Was vom Tage übrigblieb ...

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Moderator: jogiwan

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Maulwurf
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Der denkwürdige Fall des Mr. Poe (Scott Cooper, 2022) 7/10

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Netflix.jpg (1.28 KiB) 74 mal betrachtet

Ein eisiger Winter ist es, und eisig sind nicht nur die Temperaturen, sondern auch die Stimmung in der Offiziers-Akademie West Point im Jahre 1830. Es ist so dermaßen eisig, dass einer der Kadetten es nicht mehr aushält und sich an einem Baum erhängt. Oder wurde er aufgehängt? Der zur Untersuchung herbeigerufene frühere Polizist Augustus Landor findet schnell heraus, dass hier von Mord gesprochen werden muss, aber das ist noch nicht alles: Letzte Nacht wurde der Leichnam geschändet – Ihm wurde das Herz herausgeschnitten! Wahrscheinlich also zwei Fälle, der Mörder des Kadetten, und derjenige der das Herz stahl. Oder vielleicht doch nur ein einziger Fall? Ein anderer Kadett bietet sich als Hilfe an. Einer, der den Diebstahl eines Herzens von der lyrischen Seite genauso perfekt erläutern kann wie von der religiös-wahnhaften Seite. Sein Name: Edgar A. Poe.

Ein eisiger Winter ist es, und Eis und Schnee bilden die perfekte Szenerie für ein Verbrechen, das auf den ersten Blick so leidenschaftslos und überlegt wirkt. Und eine perfekte Szenerie für eine Welt, die sich auf Traditionen und formelhafte Masken beschränkt, und Gefühle weit von sich weist. Eine Welt, in der ein schwarzromantisches Mädchen mit Epilepsie sich mit einem Verehrer auf einem Friedhof trifft, weil nur dort, unter dem Ausschluss der (lebenden) Öffentlichkeit, über Gefühle gesprochen werden kann. Wie wohltuend ist da als Gegensatz das kerzenbeleuchtete Heim mit der trauten Familie. Oder die warmen und gemütlichen Gasthäuser, wo Alkohol und die Arme der Wirtin Trost schenken. Und Männer über dem Austausch von Gedanken und Trinksprüchen Freundschaften schließen können.

Wie die Freundschaft zwischen Landor und Poe. Auch wenn Poe oft zu viel redet, und auch wenn Landor den jungen Poe oft aus einer Position der Überheblichkeit betrachtet, so bahnt sich doch eine echte Freundschaft an, denn beide Männer haben Verluste erlitten, und beide versuchen ihre Leere und ihre sie manchmal überwältigenden Dämonen in exzessivem Alkoholgenuss zu ertränken. Vor allem aber sind beide Männer kulturell beflissen, lesen Bücher, und können sich darum über Poes dunkle Worttiraden dem Kern des Verbrechens allmählich nähern. Eine düstere Freundschaft als Gegenstück zur Distanziertheit der Gesellschaft …

Was also ist die Quintessenz aus einer eisigen Stimmung und einer düsteren Freundschaft? Richtig, ein ruhig und stringent erzählter Who-Dunnit-Krimi, der seine Überraschungen und seine Twists nicht mit Knalleffekten und Jump Scares ankündigt, sondern wie ein langer und ruhiger Fluss den Schrecken nur ganz allmählich aufbaut, um ihn erst zum Schluss explodieren zu lassen. Dann, wenn man denkt dass nichts mehr kommt. Bis dahin ist DER DENKWÜRDIGE FALL DES MR. POE an der ein oder anderen Stelle vielleicht ein klein wenig zu ruhig, aber Regisseur Scott Cooper schafft es ohne Probleme, eine außerordentliche und stimmige Atmosphäre zu erschaffen, in die der Zuschauer mühelos und bis über beide Ohren eintauchen kann. Genauso wie er ebenfalls mühelos alle Fäden zu einem befriedigenden Ende zusammenknüpfen kann, und auch wenn dies im Lauf des Films vielleicht nicht immer so erscheinen mag, so wird am Ende tatsächlich eine runde Geschichte erzählt.

