Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Portrait de la jeune fille en feu

Produktionsland: Frankreich 2019

Regie: Céline Sciamma

Darsteller: Adèle Haenel, Noémie Merlant, Luana Bajrami, Valeria Golino
Den Preis für einen der schönsten Filmtitel des Jahres 2019 hat PORTRAIT DE LA JEUNE FILLE EN FEU, meiner Meinung nach, schon einmal gewonnen. Klingt das nicht zugleich nach James Joyces PORTRAIT OF THE ARTIST AS A YOUNG MAN und William Blakes THE GREAT RED DRAGON AND THE WOMAN CLOTHED IN SUN? Vor allem klingt es aber nach Pathos, nach großen Emotionen. Überrascht hat es mich letztlich nicht, dass es sich bei dem vierten Langfilm der französischen Regisseurin Céline Sciamma um einen Kostümfilm handelt, - und dass bei diesem Kostümfilm feministische, homoerotische, emanzipatorische Diskurse den Ton angeben, noch weniger, hat Sciamma doch zuvor Bekanntheit durch ihre Coming-of-Age-Trilogie aus NAISSANCE DES PIEUVRES (2007), TOMBOY (2011) und BANDES DES FILLES (2014) erlangt, in denen sie jungen Mädchen unterschiedlicher sozialer Milieus bei der Findung einer eigenen (sexuellen) Identität begleitet.

Im Jahre 1770 erhält die Pariser Malerin Marianne den Auftrag, die junge Adlige Héloïse zu portraitieren. Was klingt wie ein Job von der Stange, entpuppt sich als kompliziertes Maskenspiel: Zum einen lebt Héloïse mit ihrer verwitweten Mutter auf einer weltabgewandten Bretagne-Insel, zum andern weigert sie sich, irgendwem Modell für das Gemälde zu stehen, dessen Fertigstellung ihre (Zwangs-)Hochzeit mit einem italienischen Aristokraten besiegeln soll. Ihre Mutter schleust Marianne deshalb als vorgebliche Gesellschaftsdame auf das Eiland: Während Héloïse glaubt, sie solle ihr helfen, die langen Tagen bis zur Eheschließung totzuschlagen, studiert Marianne heimlich ihre Gesten, ihre Miene, ihre Aura, um jede Nacht zu versuchen, all das aus ihrem Gedächtnis heraus auf die Leinwand zu projizieren. Bei ihren Strandspaziergängen, Diskussionen im Flackerschein des Kamins und gemeinsamen Abendessen dringen die beiden Frauen immer mehr zueinander vor, und Marianne erfährt auch die Hintergrundgeschichte von Héloïses Hochzeit wider Willen: Eigentlich sei die Hand ihrer Schwester für die des Grafen aus Mailand vorgesehen gewesen, doch habe diese sich dann doch dafür entschieden, sich lieber die Küstenklippen in den Tod zu stürzen, statt einen Lackaffen zu heiraten, den sie nicht ausstehen könne. Es ist ebenfalls nur eine Frage der Zeit bis Héloïse hinter die wahren Gründe für Mariannes Besuch kommt: Entrüstet zeigt sie sich über das fertiggestellte Gemälde, in dem sie sich kein bisschen wiedererkennt – für Marianne Anlass genug, die erste Portrait-Fassung zu zerstören. Nur dadurch kann Héloïse ihre Mutter davon abhalten, Marianne der Insel zu verweisen, dass sie sich bereiterklärt, ihr von nun an sittsam Modell zu sitzen. Als die Mutter für fünf Tage verreist, und Marianne, Héloïse und das Dienstmädchen Sophie allein auf dem unwirtlichen Felsen im Meer zurückbleiben, nähern sich nicht nur unsere beiden Heldinnen zunehmend seelisch und körperlich an, sondern in der Einsamkeit gedeiht beinahe so etwas wie die Utopie eines feministischen Freistaats…

Von Utopien haben freilich auch Sciammas vorherige Werke erzählt: In NAISSANCE DES PIEUVRES entwickelt die fünfzehnjährige Marie einen Crush gegenüber der wenige Jahre älteren Floriane, und muss am Ende erkennen, dass diese ihrer Liebe lediglich freundschaftliche Gefühle entgegenbringt, bzw. nicht einmal begriffen hat, wie es um das Herz ihrer Freundin bestellt ist; in TOMBOY nutzt die etwas jüngere Laure den Umzug ihrer Familie und die noch andauernden Sommerferien, sich gegenüber den Nachbarskindern als Junge auszugeben, und ein Spiel mit Geschlechterrollen zu betreiben, das freilich ebenfalls in einem ernüchternden Zusammenstoß mit der Realität endet; in BANDE DES FILLES eilt die sechzehnjährige Mariame ihrem Traum von Freiheit hinterher, indem sie die Schule schmeißt und sich einer Mädchenclique anschließt, die Mitschüler erpresst und beraubt, Ladendiebstähle begeht, sich Schlägereien mit verfeindeten Banden liefert, nur um Stück für Stück tiefer ins kriminelle Abseits zu geraten. All diese Filme zeichnet aus, dass Sciamma die Balance findet zwischen intimen Einblicken in die Seelenleben sich unverstanden fühlender, mit ihrer sexuellen und/oder geschlechtlicher Identität hadernder, perspektivloser Jugendlicher und einem Inszenierungsstil, der sich fernhält von dem Drücken auf Tränendrüsen, plakativer Gesellschaftskritik oder dem Heischen um Mitleid, sondern, trotz aller Intimität, schon mehr mit dem Stoizismus beispielweise der Berliner Schule zu tun hat: Extradiegetische Musik erklingt bei Sciamma selten, und wenn, dann niemals ohne Grund; ihre Darsteller sind zumeist Laien, ihre Dialoge authentisch, ihre Bilder betont nüchtern, fast dokumentarisch; wer sich Geschichten voller unerwarteter Wendungen und dramaturgischer Finessen erwartet, dürfte sowieso an der falschen Haltestelle stehen. Wie transferiert Sciamma nun aber all diese Sensibilitäten und Stilmittel in einen dezidierten Historien-Kontext?

PORTRAIT DE LA JEUNE FILLE EN FEU folgt den etablierten Mustern: Im Zentrum stehen Frauen, die sich, zumindest emotional, gegen eine sie unterbutternde Gesellschaftsstruktur auflehnen – und wenn in vorliegendem Film im letzten Drittel plötzlich mit Héloïses Verlobtem ein Mann die Handlung entert, wirkt das im ersten Moment wie ein Schock, nicht nur für Marianne, sondern auch für mich; Schauwerte braucht niemand zu erhoffen, werden aufregendere Szenen von Sciamma doch konsequent ins Off verbannt: Wenn beispielweise Héloïse an Sophie eine Abtreibung vornimmt, ist das derart zurückhaltend inszeniert, dass ein Moment der Unaufmerksamkeit einem vielleicht sogar entgehen lassen würde, was sich da gerade für ein Drama abspielt, und wenn sich Marianne und Héloïse einander sexuell annähern, dann sehen wir einzig ihr behutsames Gehen auf Tuchfühlung, und treffen sie erst nach einem Schnitt wieder, wie sie nackt nebeneinander im Bett liegen; überhaupt wirkt PORTRAIT DE LA JEUNE FILLE EN FEU noch spröder, noch introvertierter, noch unaufgeregter als Sciammas Frühwerke, indem all die inneren Vulkane, die in unseren Heldinnen eruptieren, nahezu ausnahmslos in ihrem Innern verbleiben: Fast könnte man sagen, dieser Film sei reifer, gediegener, abgeklärter als seine drei Vorläufer. Zu tun hat das freilich auch mit den Entscheidungen, als Protagonisten erwachsene Frauen und keine Jugendliche zu wählen, sich in eine ferne Epoche zu begeben, und vor allem nicht länger alltägliche Situationen, die bislang im Mittelpunkt von Sciammas Filmen gestanden haben, zu thematisieren, sondern einen Ausnahmezustand zu bebildern: Dass Héloïse und Marianne die Zeit davonrennt, wissen die Beiden am besten, sodass der gesamte Aufenthalt der Malerin auf der Atlantikinsel ihren utopischen Charakter bereits per se in sich trägt. Böse Zungen könnten freilich sagen, dass PORTRAIT DE LA JEUNE FILLE ein Arthouse-Prototyp ist, wie am Reißbrett entstanden: Zwei Stunden lange hübsche Bilder, hübsche Landschaften, hübsche Kostüme, doch rein storytechnisch passiert nichts, was nicht auf einer Briefmarke Platz finden würde. Allerdings ist das auch gar nicht der Punkt, den Sciamma machen will: Ihr zärtliches Kammerspiel kaut uns nicht vor, legt nichts wirklich offen, wirkt allein deshalb so distanziert, weil es mich selbst zum Nachdenken anregen möchte – und wenn dann nach hundertzwanzig Minuten der Film in einer Großaufnahme von Sciammas Lebensgefährtin Adèle Haenel kulminiert, die angesichts einer Opernaufführung ihre bislang runtergeschluckten Gefühle nicht mehr im Zaum zu halten vermag, dann wirkt es beinahe, als sei die meditativ-kontemplative Stimmung, die der Film zuvor an den Tag gelegt hat, nur dafür gedacht gewesen, mich in diesen letzten Minuten umso heftiger mit Vulkanen zu konfrontieren, die doch plötzlich extrem schmerzhaft aus ihren Körperkäfigen hervorbrechen.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Little Joe

Produktionsland: Österreich/Deutschland/Großbritannien 2019

Regie: Jessica Hausner

Darsteller: Emily Beecham, Ben Whishaw, Kerry Fox, Kit Connor, Jessie Mae Alonzo
Bereits im Jahre 2004 hat die österreichische Regisseurin Jessica Hausner in ihrem zweiten Spielfilm mit dem Genre-Kino geflirtet: HOTEL ist nicht nur die bessere Alternative für Leute, denen Luca Guadagninos Versuch zu lang, zu verkopft, zu orientierungslos ist, die aber trotzdem gerne ein SUSPIRIA-Remake sehen wollen, das dem Original nicht sklavisch folgt, sondern neue Facetten hinzugewinnt, sondern zudem ein wirklich klaustrophobischer, und dabei auf angenehme Weise vager und diffuser Film mit seinen zentralperspektivisch, sich in Schatten verlierenden und in lyncheskes Licht getauchten Räumen, seinem verhexten Blair-Witch-Wäldchen, seiner an SHINING orientierten Geschichte um eine schüchterne junge Frau, die als Rezeptionistin in einem entlegenen Berghotel anfängt, und in einem Klima von Einsamkeit, Eintönigkeit und Feindseligkeit letztlich mit ihren eigenen Dämonen konfrontiert wird. Seither hat Frau Hausner zwei Langfilme vorgelegt, die klar ihre Handschrift verraten – eine statische Kamera, die präzise Bildkompositionen einfängt; Dialoge, bei denen es weniger auf die konkret geäußerten Worte, sondern auf die Leerstellen dazwischen ankommt; Figuren, die sich einem überbordenden Machtgefüge überantwortet sehen, aus dem sie in einer Mischung aus lethargischer Selbstaufgabe und verzweifelter Wut einen Ausweg suchen –, und die mit Genre-Kino nun rein gar nichts zu tun haben:

