkt der Streit zwischen den Ermittlerinnen eher aufgesetzt und scheint dem Psycho-Thrill, der sich nach einer unvorhersehbaren Wendung erst im letzten Drittel Bahn bricht und das eigentlich Interessante an diesem Krimi ist, wertvolle Zeit zu stehlen. Gut gelungen ist der dynamische Schnitt, der verhindert, dass die vollgepackte und vielleicht ein klein wenig überkonstruierte Geschichte zu unübersichtlich wird. Zudem arbeitet man mit zahlreichen kurzen Point-of-View-Rückblenden, die als visueller Kniff den Lidschlag Ranis simulieren. Der Hansestadt gegenüber etwas ungerecht ist ihre Inszenierung als triste, graue, lieblose Betonwüste, die zum einen das Gefühlsleben der Protagonistinnen und Protagonisten widerspiegelt und zum anderen offenbar als Kontrast zur (vermeintlichen) Zufluchtsortidylle des Schrebergärtchens benötigt wird, in dem der Showdown stattfindet. Nebenbei erfährt man wie gewohnt das eine oder andere Detail polizeilicher Ermittlungsarbeit und erhält einen interessanten Einblick in die Auswertung (und vor allem die Qualität) von Geldautomatenvideos. Helen Schneider hat wieder einen kleinen, leicht humorigen Auftritt als Gerichtsmedizinerin Edda Bingley.

Unterm Strich wäre mehr drin gewesen, hätte sich das Drehbuch stärker aufs Wesentliche fokussiert. Nicht zuletzt, da ich die aktuellen Bremer „Tatorte“ mag, lande ich bei 6,5 von 10 zerschnittenen Fotos.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
Benutzeravatar
buxtebrawler
Forum Admin
Beiträge: 41695
Registriert: Mo 14. Dez 2009, 23:13
Wohnort: Wo der Hund mit dem Schwanz bellt.
Kontaktdaten:

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Beitrag von buxtebrawler »

Bild
Die verrückten 60er – Das spektakulärste Jahrzehnt der Deutschen

Auf WDR-Redakteur Heiko Schäfers jeweils rund eineinhalbstündige TV-Dokumentarfilme „Die verrückten 80er“ und „Die verrückten 70er“ waren „Die verrückten 90er“ gefolgt. Im Jahre 2021 reichte er „Die verrückten 60er“ nach. 2020 war ihm seine Kollegin Melanie Didier mit „Jung in den 60ern – Rebellen, Beat und Minirock“ bereits zuvorgekommen, wenn auch mit etwas anderer, jugendspezifischerer Ausrichtung. Und im selben Jahr hatte der WDR die vierteilige Dokureihe „Unser Land in den 60ern“ ausgestrahlt, die einen stärkeren lokalen, aufs Bundesland NRW fokussierten Bezug herstellt.

Wie gewohnt, greift der Film nach Infotainment-Art unterschiedlichste Themen aus verschiedenen Bereichen auf, denen gemein ist, dass sie das Jahrzehnt – zumindest nach Meinung des Redakteurs bzw. seines Teams – in irgendeiner Weise geprägt haben, aber auch, dass sehr veranschaulichendes, unterhaltsames oder kurioses Fernsehmaterial dazu vorliegt, das Off-Erzählerin Franziska Knost pointiert kommentiert und von diversen Prominenten zum Anlass genommen wird, persönliche Bezüge herzustellen oder Anekdoten kundzutun. Das Besondere dabei ist, dass die Promis diesmal jeweils im Doppelpack auftreten, wobei je einer den Part der Eltern- und einer jenen der jüngeren Generation übernimmt. Es handelt sich dabei um BAP-Musiker Wolfgang Niedecken mit seiner Tochter Isis-Maria, Schauspielerin Kathrin Ackermann mit ihrer Enkelin Charlotte Furtwängler, Moderatorin Anna Planken mit ihrer Mutter Maria, Schauspielerin Ann-Kathrin Kramer mit ihrer Mutter Karin Stuhl sowie Sänger und Humorist Dave Davis mit seinem Schwiegervater Eckhard.