Vor allem die Schauspieler sind es, denen diese Stimmigkeit in hohem Maße anzulasten sind. Christian Bale als Landor ist ruhig, ist völlig alleine, ist jemand, den ein Mahlstrom aus Gefühlen verzehrt. Landors Frau starb vor einigen Jahren, und zudem ist vor kurzem seine Tochter spurlos verschwunden. In seinem Herzen ist dieser Mann unglaublich einsam, und Bale gibt dieser Einsamkeit ein zutiefst verstörendes Gesicht.
Harry Melling spielt Edgar Allen Poe. Harry Melling IST Edgar Allen Poe. Ein unglaubliches Talent dieser Mann, der den jungen und von schwarzen Fantasien besessenen Mann mit unbeschreiblich viel Leben ausstattet. Dass Harry Melling in den HARRY POTTER-Filmen der dicke dumme depperte Dudley Dursley war, das ist … nicht zu glauben.
Auch die Nebenrollen sind exquisit besetzt. Allen voran Toby Jones als Arzt und Gillian Anderson als Mutter der Familie Marquis können mit kleinen Blicken und Gesten wunderbar abgründig sein, Charlotte Gainsbourg kann in einer kleinen Rolle kleine warme Farbtupfer setzen, und irgendwie macht es da fast gar nichts mehr, dass die jungschen Kadetten der üblen Bande alle ein wenig blass bleiben. Warum auch nicht, schließlich ist es ein eisiger Winter in einer eisigen Gesellschaft. Nur der Film, der Film ist nicht eisig. Der Film ist mit Liebe zum Detail und Hingabe zum Geschichtenerzählen spannend und wunderschön geworden. Ruhig, aber nicht einschläfernd. Spannend, aber nicht übertrieben. Wie ein Fluss im Winter, unter dessen zugefrorener und unbeweglich erscheinender Oberfläche ein Universum von Abgründen und Höhepunkten, von Räubern und edlen Menschen zu finden ist. Genaueres Hinsehen lohnt sich hier auf jeden Fall …
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Maulwurf
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Beitrag von Maulwurf »

Täter gesucht (Carl Heinz Wolff, 1931) 7/10

Irgendwo in den Tiefen des Internets begraben.jpg
Irgendwo in den Tiefen des Internets begraben.jpg (7.4 KiB) 57 mal betrachtet

Der Diener Dorner wird dabei erwischt, wie er sich am Kassenschrank des Herrn Konsul Lychner bedient. Lychners Tochter Vera gibt Dorner die Chance mit einem blauen Auge aus der Sache heraus zu kommen, wenn das Geld bis 10 Uhr abends wieder da ist. Dorner hat das Geld aber seiner Geliebten Lilly gegeben, und die wiederum hat es nicht nur für schöne Kleider rausgeschmissen, sondern auch, um ihrem steckbrieflich gesuchten Ehemann die Flucht nach Amerika zu ermöglichen. Und weil Lilly eine ganz Durchtriebene ist, schafft sie es sogar noch, Dorner den Ausweis abzuluchsen und das Bild ihres Mannes dort einzukleben.
Szenenwechsel: Vera ist schwer verliebt in den Herausgeber der Zeitung Tribunal, Dr. Gregor, der vehement gegen den Indizienbeweis als Grundlage der Todesstrafe wettert, und sich damit viele Feinde macht. Als der eher konservative Konsul Lychner Dr. Gregor kennenlernt, ist er sehr angetan von dessen Theorien und ist bereit, diesem die Hand seiner Tochter zu geben. Allerdings sitzt im Obergeschoss des Hauses gerade ohne Wissen anderer ein sturzbetrunkener Dorner, der die Kleidung Lychners angezogen hat, und sich jetzt mit dessen Pistole erschießt. Mitten ins Gesicht, von dem nichts mehr übrig ist. Als Lychner in seiner Panik Hilfe holen will wird er von einem Auto angefahren und verliert das Bewusstsein. Und Dr. Gregor – Wird dringend der Tat verdächtigt. Kommissar Wittenhagen mag ein guter Polizist sein, aber seine Fantasie reicht nur bis zur nächsten Straßenecke, und an seiner Theorie, dass Dr. Gregor den Konsul Lychner ermordet hat, lässt er nicht rütteln. Denn Lychner bleibt verschwunden, muss also der Tote im Obergeschoss sein, und Dr. Gregors Lügenmärchen bleiben unglaubwürdig …