LOURDES ist eine Reise zum gleichnamigen Wallfahrtsort, dessen vorgebliche Wunder einer jungen Frau zwar kurzzeitig aus dem Rollstuhl verhelfen, worauf diese dann aber zu erkennen meint, den Anforderungen des Lebens nicht gewachsen zu sein, und sich quasi freiwillig zurück in die Lähmung begibt, während AMOUR FOU uns in die Goethe-Zeit entführt, wo der Dichter Heinrich von Kleist die Berliner Salons unsicher macht, da er eine junge Frau sucht, die gemeinsam mit ihm in den Freitod gehen möchte, und sie schließlich in der freudlos verheirateten Hypochonderin Henriette Vogel findet. Beide Filme sind kleine Meisterwerke für mich, weil sie ihre durchweg tragische Geschichten zwar durchaus im Stil der Berliner Schule erzählen, sprich, mit Emotionen, die so weit heruntergekocht sind, dass sie kurz vorm Gefrierpunkt zu stehen scheinen, die Tragik aber andauernd durch einen hintersinnigen Humor und skurrile Einfälle würzen: LOURDES beispielweise endet mit einer himmelschreienden Karaoke-Nummer zu Al Banos und Romina Powers „Felicita“; AMOUR FOU demgegenüber wirkt andauernd, als würde die Kamera sich mit der Perspektive der zahllosen Salon- und Schoßhunde verbrüdern, die den Film wie ein stummer griechischer Chor bevölkern. LITTLE JOE, Hausners neustes Projekt, soll nun allerdings, soweit es mir die Vorankündigungen suggeriert haben, ein reinrassiger Science-Fiction-Thriller sein. Es ist ihr erster englischsprachiger Film, teilweise gedreht in Liverpool, besetzt mit britischen Schauspielern, und soll lose auf dem Roman THE BODY SNATCHERS bzw. dessen zahlreichen Adaptionen basieren. Ich muss gestehen, so gespannt bin ich dieses Jahr selten auf einen aktuellen Film gewesen…

Little Joe, damit ist nicht nur der Sohn von Alice gemeint, den sie weitgehend ohne Unterstützung des Aussteiger-Vaters großzieht, sondern auch eine neue Pflanzenart, die sie im Rahmen ihres Jobs bei einem Biologieunternehmen herangezüchtet hat: Die im Labor entstandene Blume mit ihren purpurroten Blüten soll ein bestimmtes Hormon freisetzen, das in ihren Besitzern Glücksgefühle auslöst – das perfekte Antidot gegen Zeitkrankheiten wie soziale Vereinsamung und Depression, zumal „Little Joe“ seine Duftstoffe umso heftiger ausstößt je mehr man ihn hegt und pflegt. Während Alices Chef plant, die Züchtung bei einer internationalen Pflanzenmesse der Weltöffentlichkeit zu präsentieren, und dadurch immense finanizelle Gewinne zu erzielen, hat Alice, obwohl es eigentlich verboten ist, vor Abschluss der Testphase eine der Pflanzen aus dem Labor zu entführen, bereits die Zusammenführung der beiden Joes in die Wege geleitet, indem sie ihrem Sohn eins der jungen Blümchen schenkt. Kurz darauf häufen sich rätselhafte Ereignisse: Eine Kollegin, Bella, schwört felsenfest, mit ihrem sinnigerweise Bello genannten Hund stimme etwas nicht; er sei nicht mehr der Alte; sicher, er sähe so aus wie ihr Bello, doch würde er sich völlig anders verhalten. Kurzzeitig besorgt wird Alice aber von ihrem engen Mitarbeiter Chris beruhigt: Immerhin befinde Bella sich in Psychotherapie und sei öfter schon durch Schrullen aufgefallen. Dass Chris außerdem ein Auge auf Alice geworfen hat, und sie regelrecht umschwärmt, lenkt sie zunächst auch davon ab, dass sich bei ihrem eigenen Joe ungewöhnliche Verhaltensmuster zu zeigen beginnen: Er vernachlässigt seine Ameisenzucht, scheint nur noch Augen und Ohren für seine Pflanze zu besitzen, erkennt Alice eines Tages im ersten Momenten nicht, als sie ihn von der Schule abholen kommt. Sollte sich bewahrheiten, was Bella ihr in einer ruhigen Minute anvertraut hat: Dass nämlich die ihm implementierten Glückshormone von „Little Joe“ dazu eingesetzt werden, die Menschen so eng an sich zu binden, dass sie nur noch seine Vermehrung im Sinn haben – eine Evolutionsstrategie, die das Ende der Menschheit bedeuten könnte?

Wer nun allerdings apokalyptische Szenarien erwartet, in denen Pflanzen fremdgesteuerte Menschen gegeneinander aufhetzen, der ist bei Frau Hausner definitiv an der falschen Adresse: Wie schon in HOTEL ist der Schrecken in LITTLE JOE subtil – so subtil, dass ich mir vorstellen kann, mancher Genre-Aficionado würde stattdessen das Adjektiv monoton präferieren. Festhalten kann man: Auch für LITTLE JOE hat sich Frau Hausner nicht verbogen, was ihren spröden Stil angeht. Die Kamera weiß zwar, wie man zoomt, (und nutzt diese Technik auch für einige irritierende Effekte), bleibt ansonsten aber als regloser Beobachter inmitten des Geschehens, das sich einerseits in strengen Bildern und andererseits per Figuren entwickelt, die ihre wahren Gefühle lieber in sich verstecken als sie offen auszuagieren. Ersteres, die Bilder, sind geprägt von einer artifiziellen Beleuchtung, die nicht nur, erneut, Reminiszenzen an HOTEL weckt, sondern mitunter wirkt, als wolle Hausner mit ihrer glattgeschleckten Optik, ihren unnatürlichen Farben beinahe so etwas wie eine futuristische Werbe-Ästhetik erzielen, (nur um diese im gleichen Atemzug freilich subversiv zu parodieren); letzteres, die Figuren bzw. Schauspieler, verhalten sich, wie man das vor allem aus AMOUR FOU kennt, selbst dann, wenn sie noch nicht von Pflanzensamen besessen sind, reichlich unterkühlt, und entsprechen damit komplett der emotionsfernen dystopischen Welt, in der LITTLE JOE spielt: Eine Welt, in der die Menschheit gentechnisch manipulierte Blumen braucht, um überhaupt noch so etwas wie Glücksgefühle zu empfinden. Aber, wie man vielleicht schon an meinem verhaltenen Tonfall hört: Die wirklich große Begeisterung, die ich AMOUR FOU, LOURDES, HOTEL und auch Hausners Spielfilmdebut LOVELY RITA entgegengebracht habe, bleibt leider aus, und obwohl LITTLE JOE durchaus die erwähnten Vorzüge besitzt, plätschert er dann doch, zumal mit einer Laufzeit von mehr als neunzig Minuten, gerade im letzten Drittel, wenn man sich an seine Ästhetik gewöhnt hat, stellenweise vor sich hin. Das liegt freilich vor allem daran, dass der Film sich jedweden prononcierten Spannungsbogen verweigert: Die Bedrohung steht zwar die ganze Zeit wie ein Elefant im Raum, jedoch kommt es im Grunde nie zu wirklichen Konfliktsituationen. Hilflos ausgeliefert sind unsere Protagonisten, allen voran Alice, der evolutionären Raffinesse von „Little Joe“, sodass es zu keinem Zeitpunkt zu einem Widerstand kommt, den man guten Gewissens als ernsthaft bezeichnen könnte. Sicher, auch in Hausners übrigen Filmen fehlen (zum Glück!) die Knalleffekte, die großen Gesten, die Pauken und Trompeten: Das Problem ist aber, dass diese nicht derart gezielt in Genre-Konventionen operiert haben wie LITTLE JOE es tut, (den ich dann auch zum mit Abstand mainstreamigsten Film küren würde, den Frau Hausner bislang gedreht hat, trotz oder gerade wegen der ihm immanenten Verweigerungshaltung.)

Was LITTLE JOE indes für mich ziemlich unvergesslich gemacht hat, das ist sein Soundtrack. Der setzt sich nämlich aus Kompositionen des japanischen Avantgardemusikers Teiji Ito zusammen, jenem 1983 verstorbenen Klangkünstler, der in die abseitigere Filmgeschichte dadurch einging, dass Maya Deren ihn beauftragte, ihre frühen Experimentalfilme wie MESHES OF THE AFTERNOON nachträglich zu vertonen. Diese schrillen Töne, Trommeln, Terror-Collagen, die man mir auf der Tonspur von LITTLE JOE vorsetzt, sind tatsächlich dazu prädestiniert, den einen oder anderen Schlaf zu rauben und so schnell nicht zurückzugeben. Nur schade, dass der zugehörige Film zu solchen Raubzügen nicht einmal den zaghaften Versuch unternommen zu haben scheint.

P.S.: Der Zusatz GLÜCK IST EIN GESCHÄFT, den der deutsche Verleih dem Film verpasst, ist erneut ein Zeichen für wahrhaft fehlgeleitete Kreativität: Dass es in LITTLE JOE auch nur ansatzweise um Kapitalismuskritik geht, wie dieser Titel suggeriert, wage ich ernsthaft zu bezweifeln.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Licht

Produktionsland: Österreich 2017

Regie: Barbara Albert

Darsteller: Maria Dragus, Devid Striesow, Lukas Miko, Katja Kolm, Maresi Riegner
Dass der 2017 realisierte Spielfilm LICHT nicht aus der Feder und unter der Regie von Jessica Hausner stammen bzw. entstanden sein soll, mag ich kaum glauben, erinnern doch sowohl das Sujet wie auch die Formsprache überaus stark an die österreichische Regisseurin, die mit Werken wie dem Quasi-SUSPIRIA-Remake HOTEL (2004), dem Wallfahrts-Drama LOURDES (2009) sowie ihrer Aufarbeitung der suizidalen Beziehung zwischen Heinrich von Kleist und Henriette Vogel in AMOUR FOU (2014) für mich zu den bewunderungswürdigsten Filmemacherinnen des 21. Jahrhunderts zählt. Immerhin aber ist die eigentliche Frau hinter LICHT, die mir zuvor gänzlich unbekannte Barbara Albert nämlich, zumindest weitläufig mit Frau Hausner verbandelt: Gemeinsam hat man Ende der 90er die Produktionsfirma coop99 ins Leben gerufen, was immerhin auf eine verwandte Geisteshaltung schließen lässt.

Die spürt man allerdings sowieso in jeder Pore von LICHT. Wenn Barbara Albert die historisch fundierte Geschichte der Maria Theresia von Paradis, einem im Rokoko-Wien aufwachsenden erblindeten Klavierwunderkind erzählt, das in die Obhut des Wunderheilers Franz Anton Mesmers gegeben wird, damit dieser ihr durch seine zweifelhaften Magnetismus-Kuren das Augenlicht wiederschenke, dann geschieht das in zwar streng komponierten, jedoch nicht wirklich abweisenden Bildern: Obwohl der Film nahezu ausschließlich im Mesmer’schen Sanatorium spielt, in dem wir die Figuren beäugen dürfen wie Insekten unterm Mikroskop, führt die vermeintliche Emotionslosigkeit des Kamera-Blicks nie dazu, dass mir diese Figuren gleichgültig werden würden – im Gegenteil: Dadurch, dass Albert die Gefühle ihrer Charaktere, (sicherlich auch dem Zeitkontext geschuldet), auf ein Mindestmaß herunterkocht, gelingen Momente voller innerer, kaum bis an die unerschütterlichen Fassaden der Figuren vordringender Spannung: Als die hervorragend aufspielende Maria Dragus in der Hauptrolle sich beispielweise an ihre Frau Mama klammert, die sie allein im Hause Mesmers zurücklassen möchte, und eine kurzzeitig als greifbare Möglichkeit im Raum stehenden liebevolle Annäherung zwischen Mutter und Tochter in Abweisen und Zurückstoßen gipfelt; als ein einziger Blick genügt, um uns klarzumachen, dass ein weiterer Gast des Sanatoriums jede Gelegenheit nutzt, das wehrlose Dienstmädchen sexuell zu molestieren, (worauf sie schwanger wird und ihre Stelle verliert, was wir wiederum mit zynischer Beiläufigkeit erfahren); oder als im Finale Mademoiselle Paradis und Dr. Mesmer voneinander Abschied nehmen müssen, weil ihre Eltern der Meinung sind, die den Freigeist der Tochter zu arg befördernde Behandlung sei eher schädlich denn nützlich, und ein bloßer Blickaustausch zwischen Arzt und Patientin ausreicht, um ganze ansonsten unsichtbare Gefühlswelten aufzureißen.