Erneut werden sämtliche angerissenen Themen in chronologischer Reihenfolge abgehandelt. Als da wären:

• Twist-Musik
• Papageienkrankheit
• Ein Deutscher wird schnellster Läufer der Welt
• Kinderspiele
• Errichtung des Antifaschistischen Schutzwalls (aka Berliner Mauer)
• Gleichberechtigung und Frauenarbeit
• Erste weibliche Ministerin
• Tipp-Kick-Spiel
• Hamburger Sturmflut
• Bademode im TV, sexistisch kommentiert
• Chile versus Italien bei der Fußball-WM
• Kuba-Krise
• Amphicars
• Plastikverpackungen für Milchprodukte
• John F. Kennedys Berlinbesuch
• Urlaub, vorzugsweise in Italien
• Jugendzeltlager
• Rücktritt Adenauers, Erhard wird Kanzler
• Gründung der Fußball-Bundesliga
• Ermordung Kennedys
• Private Telefonanschlüsse
• Eiskunstlauf
• Zebrastreifen
• Wöchentliche Lohntüten
• SB-Läden lösen „Tante-Emma-Läden“ ab
• Feinstrumpfhosen
• Ziehung der Lottozahlen im TV
• Musiksendung „Beat-Club“
• Kinderlederhosen
• Musikgruppe „The Beatles“
• England wird Fußball-Weltmeister durch Wembley-Tor
• Beginnende gesellschaftliche Proteste, u.a. gegen den US-Angriffskrieg auf Vietnam
• Kiesinger wird Kanzler
• Straßenspiele
• Hippies
• Proteste und Revolte
• Farbfernsehen
• Anti-Baby-Pille (bzw. deren Bann durch den damaligen Papst)
• Attentat auf Dutschke nach Hetze durch die Springerpresse
• Aufklärungsfilme und Sexualkundeunterricht
• Euroschecks
• Mondlandung
• Woodstock-Freiluft-Musikfestival
• Willy Brandt wird Kanzler

Dass die Promis generationsübergreifend reflektieren, kommentieren und sich zum Präsentierten auch schon mal kurz austauschen, erweist sich als ausgesprochen nette Idee und bringt eine angenehme zusätzliche Dynamik in den Film. Dieser ist, wie auch seine Vorgänger innerhalb der „Die verrückten…“-Reihe, natürlich keineswegs um Tiefgang bemüht und zudem sehr seiner westdeutschen Fernsehperspektive verhaftet, punktet aber mit zwei Aspekten: zum einen dem der Unterhaltsamkeit, die sich aus dem recht schnellen Schnitt und den Kommentierungen sowohl aus dem Off als auch nicht unsympathisch erscheinender Prominenter ebenso ergibt wie aus den authentischen Fernsehbildern, die aus der Dokumentation eine Art kuratierter Zeitreise machen. Zum anderen gelingt der Spagat, dennoch verdammt ernste, politische Themen und Ereignisse anzusprechen, ohne diese zu beschönigen, etwa, um die gute Stimmung beim nostalgischen Rückblick nicht zu gefährden. Dies betrifft die Kuba-Krise, aber auch die Ereignisse innerhalb Deutschlands, die letztendlich zu einer starken Radikalisierung geführt hatten. Wer beim Anblick der mit Holzlatten um sich prügelnden Jubelperser des schwachsinnigen Schahs mitten in Deutschland keine Wut empfindet, muss innerlich tot sein. Gleiches gilt fürs Attentat auf Dutschke. Für ein wenig Genugtuung sorgen die Bilder unschädlich gemachter „Bild“-Auslieferungsfahrzeuge. So ruft dieser Dokumentarfilm auch denjenigen, die zu reinen Unterhaltungszwecken einschalten, in Erinnerung, wie krank diese 1960er neben Twist, Tipp-Kick und „Beat-Club“ eben auch waren – ganz zu schweigen von den internationalen Verwerfungen, Kriegen und Krisen, die hier nicht verschwiegen werden. So überflüssig die Hippies gewesen sein mögen, so nötig war die ‘68er-Revolte.

Was dem Film an bedeutenden Themen womöglich noch fehlt, kann ich kaum beurteilen, denn dafür ist mir das Jahrzehnt zu fern. Eines fällt mir aber auf Anhieb ein: das Kino.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
Benutzeravatar
buxtebrawler
Forum Admin
Beiträge: 41695
Registriert: Mo 14. Dez 2009, 23:13
Wohnort: Wo der Hund mit dem Schwanz bellt.
Kontaktdaten:

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Beitrag von buxtebrawler »

Bild
Du lebst noch 105 Minuten

„Henry, warum bist du jetzt nicht hier...?“

Das zum Film noir zu zählende Kriminaldrama „Du lebst noch 105 Minuten“ verfilmte der in Kiew geborene Regisseur Anatole Litvak („Die Schlangengrube“) auf Grundlage eines beliebten Radiohörspiels Lucille Fletchers. Der Film gelangte im Jahre 1948 in die Kinos.

„Ist der Apparat gestört?“

Die vermögende, aber ans Bett gefesselte New Yorkerin Leona Stevenson (Barbara Stanwyck, „Frau ohne Gewissen“) vermisst eines Abends ihren Gatten Henry (Burt Lancaster, „Zelle R 17“), der eigentlich vor dreieinhalb Stunden nach Hause hätte kommen wollen. Sie versucht, ihn anzurufen, doch die Vermittlungsstelle verursacht eine Fehlschaltung, durch die sie unfreiwillige Ohrenzeugin eines Gesprächs zweier Männer wird, die ein Mordkomplott besprechen. Um 23:15 Uhr – also in 105 Minuten – soll der Mordanschlag stattfinden. Umgehend informiert sie die Polizei, die jedoch keinerlei Anstalten macht, tätig zu werden. Immerhin erfährt sie von Henrys Sekretärin, dass ihr Mann sich offenbar mit einer anderen Frau verabredet hat. Während sie in Erinnerungen an ihre Beziehung zu Henry schwelgt, wird ihr irgendwann unweigerlich klar: Das Mordopfer wird sie selbst sein!

„Dieses schreckliche Telefon!“

Die Grundidee dieses Stoffs ist überaus reizvoll, wenn auch etwas sehr konstruiert. Im Vorspann wirft das Telefon bereits einen langen, unheilschwangeren Schatten. Ein Scrolltext verweist reißerisch auf die Ambivalenz telefonisch übermittelter Nachrichten, bevor wir Leona rauchend im Bett liegend und ins Vermittlungschaos geratend sehen. Während sie nach dem schicksalhaften Telefonat mittels weiterer Telefongespräche erfolglos Hilfe ersucht, tastet die Kamera ihre Wohnung ab. Sie telefoniert mit ihrem Vater, dessen Wohnung ebenfalls von der Kamera abgefahren, doch nicht einmal er nimmt die Bedrohung ernst. Die erste Rückblende, die den Kammerspielcharakter des Films aufbricht, findet während ihres Telefonats mit der Sekretärin ihres Mannes statt. Ein Mr. Evans (Harold Vermilyea, „Spiel mit dem Tode“) ruft für Henry an, weitere Telefonate sind die Folge und die Angelegenheit wird immer verworrener.

„Wenn man etwas will, dann sollte man es sich nehmen!“

Die nächste, nun recht ausgedehnte Rückblende versorgt die Zuschauerschaft mit reichlich Hintergrundinformationen: Leona erinnert sich an ihre Freundin Sally (Ann Richards, „Liebesbriefe“) und wie sie Henry auf einem Ball an einem Frauencollege kennenlernte. Sie grub ihn sehr offensiv an – und spannte ihn damit Sally aus. Doch Henry ist besitzlos und Leonas Vater gegen eine Beziehung seiner Tochter zu einem armen Schlucker. Dennoch heiraten die beiden. Zurück in der Gegenwart ruft Sally an, bevor eine weitere Rückblende zeigt, was diese mit ihrem Mann Fred (Leif Erickson, „Abbott und Costello unter Kannibalen“) erlebt hat. Nun jedenfalls hat Sally ein verdächtiges Telefonat ihres Mannes mitgehört und ihn daraufhin beobachtet, was sie nach Staten Island verschlug. In der nächsten Rückblende berichtet sie von ihrem Treffen mit Henry. Dann klingelt es an Leonas Tür, aber bettlägerig, wie sie ist, kann sie nicht öffnen. Sally ruft wieder an, Leona misstraut ihr, sie erzählt Ungeheuerliches. Nun erhält Leona ein telefonisches Telegramm Henrys. Der Film bleibt seinem Stil treu und man weiß stets beinahe nur so viel wie Leona. Weiteren Aufschluss liefert eine Rückblende in ein Gespräch Henrys mit Leonas Arzt, die in eine weitere Rückblende übergeht: Ehekrise. Unterredung ihres Vaters mit Henry. Aufgrund der sozialen Ungleichheit eine überaus konfliktreiche Ehe. Und möglicherweise ist Leona auch gar nicht herzkrank, sondern eine hypochondrische Simulantin. Mr. Evans unternimmt Telefonterror bei Leona und wird irgendwann noir-gerecht als dunkler Schatten gezeigt. Auch er erhält seine Rückblende und als Henry jemanden zu illegalen Aktivitäten zu überreden versucht, schüttet es – ganz so, wie es die Filmgattung verlangt – aus Kübeln.