Mit seinen opulent-klaustrophobischen Räumen ist LICHT nahe am ebenfalls historischen Setting von AMOUR FOU; die Strapazen, die eine weibliche Figur gegenüber einer erdrückenden Gesellschaft bei der Selbstverwirklichung verspürt, findet sich sowieso in jedem Hausner-Film seit dem Jugenddrama LOVELY RITA (2001); diese kühlen Einstellungen ohne Kamerazucken, die elliptischen Montageschnitte, die Verweigerung extradiegetischer Musik und großgestischem Schauspiel ist ein Stilmittel, das sämtliche Filme Hausner auszeichnet. Weshalb aber bewerte ich LICHT dann doch etwas schlechter als die bereits aufgezählten Filme der Regiekollegin: Nun, weil in LICHT dann doch genau jene Prise eigenwilligen und eigenartigen Humors fehlt, der für mich Hausners Arbeiten erst zu kleinen Meisterwerken macht. Ich denke an: Die völlig bizarre Karaoke-Sequenz, mit der LOURDES schließt; die zahllosen Genre-Zitate, die in HOTEL scheinbar amorph umherschwimmen; die Tatsache, dass AMOUR FOU stellenweise wirkt, als würde der Film sich mehr für die Salonhunde der höfischen Gesellschaft als für die menschlichen Tragödien um die Vierbeiner herum interessieren. Genau solche Extravaganzen konnte ich in LICHT nicht entdecken, - was aber grundsätzlich nichts daran ändert, dass ich den Film für einen der gelungeneren Versuche halte, wie das zeitgenössische deutschsprachige Kino einen Geschichtsstoff anpackt, ohne belehrend zu werden und in die Schauwerte-Falle zu tapsen.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: La Tour de Nesle

Produktionsland: Frankreich 1955

Regie: Abel Gance

Darsteller: Pierre Brasseur, Silvana Pampanini, Paul Guers, Jacques Toja, Lia Di Leo, Constant Rémy
Ich muss gestehen, dies dürfte dann wohl die erste wirklich "kalkulierte" Kurzkritik meinerseits in diesem Forum sein. Hintergrund ist: Zurzeit gibt es in der Mediathek von Arte die restaurierte Fassung von Abel Gances Stummfilm-Epos "La Roue" aus dem Jahre 1923 mit über 6 Stunden Laufzeit zu besehen. Da ich möchte, dass so viele Menschen wie möglich in den Genuss dieses Meisterwerks irgendwo zwischen progressiver Film-Avantgarde und naturalistischem Melodrama kommen, ich mich aber noch nicht bemüßigt fühle, dem Film in einer eigenen Entsprechung gerecht zu werden, (und ich außerdem die neue Version zu sehen noch nicht die Zeit gefunden habe), überlege ich natürlich: Wie kann man eher genre-affinen Leuten einen solchen Streifen dennoch schmackhaft machen? Meine logische Schlussfolgerung: Wieso nicht einen anderen Film des gleichen Regisseurs besprechen, in dem man dann den Hinweis auf die Arte-Mediathek wie zufällig fallenlassen könnte?, am besten auch einen Film mit einem zugkräftigen Titel, der irgendwie nach Exploitation schmeckt, und am allerbesten einer, der nun nicht unbedingt so meisterhaft ist, dass sich meine Leser kurzerhand entschließen, sich den zuerst zu Gemüte zu führen, und LA ROUE darüber am Ende doch wieder in Vergessenheit gerät...

In den 20er Jahren gehört Abel Gance zur Speerspitze der französischen Film-Avantgarde. J’ACCUSE (1919), LA ROUE (1923) und sein Lebenswerk NAPOLÉON (1928) dürften diejenigen Filme seiner Karrierehochphase sein, bei denen den meisten Cinephilen das Wasser im Munde zusammenläuft. Geschult an der naturalistischen Literatur des vorherigen Jahrhunderts erzählt Gance mit dem langen Atem eines Dickens oder Hugos Geschichten, die allein dadurch mit Bedeutung aufgeladen werden, weil ihre Umsetzung in jedweder Hinsicht episch ist: Episch ist ihre Laufzeit – niemals unter drei Stunden, am besten vier, sechs oder acht! -, episch ist der Aufwand, der für sie betrieben wurde – für J’ACCUSE zieht es Gance gar in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs, und zwar noch während aktive Kampfhandlungen stattfinden, und verpflichtet Frontsoldaten als Statisten –, episch ist der Katalog an teilweise unerhörten Spezialeffekten und Filmtricks, die Gance für sie in Anschlag bringt oder gleich einfach erfindet: MG-Montagen, Überbelichtungen, Split-Screen-Sequenzen, konzipiert für mehrere parallel laufende Projektoren. Beseelt sind Gances drei Hauptwerke aber auch von einer gewissen Schizophrenie, die vor allem in NAPOLÈON besonders greifbar wird: Visuell-inszenatorisch wird diese Huldigung Bonapartes oft und gerne als Lexikon der damaligen Filmtechnik bezeichnet, derart dicht gesät sind die Innovationen und Subversionen, mit denen Gance sich gegen gängige Konventionen des Kommerzkinos sträubt. Von seinem Sujet her aber könnte NAPOLÉON kaum reaktionärer sein: Es ist, wie gesagt, eine ironisch ungebrochene Huldigung Bonapartes – und, wenn man diesen Film ernstnimmt, fast schon eine Apologie von Diktaturen.

NAPOLÉON wird Gance sein Leben lang begleiten. Immer wieder montiert er den Film neu, vertont ihn nachträglich, dreht zusätzliche Szenen, arbeitet an möglichen Fortsetzungen. Nebenbei ist er aber, nach dem Übergang vom stummen zum tönenden Film, weiterhin als Regisseur beschäftigt. In Werken wie UN GRAND AMOUR DE BEETHOVEN (1936), VÉNUS AVEUGLE (1941) oder LA CAPTAIN FRACASSE (1943) kann man die wohlüberlegte Experimentierfreude vergangener Tage jedoch höchstens noch in Spuren wiederzufinden. Allein Gances Schuld mag das nicht sein: Kolossal gescheitert ist er 1931 mit seinem FIN-DE-MONDE-Projekt, dem letzten, in dem er die kreative Oberleitung innehaben konnte. Danach dreht er Studiofilme fürs kommerzielle Verleihsystem Frankreichs, vorrangig Kostümschinken und Melodramen, die genau von dem Schlag sind, den die Nouvelle-Vague-Reformer als cinema de qualité abkanzelten. In Gances erstem Farbfilm, LA TOUR DE NESLE von 1955, jedenfalls mehr zu erkennen als einen steifen Kostümschinken mit gotischen Obertönen, das mag mir beim besten Willen nicht gelingen – da mag Francois Truffaut in den Cahiers, zu meinem Erstaunen!, noch so wohlwollend über den Film schreiben, und da mag auch noch so fett auf manchem zeitgenössischen Postern der Name Alexandre Dumas prangen, auf dessen gleichnamigen Erfolgsstück von 1832 der Film nämlich basiert.

Trotz zwei Stunden Laufzeit kann man die zumindest in Ansätzen auf historisch verbürgten Ereignissen fußende Handlung kurz und knapp zusammenschnüren, ohne Essentielles wegzulassen: Im (heute nicht mehr existenten) Tour de Nesle am Pariser Seineufer unterhält im 14. Jahrhundert die französische Königin Margaret mit ihren beiden Schwestern eine Art blaublütiges Bordell. Hübsche Jünglinge werden in das Gemäuer gelotst, dort ihres Samens erleichtert, und danach, damit ihre Verschwiegenheit gewahrt bleibt, von den Handlangern der modernen Nymphen vom Leben in den Tod befördert. Schon mehrere Leichname haben die Seineufer gesäumt, was selbstverständlich bereits zu genügend Klatsch und Tratsch geführt hat, dass man meinen könnte, die majestätischen Männermörderinnen würden etwas vorsichtiger agieren. Munter geht das Meucheln jedoch weiter – solange jedenfalls bis Jehan Burdian, ein früherer Geliebter Margaretes zu Zeiten, als sie noch nicht die Königskrone trug, es schafft, den Turm lebend zu verlassen, und sich, auch um den Treuebruch der frühen Angebeteten zu sühnen – (denn immerhin hat er in ihrem Auftrag ihren Vater getötet, um danach jedoch nicht zu ihrem Gatten ernannt, sondern ins Exil gejagt zu werden) –, an eine ausgefuchste Erpressungsaktion macht. Was weder Burdian noch Margarete ahnen: Die beiden Liebhaber, die sich die Königin zeitgleich hält, sind Söhne, die aus der früheren Liaison unseres tragischen Pärchens entsprungen sind, und die von beiden für totgehalten werden. Mit einem Mindestmaß an Phantasie kann man sich wohl schon ausmalen, auf welchen inzestuösen, bluttriefenden und intriganten Pfaden der Film in seinem Schlussakt entgegenwandelt…

Auch wenn – was mich dann doch nicht wenig überrascht hat! – in vereinzelten Szenen doch tatsächlich die eine oder andere entblößte Frauenbrust aufblitzt: Die exploitativen Verheißungen, die ein Verleihtitel wie DER TURM DER SÜNDIGEN FRAUEN in jedem von uns weckt, möchte Gance natürlich nicht im Ansatz erfüllen. Statt lasziven Intermezzi an der Schwelle zwischen Eros und Thanatos verliert sich der Film viel eher in ermüdenden Dialogszenen, denen man ihre Herkunft von Bühnenbrettern nur zu deutlich anmerkt, in kecken Sprüchen und Kneipenduellen wie aus einem x-beliebigen zeitgenössischen Mantel-&-Degen-Abenteuer und, nicht zuletzt, in zwar nett anzuschauenden Kulissen, die aber ebenso zu keinem Zeitpunkt verhehlen, dass die Kamera nur ein Stück zur Seite schwenken müsste, und wir würden sehen, dass sie in einem sterilen Studio hochgezogen worden sind. Da ich von einem Film, der mit Gances Namen wirbt, Mitte der 50er, was Kameraführung, Schnitt, Kadrage anbelangt, keine Höhensprünge mehr erwarte, hat es mich zudem nicht sonderlich enttäuscht, dass LA TOUR DE NESLE unmöglich zu unterscheiden ist von irgendeinem anderen biederen Prestigekino-Erzeugnis seiner Zeit. Wenn dann noch Pierre Brasseur als D’Artegnan für Arme seine Zeilen deklamiert, als müsse er am Hofe des Sonnenkönigs brillieren, und die zarten Anflüge von Spannung und Schauer, die der Film durchaus besitzt, unter dem Staub von Allonge-Perücken versinkt, dann kann ich, nach einem verzweifelten Aufstöhnen, eigentlich gar nicht anders, als mir nochmals die sechs Stunden LA ROUE reinzuziehen - einen Ratschlag, den ich hiermit erneut allen Mitlesenden an die Hand gebe...!
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Death Scenes

Produktionsland: USA 1989

Regie: Nick Bougas

Darsteller: Anton Szandor LaVey und zahllose bemitleidenswerte Opfer von Mord und Totschlag
Eine 1989er Shockumentary, größtenteils zusammengesetzt aus Tatort-Photographien von Los Angeles' Homicide Departement der 20er, 30er und 40er, und kuratiert von dem Gründer der „Church of Satan“, Anton Szandor LaVey. Wie werde ich wohl auf die Möglichkeit, mir dieses Machwerk aus den nebulöseren Nischen der klandestinen Filmgeschichte anzuschauen, reagiert haben…?

Es sei „a road map featuring the many avenues by which we encounter death . . . a brutally graphic collection of horrid indiscretions, a true Necronomicon”, was nun auf uns zukommen würde, versichert LaVey, stilecht angetan mit Zylinder und Dracula-Cape, bevor er sowohl auf seine eigene Erfahrung als Polizeiphotograph im San Francisco der 40er Jahre hinweist als auch sein Publikum mit einer genre-obligatorischen rhetorische Frage konfrontiert: „What mysterious force draws us to such a dark, challenging subject? That is a question that you, the viewer, must ask yourself, for you have chosen to join me in this universal participatory ritual, this tour of relentless human folly.” Zumindest ich bin achtzig Minuten später, was das betrifft, nicht wirklich schlauer.

Im Prinzip kann man DEATH SCENES in drei Großsegmente unterteilen. Die erste Etappe unserer Reise führt mitten hinein in einen Malstrom aus Bildern, die man vielleicht am besten als etwas heftigere Variationen der Tatort-Photographien bezeichnen könnte, wie sie der New Yorker Boulevardpresse-Photograph Weegee in den 30ern und 40ern geschossen hat: Maschinengewehr-Morde, verübt von der Mafia; ein Polizist, dem derart unvermittelt die Kehle durchschnitten worden zu sein scheint, dass ihm noch immer die Hand, auf der Suche nach der Waffe, in der Hosentasche und die Zigarette zwischen den Lippen steckt; Körper, die in Kofferräumen gefunden wurden, die weggeworfen wie Müll in zwielichtigen Hintergassen liegen, die zu Tode geprügelt, verbrannt, ertränkt worden sind. Als seien sie selbst Salven eines MG werden diese Bilder atemlos abgefeuert, wozu LaVey mit trockenem Humor Namen und Fakten herunterrasselt, als würde er durch die Spalten besonders morbider Yellow-Press-Erzeugnisse hecheln. Herausgehauen werden von ihm beispielweise solche Bonmots wie, dass ein Mann, der einen anderen wegen etwas Kleingeld und seiner Taschenuhr ermordet habe, nun seine Zeit in St. Quentin totschlagen würde, oder dass die Beziehung eines Paares komplett „washed-up“ gewesen sei, denn dessen männlicher Teil habe den Leichnam des weiblichen, nach seiner Ermordung, vor einem Waschsalon entsorgt.

Das zweite Segment von DEATH SCENES wirkt demgegenüber wie eine Illustration der schauerlichen Anekdoten, die Kenneth Anger in HOLLYWOOD BABYLON erzählt: Filmstars des klassischen Hollywoods, die an Drogen sterben, die mit ihren Autos verunglückt sind, die sich das Leben genommen haben, oder denen sonst irgendwelche Dinge widerfahren, die man seinem schlimmsten Feind nicht wünscht. Hätte DEATH SCENES mit den Schilderungen der Todesumstände von Personen wie Marilyn Monroe oder James Dean geendet, hätte ich ihn guten Gewissens als einen der eher konsumierbaren, „anständigen“, „seriösen“ Vertreter seiner spezifischen Filmgattung bewertet. Diese Einschätzung hätte natürlich vor allem mit dem Medium zu tun gehabt, aus dem DEATH SCENES seine Schockbilder rekrutiert: Photographien sind stillgelegte Zeit, hätte ich mit Roland Barthes argumentiert, und sie tragen allein durch ihre Starrheit den Tod zwar immanent in sich, selbst wenn sie ihn gar nicht explizit illustrieren, aber zumindest mich affizieren sie zumeist nicht ansatzweise so stark wie Bewegtbilder – zumal es äußerst schwerfällt, sein individuelles Punctum im Sinne Barthes‘ zu finden, wenn die einzelnen Bilder an einem vorbeirasen wie in der Schnellzug-Montage vorliegenden Films.

Im dritten und letzten Abschnitt fährt DEATH SCENES dann aber doch noch visuelle Gräuel auf, wie sie in keinem Neo-Mondo vom Schlage eines TRACES OF DEATH oder FACES OF GORE unangebracht wären: Aufgedunsene, aufgeplatzte Kadaver, denen die Eingeweide hervorquellen; unidentifizierbare Masken, die einmal menschliche Gesichter gewesen sein sollen; die Überreste von Kindern, die von wilden Wölfen angefallen worden sind oder Opfer sexueller Übergriffe wurden. Rhetorische Frage: Will das wirklich irgendwer en detail sehen? Nach dieser Parade an Transgressionen schließt (auch das ein gängiges Stilmittel: Man denke daran, wie häufig italienische Mondo-Filme mit Geburtsszenen enden, oder an das vergleichsweise versöhnliche Finale von FACES OF DEATH) LaVey auf einer lebensbejahenden, pseudo-positiven Note, die natürlich vorrangig dazu dient, die vorherigen Tabubrüche zu legitimieren und gleichsam abzufedern: „Ladies and Gentlemen, what, if anything, is to be gained by reviewing this grim series of images? Do we find further proof that crime does not pay, or a greater realization? Only through the bold confrontation with man and his mortality can we fully comprehend the importance of living life to its fullest, to pursue in true fashion the admirable goal of life with honor, death with dignity.”

DEATH SCENES ist, wenn schon kein empfehlenswerter Streifen, allerdings, meiner Meinung nach, filmhistorisch nicht nur deshalb interessant, weil der Film fast ausschließlich aus Photographien kompiliert wurde – (nur selten gibt es dann doch die eine oder andere Bewegtbildszene, bspw. aus Spielfilmen der portraitierten Hollywood-Stars; ansonsten könnte man durchaus vom LA JETÉE des Mondo-Kinos sprechen) -, sondern weil er gewissermaßen auch ein Bindeglied darstellt zwischen den Mondos und Shockumentaries der alten Garde und dem, was Mikita Brottman, wenn auch relativ unpräzise, in ihrem Buch zu "Offensive Films" als „Neo-Mondos“ klassifiziert. Jeweils drei Hauptmerkmale koppelt DEATH SCENES dabei an die Genre-Klassiker, und drei Hauptmerkmale separiert Nick Bougas‘ Film wiederum von diesen:

1. Schon beinahe manisch ist DEATH SCENES darum bemüht, seinen Bildern einen Kontext, eine Geschichte anzudichten. Ob all die Räuberpistolen, Ehedramen, kuriosen Todesumstände nun wirklich den Tatsachen entsprechen, oder ob sie sich LaVey respektive Nick Bougas nicht aus den Fingern gesaugt haben, kann ich nicht beurteilen, da wir weder konkret erfahren, wie LaVey überhaupt in den Besitz all dieser photographischen Abbildungen gelangt ist, noch wer sie eigentlich geschossen hat, und zu welchem Zweck. Selbst wenn es sich einzig um elaborierte Lügengespinste handeln sollte, was LaVey uns im Sekundentakt auftischt, es ändert nichts daran, dass DEATH SCENES fortwährend einen narrativen Kontext evoziert, der die einzelnen Leichname, so grausig sie auch zugerichtet sein mögen, explizit individualisiert – und das im Kontrast zu Machwerken wie TRACES OF DEATH oder FACES OF GORE, die sich als stumpfe Aufeinanderfolge von Schockbildern verstehen, deren (Selbst-)Zweck allein in ihrer Schockhaftigkeit begründet liegt, und wo der einzelne Mensch einfach nur Material ist, mit dem gearbeitet wird, um den Zuschauer sein Abendessen ein zweites Mal verzehren zu lassen.

2. LaVey mag sich, wie erwähnt, des einen oder anderen schwarzhumorigen Spaßes nicht enthalten, nichtdestotrotz trennen seinen ironischen, mit zahlreichen Wortspielereien gespickten Kommentar wahre Welten von den menschenverachtenden Bemerkungen, mit denen man in Shockumentaries der 90er Jahre gemeinhin konfrontiert wird. (Ich denke konkret an die pubertären, selbst ein Mindestmaß an Anstand vermissenlassenden Auslassungen eines gewissen Dr. Vincent Van Gore in der FACES-OF-GORE Reihe sowie an den sogenannten „mullet meter“ in der Autopsie-Sequenz von TERRORIST KILLERS & MIDDLE-EAST WACKOS, wo, während ein Leichnam seziert wird, die anwesenden Studenten anhand ihrer Vokuhila-Frisuren bewertet werden.)

3. Nicht zuletzt das Material, auf das sich DEATH SCENES größtenteils beruft, unterscheidet den Film maßgeblich von den Amateur-Video-Aufnahmen, mit denen FACES OF GORE und Konsorten sich schmücken. (Wirkt, könnte man sich fragen, DEATH SCENES allein deshalb weniger obszön, weniger exploitativ, vielleicht sogar nostalgischer, wehmütiger, weil seine Bilder aus gefrorener Zeit bestehen, und nicht aus einer, die, trotz ihrer Einkapselung, noch immer fähig ist, sich von der Stelle zu bewegen? Und kann man diese Beobachtung nicht generell ausweiten auf den Paragone-Wettstreit zwischen Photographie und Film?)

Dennoch, Bougas‘ Film löst sich auch erheblich von den Genre-Traditionen, nämlich 4. durch seine rapide Montage, die mir keinen Moment der Besinnung, keine Verschnaufpause, keinen noch so kleinen Winkel zur Reflexion und Rezeption des Gesehenen gönnt. Photo folgt auf Photo, Story folgt auf Story, so, als würde man in einem ohnmächtigen Rausch durch LaVeys Sammlung brausen. Während klassische Mondos von Jacopetti/Prosperi, den Castiglioni-Brüdern, Climati/Morra, oder sogar noch FACES OF DEATH, ihre Segmente sorgfältig aufeinander abstimmten, sprich, ihrem Publikum ein Wechselbad der Gefühle präsentierten, eine Dusche, die mal heiß, mal kalt auf es einprasselt, eher abscheuliche Sequenzen mit eher trashigen paarten, eine, in der die aufgestaute Spannung sich löst, mit einer, in der sich sämtliche Muskeln spannen, und der Schnitt demnach (mehr oder minder) wohlüberlegt, kunstvoll, kontrapunktisch ausfallen musste, dominiert in DEATH SCENES ein grobschlächtiges Aneinanderflicken, das einen roten Faden, eine ästhetische Grundlinie weitgehend vermissen lässt. (Genau die Monotonie, die TRACES OF DEATH & Co. zusätzlich zu dem ihnen immanenten Inhumanismus für mich nahezu unkonsumierbar machen.)

5. Auch die spezifische Produktionsweise des Films setzt konsequent fort, was sich im Mondo-Kino bereits seit den 70ern, spätestens ab den 80ern abzeichnet: Während Jacopetti/Prosperi, Climati/Morra und die Castiglions noch selbst die Welt bereisten, greift schon FACES OF DEATH in großem Stil auf Archivfunde zurück. Für DEATH SCENES hat sich Regisseur Bougas letztlich überhaupt nicht aus den eigenen vier Wänden hinausbewegen müssen – (es sei denn, um die paar Aufnahmen von LaVey vor einer nichtssagenden Mauer einzufangen). Der Trend ist klar: Für FACES OF GORE oder TRACES OF DEATH sucht man dann gleich per Annonce in einschlägigen Magazinen nach möglichst subversivem Bildmaterial, und die Produktionskosten erschöpfen sich im Preis für einen zweiten Video-Recorder zum Überspielen. (Oder, im Falle des vorliegenden Films, in der Gage für LaVey.)

6. Paradigmatisch ist nicht zuletzt, dass DEATH SCENES unter gleich mehreren unterschiedlichen Titeln firmiert. Offenbar wurde der Film sowohl als DEATH SCENES wie auch in Gestalt seines eigenen Sequels als DEATH SCENES 2 veröffentlicht. Außerdem hat man ihn in FACES OF DEATH VII umgetauft, und, um dem Kopfkratzen eine Krone aufzusetzen, fast vollständig in GESICHTER DES TODES VII integriert. (Die Konfusion geht tatsächlich so weit, dass die mir vorliegende Fassung des Films erhebliche Differenzen zu den beiden einzigen halbwegs wissenschaftlichen Berichten aufweist, die ich über ihn gefunden habe: Sowohl Mikita Brottman in ihrem Band „Offensive Films“ wie auch David Kerekes und David Slater in ihrem Grundlagenwerk „Killing for Culture“ sprechen davon, der Film sei untermalt von einer Orgelmusik, die klingen würde wie auf der Kirmes, und aus der Feder LaVeys höchstpersönlich stammen solle. In meiner Fassung ist ein gewisser Richard Gibson als Musikant aufgeführt, und was ich höre, das ist zudem keine Zirkusorgel, sondern, unter anderem, Versatzstücke aus Bobby Beausoleils Soundtrack für Kenneth Angers LUCIFER RISING sowie einige Takte aus dem GNOMUS von Modest Mussorgsky.)