Hat man sich erst einmal an die ungewöhnliche, etwas komplizierte Erzählweise des Films gewöhnt, legt man ein Psychogramm eines ungleichen Paars frei, das eine toxische Ehe führt. Und in der jeder für sich seine Methoden findet, mit der Situation umzugehen – oder sie eben zu verändern, es zumindest zu versuchen. Leona ist die etwas andere Femme fatale, egozentrisch und larmoyant, dennoch zu echten Gefühlen fähig – nur nicht in der Lage, aufrecht mit ihnen umzugehen. Leona will über ihren Mann wie über ihren materiellen Besitz verfügen und begibt sich – entgegen ihrer eigentlichen Position – in eine Opferrolle, die sie mit einer solchen Überzeugung spielt, dass sie sie selbst glaubt. Henry wiederum hat sich in eine Ehe verflechten lassen, von der seine Existenz abhängt – weshalb er sie auch nicht mir nichts, dir nichts beenden kann, zumindest nicht auf herkömmlichem Wege. Was beide Parteien darüber vergessen, sind die wahrhaftigen Gefühle füreinander, die sie einst zusammenführten. Dass der Film beide sich gegen Ende doch ihrer erinnern lässt, verleiht dem Film eine besonders tragische Note.

„Du lebst noch 105 Minuten“ versucht angesichts seiner Voice-over-Rückblenden gar nicht erst seine Hörspiel-Herkunft zu verbergen, setzt seine Noir-Elemente aber auch auf der visuellen Ebene effektiv ein. Der Film inszeniert erst das Telefon, dann die Ehe als Hort des Schreckens und ist überaus dialoglastig. Daran muss man sich erst einmal gewöhnen, die ständigen Telefonate können einem auch auf die Nerven gehen. Wer genügend Geduld und Empathie mitbringt, wird mit einem sehenswerten Film noir belohnt, der Mitratekrimi, Thriller und Beziehungsdrama in sich vereint – und Burt Lancaster in einer seiner ersten größeren Rollen zeigt.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
Benutzeravatar
buxtebrawler
Forum Admin
Beiträge: 41695
Registriert: Mo 14. Dez 2009, 23:13
Wohnort: Wo der Hund mit dem Schwanz bellt.
Kontaktdaten:

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Beitrag von buxtebrawler »

Bild
Jung in den 70ern – Schlaghose, Freiheitsdrang & Discofieber

Nach den ‘90ern und den ‘80ern waren innerhalb der von Melanie Didier für den WDR umgesetzten „Jung in den…“-Reihe folgerichtig die ‘70er dran. Der knapp 90-minütige Dokumentarfilm wurde im Jahre 2019 fertiggestellt und am Neujahrstag 2020 erstausgestrahlt. Bereits im Jahre 2016 hatte sich WDR-Redakteur Heiko Schäfer mit dem konzeptionell ähnlichen, jedoch nicht speziell auf die Jugend zugeschnittenen „Die verrückten 70er – Das wilde Jahrzehnt der Deutschen“ jener Dekade gewidmet.

Wie gewohnt führt eine Off-Erzählerin durch den Film, der jede Menge historischer Fernsehausschnitte aneinanderreiht und sich auf dieser Grundlage an einer Art gesellschaftlicher und populärkultureller bis hin zu politischer Collage des Jahrzehnts versucht – hier eben mit Schwerpunkt darauf, was nach Ansicht Didiers die damalige Jugend tangierte. Kommentiert werden die Filmchen von verschiedenen Prominenten, bei denen es sich diesmal um die Moderatorin und ehemalige „Emma“-Chefredakteurin Lisa Ortgies, Moderator Reinhold Beckmann, die Musikerin/Tänzerin Penny McLean, die Musiker Peter und Rolly Brings sowie den Trash-TVer Rolf Schneider handelt.

Zunächst geht es um die Bee Gees und das Discofieber, im Besonderen um Ritchi und Volker Kahl, die „Disco-Kings aus Herne“, deren Vorbild John Travolta (in seiner „Saturday Night Fever“-Rolle) war und die seinerzeit offenbar für eine Fernsehreportage entdeckt worden waren, in deren Ausschnitten sie mit ihren teuren Klamotten angeben. Wir sehen schlimme Bilder eines damaligen Tanzwettbewerbs, der Miniplis der Kahl-Brüder und der Dauerwelle ihrer Freundin. Tatsächlich gelang es dem WDR, die beiden noch einmal vor die Kamera zu zerren, um sie in Erinnerungen an die alte Zeit schwelgen zu lassen. Die Chance, die Ende der 1970er immer lauter werdenden kritischen Töne dem Disco-Trend gegenüber und die daraus resultierende Anti-Disco-Bewegung zu thematisieren, wird leider ebenso verpasst wie die Gelegenheit, die Hintergründe dieser Musik, die im Sound schwarzer Künstlerinnen und Künstler zu finden sind, zu erörtern. Immerhin kommt Giorgio Moroders Munich Sound aufs Tapet und in diesem Zuge auch Silver Convention, die Gruppe der mitkommentierenden Penny McLean, die daraufhin über die damalige Zeit plaudert und dabei sympathisch bodenständig wirkt.