Was ich indes nach einer kurzen Recherche mit Sicherheit weiß: Ein Großteil der in DEATH SCENES verwendeten Photographien stammt aus dem Privatfundus eines „Homicide Detectives“ aus Los Angeles, der die Aufnahmen von den 20ern bis in die 50ern gehortet hat, und nach dessen Tod sie durch den Verkauf der Erben irgendwie in die Hände Nick Bougas‘ gelangt sein sollen – so zumindest lautet die Geschichte in dem seriös wirkenden Bildband DEATH SCENES: A HOMICIDE DETECTIVE’S SCRAPBOOK, der 1996 bei Feral House erscheint, und uns eine repräsentative Auswahl der fraglichen Bilder vor Augen führt. Unser namenloser Mordermittler hat seine Devotionaliensammlung indes nicht nur mit kurzen Notizen und Anmerkungen versehen, (die, wie meine Stichproben zeigen, durchaus mit dem übereinstimmen, was LaVey in der Filmfassung an Kontext liefert), sondern in bester Mondo-Manier auch manch andere Deviation in den Kanon aufgenommen: Es dominieren zwar gewaltsame Tode und Tote, doch ebenso kann man im Bildband DEATH SCENES Hermaphroditen, von schwerer Krankheit gezeichnete Menschen oder auch einmal vollkommen random süße Kätzchen in dem Bildgewitter aus Abscheulichkeiten begegnen. Eine Art Mondo-Film als Photoband, indeed!

Wozu es keine großangelegte Recherche bedarf, sondern einfach nur einen starken Magen: Nach DEATH SCENES hat Nick Bougas 1992 respektive 1993 noch zwei Sequels vorgelegt, die auf die Namen DEATH SCENES 2: MANSON sowie DEATH SCENES 3: UNCENSORED SCENES OF DEATH hören. Ersteres ist eine diachron angelegte Sammlung von vor allem Bewegtbildern, die uns mitnehmen auf eine Achterbahnfahrt medial vermittelter Gräuel des 20. Jahrhunderts, beginnend mit den Schützengräben des Ersten Weltkriegs und endend mit Anfang der 90er aktuellen Aufnahmen von Rassenunruhen, Massenpaniken in Fußballstadion und Drogenbandengefechten. Die eintönige Abfolge möglichst expliziter Einblicke in wohlbehütete Tabus wird nur noch von DEATH SCENES 3 übertroffen, ein Machwerk, das nun wirklich keinen Steinwurf mehr von TRACES OF DEATH trennt: Nicht nur verbrät dieses wie ein Kuriositätenarchiv aufgezogene Videotape einen halbstündigen Autopsie-Lehrfilm der U.S. Army aus den 60ern sowie Szenen aus Driver-Education-Filmen, sondern hat mich allerspätestens in seinem Segment „Abberation of Birth“, in dem einem, unterlegt mit furchtbarer Musik, Photos und Videoaufnahmen von missgebildeten Säuglingen in Endlosschleife vorgesetzt werden, als Rezipient verloren. Den von LaVey in Teil Eins versprochenen „death with dignity“ da irgendwo zu entdecken, ist für mich, ehrlich gesagt, ein Ding der Unmöglichkeit.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Originaltitel: Jessica Forever

Produktionsland: Frankreich 2018

Regie: Caroline Poggi, Jonathan Vinel

Darsteller: Aomi Muyock, Sebastian Urzendowsky, Augustin Raguenet, Maya Coline, Lukas Ionesco
Für mich ist das diesjährige Braunschweiger Filmfestival eine eher unbefriedigende Angelegenheit gewesen. Mag sein, dass ich einfach konsequent in Filme geriet, die nicht für mich gemacht worden sind, aber eine derart hohe Dichte an Werken, von denen mir nichts bleiben wird als die Irritation darüber, weshalb man sie überhaupt auf solch ein Festival einlädt, ist mir wirklich selten untergekommen.

Leonardo Guerra Seràgnolis LIKEMEBACK aus dem Jahre 2018 möchte beispielweise, laut Selbstverständnis, einen kritischen Blick auf das Social-Media-Verhalten zeitgenössischer Teenager werfen, weshalb der Film seine drei Protagonistinnen auf einen Kroatien-Segeltörn begleitet, wo die Damen ihren College-Abschluss feiern, indem sie den ganzen Tag an Deck ihrer Yacht herumliegen, sich auf Instagram und Facebook selbstinszenieren, und zwischendurch mal an Land gehen, um sich zu betrinken, ihre Jungfernschaft zu verlieren und in Zickenkriege verwickelt zu werden. Leider schafft es LIKEMEBACK, trotz seines hauchdünnen Plots, nicht nur erfolgreich, sein eigentliches Thema komplett zu verfehlen, – (die Art und Weise, wie virtuelle Phänomene hier beäugt werden, kommt kaum über ein, zwei kulturpessimistische Gemeinplätze hinaus) -, sondern ergeht sich auch noch in an dieser Stelle völlig deplatziertem D’Amato-Voyeurismus: Weshalb zumindest eine der jungen Frauen andauernd ihre blanken Brüste in die Handkamera halten muss, erschließt sich mir jenseits der Privatgelüste von Signore Seràgnoli nun wirklich beim besten Willen nicht. Sicher, ein substanzloses Machwerk wie LIKEMEBACK ist der Debut-Film der aufstrebenden Autodidaktin Mariko Minoguchi namens MEIN ENDE. DEIN ANFANG (2019) sicher nicht, doch frage ich mich dennoch, ob all die Menschen, die mir vorschwärmten, was für ein hochkomplexer Streifen das doch sei, und wie intelligent in ihm mehrere Zeitebenen und dann auch noch Referenzen an die Quantentheorie verwoben werden würden, nicht doch vielleicht versehentlich in einem andern Werk gesessen haben. Dieses Liebesdrama mit leichten Gangster-Allüren hat für meine Begriffe nämlich exakt ein Alleinstellungsmerkmal darin, dass die Geschichte non-linear erzählt wird – ein Stilmittel, von dem ich eigentlich dachte, allerallerspätestens sei das mit PULP FICTION in den Mainstream eingesickert. Ansonsten verharrt MEIN ENDE. DEIN ANFANG vollkommen in überaus konventionellen Bahnen, die ein ganzer Geröllhaufen an Zufälle auf Story-Ebene kein bisschen erträglicher machen: Vielleicht muss man aber auch durch das Fegefeuer des aktuellen deutschsprachigen Kommerzkinos gegangen sein, um sich froh um jeden halbwegs mutigen Strohhalm zu zeigen, der einem hingehalten wird. Konventionell indes ist wiederum gar kein Ausdruck, um den US-amerikanischen Survival-Horror BODY AT BRIGHTON ROCK (2018) zu beschreiben. Im Ernst: Wieso werden solche Filme, die sich ausnahmslos aus verknöcherten Genre-Klischees zusammensetzen, überhaupt noch gedreht? Eine junge Frau verirrt sich in den Wäldern, muss eine Nacht unterm Sternenhimmel verbringen, und bekommt es mit Panikattacken, einem hungrigen Braunbären und Gespenstererscheinungen zu tun, die das Ganze auf den letzten Metern wie die langatmigste TWILIGHT-ZONE-Episode aller Zeiten wirken lassen – und wenn ich nicht vorher schon eine Allergie gegen inflationär eingesetzte jump und false scares gehabt hätte, hätte ich sie mir sicherlich mit diesem uninspirierten Streifen eingehandelt.

Nicht mal Volker Schlöndorff, von dem man anlässlich der Mario-Adorf-Retrospektive zwei Filme zur Aufführung brachte, kann da noch etwas retten. Auch wenn ich nun wahrscheinlich meine letzten Reste Reputation verspiele: Meine Erstbegegnung sowohl mit DIE VERLROENE EHRE DER KATHARINA BLUM sowie DIE BLECHTROMMEL verlief nicht wie erhofft, denn immerhin zählen beide doch gemeinhin zum Nonplusultra des bundesdeutschen Arthouse der 70er Jahre. Ihr könnt mich tagtäglich mit Werner Herzog, Wim Wenders, Peter Fleischmann, Rainer Werner Fassbinder füttern, und ich werde trotzdem nicht satt werden, aber was die Filmgeschichte an einem drögen, psychologiehörigen Realisten wie Schlöndorff findet, wird sich mir wohl nie erschließen – zumal dann, wenn er, wie in der erwähnten Grass-Verfilmung, versucht, halbseiden einen auf Fellini oder Jodorowsky zu machen. Mein Festivalhighlight jedenfalls ist Roland Klicks DEADLOCK gewesen: Puh, den endlich mal auf der großen Leinwand, da schmeckt man richtig den Staub und man fühlt richtig, wie einem Blut und Schlamm die Poren verkrusten. Allerdings stammt der Film aus dem Jahre 1971. Kurzum: Gab’s denn überhaupt keinen aktuellen Film, mit dem das Festival mich irgendwie einfangen konnte?

Doch, gab es, und witzigerweise ist es einer, der den meisten übrigen Besucher scheinbar grob auf die Füße trampelte. Schuld daran dürfte sein Trailer sein. Der lässt JESSICA FOREVER, den ersten Langfilm des seit Jahren im court-métrage-Sektor operierenden Regie-Duos Caroline Poggi und Jonathan Vinel, nämlich ausschauen wie ein hyperaktives Endzeit-Spektakel, in dem Jugendliche unter der Führung einer Steampunk-Amazone gegen ganze Armadas von Drohnen in die Schlacht ziehen. Tatsächlich eröffnet der Film mit einer prallen Actionszene – ein Jüngling muss von Titelheldin Jessica und den wie um Aposteln um sie gescharten jungen Männern vor besagten wild um sich schießenden CGI-Drohnen gerettet werden –, jedoch wird es für die kommenden neunzig Minuten dann auch die einzige nennenswerte bleiben: Die Stimmung von JESSICA FOREVER ist elegisch, melancholisch; erzählt wird in Schneckentempo, und oft genug manchmal gar nicht, wenn die streng komponierten Bilder sich einfach auf den Alltag der Dissidenten einschießen, die in leerstehenden Villen campieren, sich gegenseitig mit Kuriositäten beschenken, zusammen kochen und speisen, an Swimming-Pools schlummern, zu brachialem Drone-Metal tanzen; die Darsteller sind allesamt in die Robert-Bresson-Schule des emotionslosen Schauspiels gegangen, und bestreiten die wahlweise mäandernde oder schlicht nicht vorhandene Handlung im Lethargie-Modus.