Vom legendären New Yorker Club „Studio 54“ geht’s für einen kurzen Abstecher zu David Bowie, bevor man den Kölner Kiez beschreitet und dessen Türstehergröße „Der lange Tünn“ vorstellt, zu dem es ebenfalls ein Update mit aktuellen Aufnahmen gibt. Brings Junior findet kritische Worte. Von Köln geht’s nach Berlin inklusive Drogenelend und Christiane F. – der gezeigte TV-Bericht stammt jedoch aus dem Jahre 1981, der Film nämlich auch. Ups. Die Promi-Kommentare zum Thema Drogen widersprechen sich zum Teil und Rolly Brings gesteht erstmals vor laufender Kamera eigene Erfahrungen mit hartem Zeug. Von Christiane F. ist’s nicht weit zu Juliane Werding und Conny Kramer, den sie in ihrem Lied, das ihr zum Durchbruch verhalf, betrauerte – womit wir zurück in den 197ern wären. Und von Werding wiederum geht’s schnurstracks zur ZDF-Hitparade mit Marianne Rosenberg und Jürgen Drews. Auch die „Plattenküche“, eine weitere Musiksendung, findet Beachtung. Ortgies findet die richtigen Worte zum Schlagermief. Dass sowohl Werdings Conny Kramer als auch Drews‘ Kornfeldbett mit neuem, deutschem Text versehene Coverversionen waren, bleibt unerwähnt.

Nächster Halt: Landkommune für Hippieaussteiger, natürlich inklusive weltfremdem Gelaber, aber auch einem Kurzporträt der Selbstversorgerfamilie Baumann – inklusive zeitgenössischem Update! Das ist tatsächlich interessant, haben es Menschen da doch geschafft, eine Art alternativem Lebensstil über Jahrzehnte hinweg treu zu bleiben. Das „British Rock Meeting“-Freiluft-Festival 1972 wird anschließend als „deutsches Woodstock“ kategorisiert; weiter geht’s mit der bunten Mode der 1970er, Schlaghosen (schlimm), Hot Pants (yeah) und Plateauschuhen (noch schlimmer als Schlaghosen). Ach ja, und mit den BHs, die viele Frauen plötzlich nicht mehr tragen mochten, was als Übergang zum Thema aufkommender Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau fungiert. In diesem Zuge kommen die feministische Postille „Emma“ sowie das Frauenmuseum Marianne Pitzens zur Sprache, inklusive Update – Pitzen trägt noch immer die gleiche Prinzessin-Leia-Frisur wie damals und kommt auf eine nicht unsympathische Weise kurios und ein bisschen verschroben rüber.

Der Christopher-Street-Day und die Schwulenbewegung finden sich ebenfalls in dieser Doku wieder, inklusive ebenso entlarvender wie erschreckender schwulenfeindlicher Aussagen von Passanten auf der Straße in alten TV-Ausschnitten. Rosa von Praunheims Skandalfilm darf da auch nicht fehlen. Interessant ist, dass sich eine der Keimzellen der Bewegung in Münster befand. Ebenfalls als Bewegung verstand sich die RAF, und vermutlich auch jene Terroristen, die die Olympiade 1972 in München überschatteten. Dennoch überlässt dieser Film ihnen nicht das Feld, sondern porträtiert die Hochspringerin und Olympiasiegerin Ulrike Meyfarth, die sich ebenfalls bereiterklärte, noch einmal vor der Kamera zu treten. Zum Schluss wird Ilja Richters Musiksendung „Disco“ zumindest noch kurz erwähnt und in diesem Kontext auch die schwedische Popgruppe Abba abgehakt. Didiers Film schließt mit das Jahrzehnt feiernden Resümees.

Sehr sympathisch, intelligent und souverän wirkt den ganzen Film über Lisa Ortgies, die zudem locker 20 Jahre jünger aussieht, als sie ist. Beckmann kokettiert mit seiner Hippiesozialisation und wirkt sehr erzählonkelig. Brings & Co. sind Dauergäste in dieserlei Dokus und auch hier souverän, und Rolf Schneider sorgt für betont tuntigen Humor. Glam- und Punkrock fehlen unverständlicherweise leider komplett, das Kino des Jahrzehnts wird leider ebenfalls ausgespart und klassische Politik findet nur am Rande statt. Die unter anderem aus ihr resultierende Zäsur, die noch während jener Dekade viele ‘70er-Träume begrub, hat man entweder nicht als eine solche empfunden oder als zu wenig unterhaltsam oder zu anspruchsvoll für diese alles in allem wohlwollend und aus westdeutscher Perspektive zurückblickende Infotainment-Geschichtsdoppelstunde empfunden.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
Benutzeravatar
buxtebrawler
Forum Admin
Beiträge: 41695
Registriert: Mo 14. Dez 2009, 23:13
Wohnort: Wo der Hund mit dem Schwanz bellt.
Kontaktdaten:

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Beitrag von buxtebrawler »

Bild
Die Sünderin

„Es ist Wahrheit geworden...“

Das deutsch produzierte Liebesmelodram „Die Sünderin“ des Österreichs Willi Forst („Wiener Blut“) aus dem Jahre 1951 sorgte seinerzeit für einen Skandal, der heute kaum noch nachvollziehbar ist. Es brach seinerzeit mit mehreren Tabus: Prostitution, Sterbehilfe, Suizid und Nacktheit. In der retrospektiven Berichterstattung späterer Jahre wurde letzteres als ursächlich kolportiert, was jedoch nicht den Tatsachen entspricht; schwerer wogen die übrigen Punkte. Achtung: Um darauf eingehen zu können, enthält diese Besprechung vollumfängliche Spoiler!

„Ich ahnte nicht, dass ich mit dem Kleid das Schönste wegwarf – meine Kindheit.“

Die ehemalige Prostituierte Marina (Hildegard Knef, „Die Mörder sind unter uns“) lernt nach dem Zweiten Weltkrieg den farbenblinden Maler Alexander (Gustav Fröhlich, „Metropolis“) kennen und verliebt sich in ihn. Jedoch leidet Alexander unter einem Hirntumor und hat nicht mehr lange zu leben. Marina setzt alles daran, ihm zu helfen und prostituiert sich sogar wieder, um an genügend Geld für eine Operation zu kommen, in die sie alle Hoffnungen setzt. Zunächst scheint man dem Schicksal tatsächlich ein Schnippchen geschlagen zu haben. Gemeinsam zieht man nach Wien, wo Alexander mit seinen Kunstwerken Erfolg hat. Doch das gemeinsame Glück ist nur von kurzer Dauer…

„Du wolltest den Tod!“

Forst eröffnet seinen Film unmittelbar mit einem Aktporträt Marinas, das überm Kamin hängend von der Kamera eingefangen wird. Marina befindet sich im Zwiegespräch mit sich selbst, adressiert an einen Toten. Daraufhin setzt eine Rückblende ein, die die eigentliche Handlung des Films bestimmt: Jähzornig zertrümmert Alexander seine Arbeiten. Marinas Stimme erklingt von nun an beständig aus dem Off, weiterhin adressiert an Alexander. Er versucht erfolglos, eines seiner Bilder in Neapel zu verkaufen. Ein Kunsthändler sagt jedoch einen Kauf zu, wenn Marina sich für ihn prostituiert – woraufhin sie schwach wird. Prostitution aus Liebe – ein Tabubruch.

„Ich wollte an das Wunder glauben!“

Alexander wird weiter anhand ausgeprägter Gefühlschwankungen charakterisiert, ist aber zunächst einmal sehr glücklich, bevor eine Rückblende in der Rückblende einsetzt, die ihr Kennenlernen in einer Münchner Bar zeigt. In diese stolperte er sturzbetrunken hinein, womit er offenbar Marinas Beschützerinneninstinkt weckte, denn sie nahm ihn kurzerhand mit nach Hause. Der Film bewegt sich nun noch weiter in der Zeit zurück, in Marinas Kindheit innerhalb einer Patchwork-Familie: Krieg, Umzug, Heranwachsen, Verhaftung des Vaters durch die Gestapo, Entjungferung durch ihren Stiefbruder. Kurioserweise wird Marina auch in diesen Sequenzen von Knef gespielt. Eher angedeutet denn ausgeschlachtet wird, dass Marina als Hure arbeitete – wie schon ihre Mutter. Die Narration arbeitet nun mit diversen Zeitsprüngen, zeigt u.a. die weitere Kennenlernphase zwischen Marina und Alexander, der tatsächlich ihre erste wahre Liebe sein soll.