Kein Wunder, dass ein Großteil des Publikums den Film zum Sterben langweilig fand, - was umso verständlicher ist, wenn einem der Trailer eine Karacho-Wundertüte an Schießereien, Explosionen und Weltuntergangsszenarien verspricht. Ebenso kein Wunder, dass sich die Kritikergeister daran scheiden, um was es in JESSICA FOREVER nun überhaupt gehen soll. Die Interpretation, dss Poggi und Vinel den Niedergang klassischer testosterongeschwängerter Männlichkeitsideale zelebrieren würden, kann ich jedenfalls genauso nur in zarten Ansätzen nachvollziehen wie die Konsum- und Zivilisationskritik, die manche in die Fragmente einer Story hineininterpretieren wollen. Dazu ist der Film einfach zu offen, zu unfokussiert, zu (im besten Sinne) sinnlos. Weshalb leben Jessica und ihre Jünger in einer Welt scheinbar ohne Erwachsenen? Wer steuert die Drohnen, die schon mal für eine komplette Stunde aus der Handlung verschwinden, nur um dann umso garstiger unsere Helden zu attackieren? Wo sind die Besitzer der Luxusanwesen hin verschwunden, in denen unsere Nomaden immer mal wieder ihre Zelte aufschlagen? Wieso sind die Supermärkte manchmal übervoll und dann wieder menschenleer? Wieso gibt es andere Jugendliche, die offenbar unbekümmert ein hedonistisches Dasein führen, während unsere Helden demgegenüber wie wilde Tiere außerhalb der Gesellschaft existieren müssen? Der Turm an Fragen wird noch um den einen oder anderen Ziegelstein komplettiert, wenn sich immer mal wieder unmotiviert Gegenstände wie von Geisterhand bewegen, wenn einer der jungen Männer zuweilen Besuch von seiner Schwester erhält, die er, wie wir per Rückblende erfahren, eigenhändig getötet hat, oder wenn sich ein anderer Jüngling in ein Mädchen von außerhalb der Gruppe verliebt, die ihn in der verlassenen Schule, wo sie ihr erstes Date abhalten wollen, mittels eines eigenartigen Ausdruckstanzes becirct. Bei aller mangelnden inhärenten Logik berühren viele dieser Szenen mich aber doch ungemein, transportieren Gefühle, die von keiner geradlinigen Narration aufgefangen und erdrückt werden können, stehen wie kleine Vignetten für sich, so, als wolle JESSICA FOREVER mehr eine Abfolge von hermetischen Clips sein als eine durchgängige Erzähllinie bedienen.

Dass ich über die mitunter äußerst trashigen (und weitgehend unnötigen) CGI-Effekte nicht so meckere wie sie es eigentlich verdient haben, liegt an dem Soundtrack, der tatsächlich mit zum Abwechslungsreichsten und dennoch Harmonischsten gehört, was ich dieses Jahr in einem Spielfilm hören durfte: Von Henry Purcell und Heinrich Schütz über warme, hoffnungsvolle Elektronik bis hin zu ekstatischem Black-Metal-Gekreisch fahren Poggi und Vinel so ziemlich alles auf, was sich auch in meiner privaten Playliste finden lassen könnte. Auch die Wiederbegegnung mit Aomi Muyock in ihrer zweiten Hauptrolle nach Gaspar Noés LOVE, (dem im Abspann ein Dankesgruß ausgesprochen wird), hat mich genauso gefreut wie die Tatsache, dass dieser Film – (im Gegensatz zu allen andern oben erwähnten) – sich ein Sprödigkeit und Unangepasstheit auf die Fahne geschrieben hat, die zumindest mir selten einmal wirklich prätentiös vorkam, sondern, sofern das Sinn ergibt, sich in ihrer Heterogenität durchweg organisch anfühlen, und vor allem wie ein folgenschwerer Riss im Gefüge konventioneller Kino-Codes, der dazu führt, dass diese endlich einmal ins Leere laufen und ersaufen.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Originaltitel: Casa de sudor y lágrimas

Produktionsland: Spanien 2018

Regie: Sonia Escolano

Darsteller: Eudald Font, Haydée Lysander, Alzira Gómez, Pablo Suárez , Coline Charvin, Paula Mateu, Padi Padilla
Für mich ist das diesjährige Braunschweiger Filmfestival eine eher unbefriedigende Angelegenheit gewesen. Mag sein, dass ich einfach konsequent in Filme geriet, die nicht für mich gemacht worden sind, aber eine derart hohe Dichte an Werken, von denen mir nichts bleiben wird als die Irritation darüber, weshalb man sie überhaupt auf solch ein Festival einlädt, ist mir wirklich selten untergekommen.

Mit THE THIRD WIFE bepsielweise mag die vietnamesische Regisseurin Ash Mayfair eine durchaus ehrenwerte Agenda verfolgt haben – erzählt wird nämlich die Geschichte eines vierzehnjährigen Mädchens, das im Vietnam des 19. Jahrhunderts zur titelgebenden dritten Ehefrau eines reichen Grundbesitzers avanciert, da es dessen vorherigen Gattinnen es bislang nicht fertigbrachten, ihm einen männlichen Nachkommen zu schenken, worauf unsere Heldin dann auch tatsächlich schwanger wird, sich jedoch natürlich zeitgleich in einen Jüngling verguckt, der gemäß der rigiden Standes- und Moralregeln des Patriarchalismus unerreichbar für sie bleiben muss –, jedwede gutgemeinten Tendenzen werden indes durch einen außerordentlich krampfigen, verkopften, letztlich belanglosen Inszenierungsstil im Keim erstickt, bei dem ich förmlich das Alphabet des Mainstream-Arthouse-Kinos als Folie im Hintergrund wehen sehe: Ja nicht zu viele Dialoge, dafür bedeutungsvolles Schweigen; bloß keine heftigen Schnitte, dafür endlose Hochglanzlandschaftsaufnahmen; bloß keine ausgefeilte Dramaturgie, dafür zahlreiche Ellipsen, die die hauchdünne Geschichte kryptischer wirken lassen als sie tatsächlich ist. Ähnlich erging es mir mit THE BEST OF DORIEN B. der belgischen Regisseurin Anke Blondé, der immerhin den Publikumspreis des Festivals abstaubte: Im Prinzip, wenn ich retrospektiv und nüchtern über den Film nachdenke, ist er mir gar nicht unsympathisch – (zumal die auch während des Filmfests persönlich anwesende Hauptdarstellerin Kim Snauwaert den Film quasi im Alleingang regelrecht brillant auf ihren Schulten trägt) -, unterm Strich lautet mein Urteil dann aber doch: Ein besserer ZDF-Fernsehfilm um eine Tierärztin Mitte Dreißig, die sich gegen Schulstress der Kinder, die scheiternde Ehe ihrer Eltern, die Affären ihres Mannes sowie eine mutmaßlich bösartige Krebsdiagnose mit viel Charme zur Wehr setzt, dabei filmisch unglaublich uninteressant gelöst, und streckenweise wie ein Schlüssellochblick in die Privatleben von Menschen, deren Privatleben mich reichlich kaltlassen. Denjenigen Film, über den ich noch während des laufenden Festivals die meisten Hiobsbotschaften hörte, habe ich inzwischen in einer dornenreichen Heimkino-Session nachgeholt: Ein Neo-Giallo namens ABRAKDABRA von den umtriebigen Onetti-Brüdern aus Argentinien, die ich bereits in meiner Kritik zu ihrer Retro-Packung FRANCESCA gar nicht genug abkanzeln konnte, und die selbst in ihren besten Momenten (aka das TCM-Rip-Off WHAT THE WATERS LEFT BEHIND) höchstens durchschnittliche Genre-Ware ohne Ambitionen herunterkurbeln können. Da man meine Warnungen einmal mehr in den Wind schoss, konnte ich weit nach Mitternacht in lange Gesichter gucken: Das sei gar kein richtiger Film gewesen! Eine Frechheit, so etwas auf einem Filmfestival zu zeigen! Ein reines Amateur-Machwerk, das nicht mal den klassischen Giallo der 70er Jahre wirklich verstanden hat! Zu dem Zeitpunkt, als sich einige meiner Freunde und Freundinnen mit dem Hokuspokus-Mumpitz der Onettis herumschlugen, saß ich im Saal nebenan, um einen Film zu schauen, der nun ebenfalls beileibe kein Meisterwerk darstellt, jedoch immerhin interessant genug ausfiel, dass ich ihn nun doch mit ein paar Zeilen bedenken möchte…

Wesentlich nihilistischer kann man den Alltag einer christlich-fundamentalistischen Sekte wohl gar nicht erzählen als es die spanische Regisseurin Sonia Escolano in ihrem Solo-Spielfilm-Debut CASA DE SUDOR Y LÁGRIMAS von 2018 tut: Angeführt von einer furchtbaren Alten haust eine bunt gemischte Gruppe unterschiedlicher Geschlechter, Altersstufen und Ethnien in den kargen Zellen eines leerstehenden Gebäudes, und tut tagein tagaus nicht viel anderes als sich in zweifelhaften Meditationsübungen selbst zu veräußern, gemeinsam primitive Arbeiten zu verrichten, sich zum Abendmahl zu versammeln, oder Strafen für Vergehungen zu kassieren, die sich zumindest mir als außenstehendem Beobachter kaum einmal wirklich erschlossen haben: Einmal äußert eine junge Frau den Wunsch, schwanger zu werden, worauf die Sektenführerin sie mit Ohrfeigen traktiert; ein anderes Mal wird an jedes Gruppenmitglied je ein rohes Ei ausgeteilt, und diejenigen, denen es im Laufe des Tages zerbricht, müssen sich eigenhändig die Fußsohlen aufschlitzen; eine Dame gar steht im Verdacht, vom Teufel besessen zu sein, worauf sie einer derartigen Psychofolter unterzogen wird, dass sie sich irgendwann selbst die Kehle durchtrennt. Zwischendurch stiehlt sich eine weitere Frau zu den männlichen Gruppenmitgliedern in die Kammern, um sie vorm Schlafengehen manuell zu befriedigen, oder aber eine bestimmte Anzahl Auserwählter darf sich weiße Masken überstreifen, und mit einem vor dem Tempel parkenden PKW wer weiß wohin fahren.

Schon an meiner vagen Inhaltsangabe lässt sich ablesen: CASA DE SUDOR Y LÁGRIMAS ist ein Film, der bewusst mit mehr Fragen um sich wirft als dass er Antworten parat hätte. Weder erfahren wir irgendetwas über die Biographien der einzelnen, sowieso kaum als Individuen auftretenden Gläubigen, noch darüber, wie sie zu der schrecklichen Führerin und ihrer kruden Auslegung des Christentums gefunden haben. Da der Fokus allein auf dem Hauptquartier unserer Sekte liegt, erfahren wir freilich auch nichts über die Außenwelt, nichts über irgendwelche etwaigen gesellschaftlichen Hintergründe, nicht einmal, wohin die regelmäßigen PKW-Reisen nun eigentlich gehen. Selbstverständlich trägt das zum trost- und freudlosen Gesamteindruck des Films bei: Da die Handlung ausnahmslos in kargen, einzig von Kerzenschein notdürftig erhellten Räumen und Gängen angesiedelt ist, und da die Interaktion der Sektenmitglieder sich auf wenige Worte und Gesten beschränken, und da, nicht zuletzt, die Einbrüche von psychischem und physischem Leid über den monotonen Alltagsritualen wie ein Damoklesschwert schweben, kann ich mir durchaus vorstellen, dass die weit über hundert Minuten Tristesse für angreifbare Gemüter sowohl zu einer wahren Geduldsprobe wie auch zu einer depressiven Grenzerfahrung ausarten könnten. In der konsequenten Weise jedenfalls, wie Escolano ihren reduktionistischen Minimalismus zelebriert, wirkt ihr Film über weite Strecken wie eine Parade sehr unbequemer Exerzitien: Einerseits ist man versucht, sich dem eintönig-einschläferndem Flow einfach hinzugeben, andererseits ist das, was man bei diesem Flow so alles sieht, hört und fühlt, derart unangenehm, dass man andauernd wieder auf Distanz zu den schmucklosen Bildern gestoßen wird.