In Marinas Jugend eskalierte die Situation, als ihr Vater vom Sex mit dem Stiefbruder erfuhr. Nach ihrem Rauswurf begab sie sich in die Partyszene und ging nach München. Erst jetzt, kurz nach der Filmhälfte, erfährt der Zuschauer von Alexanders Erkrankung. Nach all dem Elend wirken einige Szenen glücklicher Zweisamkeit geradezu erholsam, was jedoch nicht lange anhält, denn nun thematisiert der Film verstärkt Alexanders gesundheitliche Probleme. Nach der geglückt scheinenden OP (die ein Gönner wohlgemerkt gratis durchführte, da Marinas Prostitutionsversuche nicht den gewünschten Effekt hatten) und dem Umzug nach Wien malte er ausschließlich Akte Marinas und wurde supererfolgreich – und beide als Paar sehr glücklich. Bald jedoch erblindet er und begeht Selbstmord, zu dem ihm Marina verhalf, indem sie ihm nach gemeinsamer Absprache ein Glas mit einer tödlichen Substanz reichte. Damit endet die Rückblende. Zurück in der Gegenwart sehen wir den sterbenden Alexander, der Marina die gesamte Zeit über zugehört hatte; ein origineller Kniff Forsts. Dann nimmt auch sie sich das Leben – und der Skandal ist perfekt.

Der Moment, in dem Marina Alexander unbekleidet im Garten Modell liegt, ist frei von jeglicher Anrüchigkeit, zwar hübsch, aber nicht einmal sonderlich prominent in Szene gesetzt und keinerlei Aufregung wert. „Die Sünderin“ ist in erster Linie ein düsterromantisches Melodram, das möglicherweise die Angst vor dem Tod nehmen will und eine Frau aus schwierigen Verhältnissen, die sich zudem prostituiert hat, zu einer Sympathieträgerin erklärt, die sehr wohl zu echten, tiefen Gefühlen fähig ist und ihren Mann glücklich sehen will. Knef spielt ihre Rolle mit viel Verve und Emotion, wogegen Gustav Fröhlich dann doch ziemlich verblasst. Vom kitschigen melodramatischen Schwulst hält „Die Sünderin“ für mein Empfinden trotz genretypisch ganz schön dicken Auftragens genügend Abstand und lockert die Handlung auch immer mal wieder ein wenig auf, beispielsweise durch Seitenhiebe auf die Kunstszene. Derart stark auf eine verschachtelte Erzählweise mit weitaus mehr Voice-over denn Dialog zu setzen, mutet wie ein gewagtes Experiment des Regisseurs an, das leider nicht ganz aufgeht – es ist schlicht etwas zu viel des Guten.

Dennoch halten Timing und Dramaturgie gut bei der Stange. Die Kameraführung lässt sich zur einen oder anderen schrägen Perspektive hinreißen; als eine solche haben größere Teile der vermeintlichen bundesdeutschen Nachkriegsmoral offenbar auch den durch den Film transportierten Blickwinkel auf die eingangs erwähnten Tabus empfunden und wieder einmal Zeter und Mordio geschrien. Das ist hochgradig lächerlich, entlarvend, mit dem Versuch, auf ausdrücklichen Wunsch erfolgte Sterbehilfe mit Euthanasie in Verbindung zu bringen, aber auch unverfroren heuchlerisch. Unfassbar.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
Benutzeravatar
buxtebrawler
Forum Admin
Beiträge: 41695
Registriert: Mo 14. Dez 2009, 23:13
Wohnort: Wo der Hund mit dem Schwanz bellt.
Kontaktdaten:

Re: bux t. brawler - Sein Filmtagebuch war der Colt

Beitrag von buxtebrawler »

Bild
Sperling und das Loch in der Wand

„‚Schaut auf diese Stadt.‘ Erinnern Sie sich noch an die Worte? Ich schaue schon sehr lange auf diese Stadt, auch wenn ich hier nicht geboren bin…“

Mitte der 1990er versuchte das ZDF offenbar, den etwas piefig gewordenen ARD-„Tatort“ zu überflügeln und wollte mit der neuen, 18-teiligen Krimireihe „Sperling“ mit Dieter Pfaff („Manta – Der Film“) in der titelgebenden Hauptrolle dicke Bretter bohren. Der Pilot „Sperling und das Loch in der Wand“ entstand unter der Regie Dominik Grafs („Die Katze“), der schon immer ein Händchen für den Umgang mit Genrefilm-Charakteristika hatte und hier ein Drehbuch Rolf Basedow inszenierte, an dessen Idee Pfaff mitgewirkt hatte. Die Erstausstrahlung des rund eineinhalbstündigen Falls erfolgte am 2. März 1996.