Was CASA DE SUDOR Y LÁGRIMAS letztlich dann doch so halbwegs das Genick bricht, das ist, dass Frau Escolano im letzten Drittel scheinbar einfällt, doch eine Geschichte erzählen zu wollen: Angestachelt von der Vermutung, der Leibhaftige würde eins ihrer Schäfchen nach dem andern befallen, sendet die namenlose Alte um Hilfe nach außerhalb, worauf ein hübscher junger Mann der Gemeinde einen Besuch erstattet – und sich ernsthaft entsetzt über die sadistischen Methoden zeigt, mit der die Sektenführerin für unbedingten Gehorsam sorgt. Zwischen der Greisin und dem Jüngling entbrennt spätestens beim Abendbrot ein verbaler Machtkampf, den der Fremde kurz davor zu gewinnen steht. Dann aber wendet sich die Gläubigengemeinschaft gegen ihn: Nachts zerrt man ihn von der Pritsche, um ihn stilecht ans Kreuz zu schlagen. Eigentlich überflüssig, zu erwähnen, dass der Fremde optisch aussieht wie das Klischeebild, das sich die christliche Kunst seit dem Mittelalter von Jesus macht, und das Gleichnis, das der Film uns damit mit dem Holzhammer um die Ohren hauen möchte, muss ich sicherlich auch niemandem großartig erklären. Was wiederum schade ist, denn die meisten Trümpfe, die CASA DE SUDOR Y LÁGRIMAS für mich besitzt, verspielt der Film im Schlussakt auf die plumpe Art und Weise, wie seine Kritik an Autoritätshörigkeit und fanatischer Ideologie bzw Theologie ins allzu Konkrete und allzu Banale kippt. Wer jedenfalls eine wirklich bewegende und dabei auch originelle Jesus-Allegorie sehen möchte, der sollte sich weiterhin an Robert Bressons AU HASARD BALTHAZAR, oder Carl Theodor Dreyers LA PASSION DE JEANNE D’ARC, oder Pier Paolo Pasolinis TEOREMA wenden, um nur einmal drei Werke zu nennen, die CASA DE SUDOR Y LÁGRIMAS in dieser Hinsicht locker in die Tasche stecken, (und auf die der Film, zumindest meiner Meinung nach, ob nun bewusst oder unbewusst mehrfach anspielt.)

Letztendlich bleibt also dann doch ein schaler Nachgeschmack, der den zunächst kompromisslos auftretenden Film rückblickend in ziemlich triviale Gefilde herabzieht – und dass es nach einer Gewaltorgie, die statisch und asketisch daherkommt wie der gesamte Restfilm, nicht einmal eine erhellende Auflösung des Anti-Spektakels gibt, führt nun auch nicht dazu, dass ich in diesem Streifen mehr als ein spannendes Experiment sehe, das indes immerhin lange im Gedächtnis bleibt, denn zumindest ich kann mich nun, eineinhalb Wochen später, noch nur zu genau an die blassen Gesichter im Kerzenschimmer, an die von Glasscherben zerfetzten Fußsohlen, und die Fratze dieser unerträglichen Alten erinnern, wenn sie minutenlang wie in Trance ihren sinnbefreiten Sermon herausröchelt.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Originaltitel: Doggiewoggiez! Poochiewoochiez!

Produktionsland: 2012

Regie: Everything Is Terrible!

Darsteller: Hunderttausend Hunde
„A surrealist remake of Alejandro Jodorowsky's 1973 film, "The Holy Mountain," consisting entirely of borrowed clips from countless dog films”, heißt es auf der IMDB. Ich muss diesen Film sehen!, summt es analog in meinem Kopf.

Nein, im Ernst: Klingt diese Idee nicht bezaubernd? Eine selbsternanntes Meta-Video-Kollektiv aus Chicago namens EVERYTHING IS TERRIBLE!, das sich zur Aufgabe gemacht hat, seltsame VHS-Tapes zu sammeln und aus dem Material noch seltsamere eigene Clips zu kompilieren, beschließt, Alejandro Jodorowskys Kultklassiker allein anhand von Found-Footage-Hunde-Aufnahmen nachzuerzählen – oder, in den Worten der Verantwortlichen selbst: Etwas, das zumindest in bestimmten Kreisen zur Hochkultur gerechnet wird (Jodorowskys Film) mit etwas, das auf den unteren Sprossen kultureller Anerkennung angesiedelt ist (Hunde-Videos) zu verbinden. Im digitalen Zeitalter kann nicht nur alles durch alles ausgedrückt, sondern ebenso alles durch alles ersetzt werden, könnte man zu philosophieren anfangen, und gleich mal den Arm ausstrecken nach dem Regal mit den einschlägigen Theoriewälzern zur Post-Post-Post-Moderne. Aber ist diese knapp einstündige Ansammlung von bellenden, schnüffelnden, Saltos schlagenden, massiert werdenden, sprechenden, tanzenden Vierbeinern wirklich so tiefgründig und vor allem unterhaltsam, wie ich mir das angesichts der IMDB-Kurzbeschreibung vorstelle?

In einem Satz: Mir ist in diesem Jahr noch kein anstrengenderer "Film" untergekommen als DOGGIEWOGGIEZ! POOCHIEWOOCHIEZ! Sicher, das Jahr ist noch jung, aber irgendwie fühlt es sich nicht so an, als ob da noch viel Luft nach oben ist. Zunächst: Die Behauptung, THE HOLY MOUNTAIN zu remaken, kann man schnell ins Reich der Mythen und Mären verbannen. Wenn überhaupt, dann hangelt sich vorliegender „Film“ ganz grob an der rudimentären Struktur des Vorbilds entlang. Größtenteils wird sich darauf beschränkt, ab und zu Soundfetzen aus dem Original reinzuschneiden, oder bestimmte Motive aufzugreifen und fortzuführen: Wenn bei Jodrowosky alchemistische Experimente dazu führen, dass sich (seelischer) Kot in (seelisches) Gold verwandelt, behandelt DOOGIEWOGGIEZ! POOCHIEWOOCHIEZ! die Ausscheidungen seiner hündischen Protagonisten; wenn im Original die unterschiedlichen Planeten zugeordneten "reichsten Menschen des Universums" auftreten, von denen jeder ein anderes abstraktes Konzept verkörpert, sehen wir Hunde in Großaufnahmen, die wirken, als würden sie die fraglichen Zeilen aus Jodorowskys Drehbuch, in denen sich die jeweiligen Protagonisten vorstellen, nachsprechen; und wenn das Original im Finale endgültig auf eine Meta-Ebene springt, und Jodorowsky die Kamera auffordert, sie solle zurückzoomen, denn die Realität erwarte uns, dann zoomen auch die Verantwortlichen vorliegenden „Films“ in einem kruden digitalen Effekt aus mehreren Bildschirmen (und mehreren Hunden) heraus.

Damit enden die Gemeinsamkeiten zwischen HOLY MOUNTAIN und DOOGIEWOGGIEZ! POOCHIEWOOCHIEZ!, meiner Meinung nach, aber auch schon, und die restliche Zeit bringt das Werk damit zu, in wirklich atemlosen, mich gänzlich überforderndem Tempo trommelfeuergleich Hunde-Bilder aus der Hüfte zu schießen, dass ich bereits nach wenigen Minuten mit einer waschechten Seekrankheit bzw. Tierhaarallergie kämpfe. Es ist schlicht unglaublich, was die Macher alles an Material gesichtet haben müssen: TV-Werbung, Hollywood-Spielfilme mit schwatzenden Schäferhunden, irgendwelche bizarren Kinder-Shows, Bilder, die wirken wie aus Videospielen, Pro-Kastrations-Vorträge, Amateuraufnahmen, in denen Hunde vermeintliche witzige Stunts vollführen. Der Kopf mag einem schier platzen bei all den Doggen, Möpsen, Chihuahuas, Pudeln, Bernhardinern, die dank trashiger CGIs aus ihren Augen Laserstrahlen feuern, die in Schwarzweiß auf den Hinterläufen tänzeln, die abgehackte Arme aus Gräbern buddeln, die zusammen mit grusligen Kleinkindern sich auf Betten herumwälzen, die schamlos miteinander kopulieren – und das nicht nur, weil all diese audiovisuellen Artefakte, wie gesagt, mit einer Rasanz aufeinanderfolgen, dass zumindest ich hilflos daran scheitere, sie irgendwie zu verarbeiten, - (durchschnittlich alle 2 Sekunden ein Schnitt, habe ich irgendwo gelesen, meine Güte!) -, sondern auch, weil jedwede narrative, logische oder sonst wie geartete Kohärenz fehlt, die diesen Rausch aus Tönen und Bildern irgendwie zusammenhalten würde. Sicher, das ist stellenweise durchaus komisch, wie die Verantwortlichen es fertigbringen, im ursprünglichen Kontext bereits haarsträubende Szenen durch ihre Re-Validierung noch haarsträubender werden zu lassen. Aber wenn EVERYTHING IS TERRIBLE! dann auch noch anfangen, ihr Material nachträglich zu verfremden, und Hunde-Köpfe in halluzinogenen Tableaus anordnen oder sich um die eigene Achse kreiseln lassen, dann streiche ich endgültig die Segel, und komme nicht umhin, diesem Werk entweder höchste Genialität oder puren Wahnsinn zu bescheinigen - und, wer halbwegs mit meinem sonstigen Filmgeschmack vertraut ist, weiß, was das bedeuten muss...

Anders gesagt: Ich kann mir ein Screening dieser unvergesslichen Orgie sowohl auf einem Paracinema-Event in irgendeinem Hobbykeller enthusiastischer Trashologen und VHS-Kollektoren vorstellen als auch in einem Kunstwissenschaftlichen Seminar zur Genese surrealistischer Collagetechniken im Digitalzeitalter. Entscheidet selbst! Wuff! (Habe ich eigentlich schon mal erwähnt, dass ich prinzipiell eher der Katzen-Mensch bin?)
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Prisoner of Paradise

Produktionsland: USA 1980

Regie: Bob Chinn, Gail Palmer

Darsteller: John Holmes, Seka, Sue Carol, Jade Wong, Mai Lin, Elmo Lavino, Nikki Anderson, Gail Palmer
Letztes Wochenende habe ich mich einem Freund getroffen, der letztes Jahr nach China auswanderte, und nunmehr wegen viraler Gründe vorerst zurück in seine Schleswig-Holsteinische Heimat zurückgekehrt ist, (nur um festzustellen, dass er dort alsbald ebenfalls nicht mehr sicher sein wird vor den tödlichen Tröpfchen.) Viele erstaunliche Dinge über die asiatische Autokratie erfuhr ich, während ich ihn zu Fuß im strömenden Regen zu meiner liebsten Dorfkirche Braunschweigs führte: Dass in China selbst die Unihörsäle videoüberwacht sind, sodass theoretisch kein politisches Statement unerhört bleibt; dass es in China bereits zu Problemen führen kann, wenn man als Uni-Dozent betrunken an einen Baum auf dem Campus-Gelände uriniert, denn dann erhält die Schwiegermutter (!) den Hinweis, sie solle doch einmal besser auf ihren angeheirateten Sohn achtgeben; dass die Studenten in China mit der Luxuskarosse zur Uni fahren, während unweit des Campus der Bauer Li sich nicht mal den Auspuff des Schlittens leisten könnte, sprich, die Ideale des Maoismus offenbar längst eingepflegt wurden in die kapitalistische Logik von Leistungs- und Klassengesellschaft, die fortwährend produziert und konsumiert, hamsterradgerädert. Tja, und zwischendurch drückte er mir, der seit jeher großer Bewunderer der ILSA-Filme gewesen ist, sein Bedauern darüber aus, dass Dyanne Thorne Ende Januar verstorben ist, und dass er nun, solange er auf Zwangsurlaub in Schleswig sei, plane, sich ILSA – SHE-WOLF OF THE SS, ILSA – HAREM KEEPER OF THE OIL SHEIKS, ILSA – THE TIGRESS OF SIBERIA sowie Jess Francos Rip-Off GRETA noch einmal anzuschauen. Was wir uns an diesem Abend indes anschauten, das ist PRISONER OF PARADISE gewesen, ein 1980er Porno-Film mit John Holmes, an den ich mich selbst noch nicht herangetraut hatte, von dem ich aber vage wusste, dass er ebenfalls als Rip-Off der ILSA-Reihe bzw. als Hardcore-Variation des Naziploitation-Genres gehandelt wird, und, mal ehrlich: Schlimmer als HITLER’S HARLOT kann es doch wohl kaum werden, oder?

So viel sei gesagt: Von HITLER’S HARLOT, diesem 1973 von Hy Del verbrochenen Sexstreifen, der mir im Grunde nur deshalb in Erinnerung geblieben ist, weil er einzig und allein in zwei kahlen, notdürftig mit NS-Devotionalien ausgekleideten Räumlichkeiten spielt, trennen PRISONER OF PARADISE Welten – und das meine ich nicht nur darauf bezogen, dass letzterer Film auf einer malerischen Insel irgendwo im Indischen Ozean angesiedelt ist, sondern vor allem, was technisch-ästhetische Parameter und Production Values betrifft. Gewiss wachsen auch dem Film von Bob Chinn und Gail Palmer nicht die Geldbündel büschelweise aus den Ohren, doch merkt man dem Streifen immerhin in jeder Sekunde an, dass mit Kamera, Montage, Lichtsetzung usw. Menschen beauftragt gewesen sein müssen, die über mehr als rudimentäre Kenntnisse ihres Handwerks verfügten. Selbst drehbuchtechnisch kann man PRISONER OF PARADISE (zumal im Kontext eines als Hardcore-Porno vermarkteten Films) eine gewisse Innovation nicht absprechen, fühlt sich der Plot doch an, als würde GRAF ZAROFF auf ILSA treffen...

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Geschichtsstunde I: Nazi-Offiziere auf subtropischen Inseln verehren nicht nur Hitler, sondern nehmen ihn nur mit Mussolini im Doppelpack!

John Holmes heißt Joe Murray, Soldat der US-Marine im Zweiten Weltkrieg, den ein Schiffbruch zunächst dem Meer anvertraut hat, worauf diese es ihn an die Küste eines vermeintlich menschenleeren Eilands spült. Während Holmes sich noch am Strand erholt, zeigen uns exzessive Rückblenden nicht nur, dass sich Chinn/Palmer bei irgendeinem kostenintensiveren Kriegsspektakel für Archivaufnahmen sinkender Panzerkreuzer bedient haben, sondern auch, dass Joe, stationiert auf dem fernöstlichen Festland, vor seiner Abreise in heller Liebe zu einer jungen Dame entbrannt ist, die ihm jedoch eine Bombenexplosion raubte, - (wobei freilich die tragische Hintergrundgeschichte unseres Protagonisten letztlich lediglich dazu dient, eine durchaus geschmackvoll inszenierte, jedoch reichlich zeitschindende Sexszenen zwischen Holmes und einer gewissen Mai Lin durchzuexerzieren.) Zurück in der Gegenwart präsentiert sich PRISONER OF PARADISE bis etwa zur 25-Minuten-Marke als veritabler ROBINSON-CRUSOE-Verschnitt: In nicht uninteressanten Parallelmontage erleben wir, wie Joe die Insel erkundet, wie er im Bassin eines Wasserfalls badet, wie er Palmen erklettert, um Früchte zu pflücken. (Welcher Teufel die Verantwortlichen allerdings geritten hat, all dies mit einem schmierig-kitschigen Popsong mit Zeilen wie „When the dawn comes, morning shows“ zu unterlegen, will ich das überhaupt wissen?) Dass wir uns eigentlich in einem Film des horizontalen Gewerbes befinden, daran erinnert im Grunde einzig die Penetranz, mit der Holmes‘ Glied andauernd in den Kamerafokus rückt, - ein Gemächt, von dem ich mir vorstellen kann, dass es selbst im schlaffen Zustand noch bei dem einen oder anderen Betrachter gerechtfertigten Penisneid hervorzurufen imstande ist.

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Ich während der Sichtung dieses Streifens: Wann geht das denn endlich los mit den versprochenen "bizarren Sex-Riten auf dem sündigen Eiland"!?

Dafür, dass Joes Johannes sich aber alsbald mehr als einmal aufrichten darf, ist eine Beobachtung verantwortlich, die sein Besitzer eines Tages beim Durchstreifen der Wälder macht: Zwei blonde Frauen, die durch den Dschungel spazieren, als sei das ihr Vorgärtchen. Natürlich nimmt Joe, ohne sich zu erkennen zu geben, die Verfolgung auf, und stößt alsbald auf eine ärmliche Ansammlung von Hütten, die offenbar als Außenstützpunkt der Achsenmächte dient. Wie wir später erfahren werden, ist der Primärzweck des von einem prototypischen feisten Offizier namens Hans von Shlemel betriebenen Mini-Camps, störend in US-amerikanische Radiowellen einzugreifen. Da dies Hans und seinen beiden Gespielinnen, den ebenso prototypischen Sado-Lesben Greta (!) und Ilsa (!), freilich nicht ausreicht, um die Zeit totzuschlagen, haben sie sich einer Handvoll Frauen versichert, die ihnen als Folterobjekte zur Bekämpfung der Langeweile dienen. Ebenfalls zu erwähnen: Eine stumme Japanerin, die zwar Hans‘ Kommando untersteht, sich aus dessen Sauereien aber betont heraushält. Als Joe sich ins Camp pirscht, sind Hans, Ilsa, Greta gerade damit beschäftigt, eine ihrer Gefangenen zu molestieren: In einer äußerst bizarren Szene wird die schreiende und sich wehrende Frau auf Hans‘ Schreibtisch drapiert, und von unseren Nazi-Hündinnen exzessivem Cunnilingus unterzogen. Grund für diese „Folter“: Sie leistet Adolf Hitler nicht den Treueschwur! („Tell that you love the Fuehrer!“, schreien die züngelnden Lesbierinnen, während ihr Opfer halb schmerzerfüllt, halb wollüstig keucht.) Angesichts dieser orale Exzesse – (stilecht unterlegt mit Richard Wagner, dessen „Walkürenritt“ in der Folge derart repetitiv in Dauerschleife zu hören sein wird, dass ich mir beinahe schon den schwülen, mit Funk-Gitarren und Bläsersätzen angereicherten Progressive Rock zurückwünsche, der zu Beginn öfter mal die Tonspur erfüllte) – muss Joe natürlich zur Tat schreiten: Er zündet einen Haufen Stroh außerhalb der Hütte an, um Hans, Ilsa, Greta nach draußen zu locken, schlüpft sodann ins Innere, befreit die Holde, und flüchtet mit ihr in den Urwald. (Großartig ist, dass entweder Ilsa oder Greta, während Hans mit dem Löschen des Brandherds zugange ist, mit ihrer Handfeuerwaffe die züngelnden Flammen anvisiert, als wolle sie sie damit in Schach halten.) Weit kommt unser frischgebackenes Turtlepärchen indes nicht: Die Pistolenmündung der erwähnten Japanerin stoppt ihre Flucht, und komplementiert sie ins Lager zurück, wo sich Hans, Greta und Ilsa kaum einkriegen vor Freude, nun auch endlich ein Mannsbild in ihrem Serail willkommen heißen zu dürfen.

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Preisfrage: Was verbirgt sich in einer Kiste mit der Aufschrift "Verganglich"? Oder ist das eine Martin-Opitz-Referenz, die ich nicht begreife?

Tja, und das ist dann der Punkt, wo dieser doch recht rasant begonnene Streifen ins Stagnieren verfällt, bzw., sich daran erinnert, weshalb sein Publikum ihn primär aus den Videotheken mit nach Hause geholt hat. Noch immer ist das Ganze ästhetischer gefilmt als HITLER’S HARLOT, doch prinzipiell unterscheidet PRISONER OF PARADISE nicht allzu viel mehr von seinem hässlichen Geschwister, wenn der Film nunmehr für die letzte halbe Stunde nahezu ausschließlich in zwei Räumlichkeiten stattfindet – Hans‘ Büro sowie dem angrenzenden Gefangenentrakt –, und die in diesen sich entrollenden Ereignisse hauptsächlich aus harmlosem Gebalze sich zusammensetzen lässt, die nicht wesentlich subversiver dadurch werden, dass Hitler-Portraits und Hakenkreuz-Flaggen den Hintergrund säumen, oder sich Ilsa bzw. Greta, (ich kann die Beiden einfach nicht auseinanderhalten!), mit dem Knauf ihrer Pistole die Klitoris kitzeln, oder Joe auch schon mal mit vorgehaltener Waffe zum Geschlechtsakt gezwungen wird („Don’t you cum in me, you American swine!“) Natürlich dauert es nicht lange und Womanzier Holmes hat die Japanerin für sich gewonnen: Sie entledigt ihn seiner Ketten, hält Beischlaf mit ihm, (unterbrochen von zahllosen Rückblenden, die noch einmal Joes Bettspiele mit seiner verstorbenen Verlobten rekapitulieren), und sorgt dafür, dass er die Möglichkeit erhält, seine Peiniger zu überwältigen und die gefangenen Frauen freizubekommen, bevor das gesamte „Lager“, (die drei, vier Blockhütten), in hellen Flammen aufgehen. Eine nachgeschobene Texttafel lautet: „Dateline - March 2, 1946. South Pacific. Three years after the end of World War II, one American sailor, two army nurses and five children were rescued from a remote South Pacific island near the Philippines / ...no further details are available at this time.” Einmal abgesehen davon, dass ich von den erwähnten fünf Kindern im gesamten Film nicht eine Nasenspitze gesehen habe, und dass mich auch die Zeitangabe komplett verwirrt – (soll der Film im März 1946 gespielt haben, und damit zu einem Zeitpunkt, an dem der Zweite Weltkrieg bald ein Jahr vorbei gewesen ist?, oder soll März 1946 das Datum sein, an dem unsere Helden errettet worden sind, was aber ebenfalls nicht passen würde, denn dann hätte der Zweite Weltkrieg ja bereits 1943 geendet?) –, könnte man einen Film – sei er nun Hardcore oder nicht – kaum abrupter enden lassen. (Ein bisschen erinnert mich dieser plötzliche Klappenfall an ZOMBI HOLOCAUST, wo sich die komplexe Handlung ebenfalls in den letzten Sekunden einfach dadurch in Wohlgefallen auflöst, dass mehrere Menschen und Gebäude mit einer Feuersbrunst überzogen werden.)

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Geschichtsstunde II: Der Zweite Weltkrieg hat nicht im Frühjahr '45 geendet, sondern wahlweise erst '46 oder '43, oder wie soll ich diese Texttafel verstehen?

Fazit: PRISONER OF PARADISE ist tausendfach zahmer, konventioneller, geschmackvoller als ich mir ein Hardcore-Porno mit einem derartigen Plot jemals hätte träumen lassen. Gewaltspitzen finden sich keine; die Folterungen werden eher in den Dialogen als solche bezeichnet, sehen aber zu keinem Zeitpunkt wie welche aus; die Sexszenen sind im besten Fall generisch, und bestehen größtenteils aus ordinärem Vaginal- oder Oralverkehr; dass der NS-Anstrich bloßen Symbolwert besitzt, überrascht nicht, unterstreicht aber nur noch einmal, wie wenig sich vorliegender Streifen in die transgressive Fahrwasser vorwagt, in denen nicht alle, aber doch einige der italienischen Genrevertreter oder auch Don Edmonds ISLA plantschen. Genau diese ostentative Dezenz lässt mich jedoch fragen: Für welches Publikum soll denn PRISONER OF PARADISE ursprünglich gedacht gewesen sein? Der Naziplotation- bzw. WIP-Aficionado wird sich, stelle ich mir vor, angesichts der graphischen Zurückhaltung doch eher langweilen, während es für einen handelsüblichen HC-Film unterm Strich doch zu wenige Kopulationen gibt. Dass, trotz der unverkennbaren Ansätze hierfür, PRISONER OF PARADISE nicht als „seriöser“ Abenteuerfilm durchgeht, dürfte freilich ebenso auf der Hand liegen. Dennoch habe ich mich nicht schlecht unterhalten gefühlt - (spricht das nun für den Film oder gegen mich?) -, und es ist doch auch einmal schön, dadurch überrascht zu werden, dass etwas nicht derart außer Kontrolle gerät wie man es eigentlich erwartet hat. Manchmal ist es angenehm, nicht mit einer Pandemie konfrontiert zu werden, sondern festzustellen, dass es sich doch nur um eine kleine, vernachlässigbare Grippe handelt. PRISONER OF PARADISE ist genau eine solche niedliche Influenza: Ein paar Mal kräftig geniest, und ich werde auch diesen Film weitgehend vergessen haben.
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