„Trau grundsätzlich niemandem mit Gürtel und Hosenträger.“

Der seit etlichen Jahren in Berlin lebende Kommissar Sperling ist lieber auf den Straßen bei den Menschen unterwegs als auf der Wache im Büro. Als ihm und seinem Kollegen Karsten Rhode (Benno Führmann, „Und tschüss!“) plötzlich Wolfang Krause (Ulrich Noethen, „Tatort: Frau Bu lacht“), der gerade eine Bank überfallen hat und flieht, ins Auto läuft, belässt es Sperling nicht bei der Verhaftung des Räubers, sondern will sein Motiv erfahren. Dieses geht tatsächlich über klassische Habgier hinaus und führt in die illegale Glücksspielszene, in der Clubbesitzer Günther Ratzke (Lutz Teschner, „Polizeiruf 110: Grawes letzter Fall“) offenbar systematisch die Leute ausnimmt und erpresst…

„Wenn Sie nicht schweigen würden, dann wär' ich weiter!“

Im Prolog stellt sich Sperling etwas pathetisch, etwas melancholisch aus dem Off vor, bevor der Fall im sommerlichen, aber windigen Berlin Fahrt aufnimmt – nämlich mit dem Fahrrad des Bankräubers Krause, mit dem er den Bullen vom Schwerkriminellendezernat (zu dem auch Vera Kowalski (Petra Kleinert, „Alles Lüge“) und Norbert Wachutka (Hans-Joachim Grubel, „Didi – Der Doppelgänger“) gehören) ins Auto kracht und diese daraufhin bald ahnen, es gar nicht mit einem allzu Schwerkriminellen zu tun zu haben. Witwer Sperling wird als netter, verständnisvoller Bulle eingeführt, dem mehr an den Menschen als an ihren Taten gelegen ist, der aber, wenn es sich als zielführend anbietet, das Good-Cop-Bad-Cop-Spiel zusammen mit Rhode beherrscht, einem jüngeren Vertreter seiner Zunft, der in seinem Heißsporn dann und wann vom väterlichen Sperling zurückgepfiffen werden muss.

„Auf hoher See und vor der Justiz sind wir alle in Gottes Hand.“

Die Handlung lässt Sperling & Co. in die Berliner Glücksspiel-Unterwelt eintauchen, erst inkognito, dann als Vertreter der Gerechtigkeit. Das geht mit skurrilen kleinkriminellen Gestalten bis hin zu aalglatten großen Fischen einher. Zugleich wird auch immer wieder ein Augenmerk auf die Folgen der verbrecherischen Methoden gerichtet, auf die Verzweiflung und sozialen Verwerfungen – insbesondere personifiziert durch Krauses Frau (Julia Jäger, „Karniggels“). Es gibt hier zwar keinen Mord und keine Toten, dafür umso mehr Sozialrealismus – was offenbar einer der Ansprüche hinter diesem Krimi war. Dazu passt der moderne, dynamische und rau-realistische Kamerastil Benedict Neuenfels‘. Die Drehorte und Kulissen der Halb- und Unterwelt wirken oft stylisch und cool, die Musik, an der Regisseur Graf ebenfalls mitwirkte, passt prima dazu und der Humor kommt auch nicht zu kurz, lockert den Fall auf, der damit eben kein Neo-noir sein will. Der Fall schließt, wie er begonnen hatte: mit einem Voice-over-Monolog Sperlings.

Mitunter vielleicht etwas dick aufgetragen sind die Verweise auf Sperlings Menschlichkeit, was womöglich dem Konzept einer Pilotepisode geschuldet ist: Eventuell sollten die Figuren möglichst klar umrissen werden. Pfaff spielt die Rolle, in der er sich mutmaßlich auch privat selbst gern sah: die des gemütlichen Dicken. Unterm Strich ist „Sperling und das Loch in der Wand“ etwas arg auf cool getrimmt, was nicht immer aufgeht und insbesondere in der Retrospektive hier und etwas bemüht wirkt. Dennoch ist diese Kombination aus Sozialkrimi und US-Coolness ein interessantes, weitestgehend sogar geglücktes Experiment, das sogar den Grimme-Preis für Regie und Kamera einheimste. Ob die Reihe auch ohne Graf als Regisseur das Niveau hat halten können, wird die zweite Episode zeigen.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
Antworten