Das klingt jetzt alles ganz furchtbar kompliziert, ist es aber nicht. In gerade mal 68 Minuten schafft Regisseur Carl Heinz Wolff es völlig mühelos, eine Liebesgeschichte aufzubauen, einen Krimi abzuspulen, so ganz nebenbei noch ein Gerichtsdrama aufzuführen, dabei niemals die Handlung aus dem Blickfeld zu verlieren, und als Grundlage des Showdowns ein wuchtiges Statement gegen den Indizienbeweis als Grundlage eines Todesurteils zu schmettern. Und auch wenn das Ende ein wenig arg generisch daherkommt und sicher keine große Überraschung darstellt, so ist TÄTER GESUCHT tatsächlich über weite Strecken ausgesprochen spannend geraten. Ein Mann, der unschuldig in die Mühlen der Justiz gerät und seine Unschuld nicht beweisen kann, während der Zuschauer genau weiß dass der Mann unschuldig ist, das ist immer wieder ein erstklassiges Sujet. So auch hier, wenn wir dem Kommissar von Indiz zu Indiz folgen, und dessen Theorie als Schlussfolgerung aus diesen Indizien lückenlos erscheint, bis auf eine Ausnahme – Die Ausgangssituation ist anders, als vom Kommissar angenommen. Und während Dr. Gregor zunehmend verfällt und zum seelischen Wrack wird, obwohl er bei seiner Verhaftung noch selbstsicher ist wegen seiner klaren Unschuld, und am Ende sich sogar die Verlobte von ihm abwendet, da fragt man sich bei dieser großartigen Darstellung Karl Ludwig Diehls unweigerlich, wie oft dies wohl in der Realität auch heute noch stattfindet. Und man erinnert sich an so viele Meldungen in der Presse, dass ein Todesurteil (oder, auch nicht besser, ein Urteil über lebenslänglich) aufgehoben wurde, weil es sich nach Jahrzehnten als falsch herausgestellt hat.

Die Schauspieler sprechen im Jahre 1931 alle etwas hölzern und artikulieren sehr theatralisch, aber das ist natürlich dem frühen Tonfilm geschuldet. Umso höher ist es dem Regisseur anzurechnen, dass er trotzdem sogar den modernen Zuschauer mit sich ziehen kann in diesen Alptraum aus Anklage und drohendem Tod. TÄTER GESUCHT ist auch heute noch spannend und überzeugend, wegen seines Themas, aber auch wegen der guten Schauspieler und der dichten Atmosphäre. Ein Film der dringend wieder entdeckt gehört.
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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Die Straßenbahn (Dario Argento, 1973) 8/10

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Als die Straßenbahn von ihrer letzten Nachtfahrt zurückkehrt, liegt eine tote Frau zwischen den Sitzen. Ermordet. Bloß, wie kann jemand in einer Straßenbahn einen Mord begehen? Dort ist man doch immer unter Beobachtung, und etwas wie ein Mord ist doch völlig unmöglich. Sollte man meinen. Commissario Giordani steht vor einem Rätsel, und auch eine Fahrt mit der Tram und allen zur Tatzeit anwesenden Fahrgästen bringt keinen Aufschluss – Bis auf den Mörder, der tatsächlich ermittelt werden kann. Doch Giordani hat so seine Zweifel, ob der Mörder wirklich der richtige ist, und er macht die Fahrt mit der Straßenbahn noch einmal. In der Nacht. Mit seiner Frau als … Köder?

Prinzipiell ist DIE STRASSENBAHN ein TV-Giallo mit allen Zutaten, die ein Giallo in seiner Hochzeit so haben musste: Ein verzwickt ausgeführter und fast unlösbarer Mord, schwarze Handschuhe, ein verzweifelter Kommissar mit unfähigen Assistenten, die Einbindung des Privatlebens in den Fall … OK, die Nuditäten fehlen, aber da es sich bei IL TRAM um eine Fernsehproduktion handelt ist das erklärlich.

Aber mitten in diesem routiniert und gut erzählten Giallo wächst ganz allmählich eine Spannung heran, die den Zuschauer packt und nicht mehr loslässt. Das Wissen des Rezipienten, was sich da bei der nächtlichen Fahrt anbahnt ist das eine, aber die Umsetzung dieser Fahrt, wie der Regisseur die Bilder schneidet und die Musik einsetzte … Gerade hatte ich erst vor kurzem die Diskussion, dass Jazz meines Erachtens nur bedingt als Filmmusik taugt, weil das repetitive Moment fehlt, und prompt belehrt mich Maestro Argento eines Besseren und zeigt mir, wie er mit einem hochgradig nervösen und oft dissonanten Jazz-Score die Spannung in ungeahnte Höhen treiben kann. Touché, ich werde nie wieder etwas gegen Jazz als Filmmusik sagen …

Trotz der kleinen und sichtlich einfachen Produktion ist DIE STRASSENBAHN einer der richtigen guten Gialli, dem die kurze Laufzeit auch sehr gut tut: Die Story wird auf den Punkt erzählt und es gibt keine unnötigen Abschweifungen. Keine Extravaganzen, und überhaupt passt hier einfach alles!
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Maulwurf
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Beitrag von Maulwurf »

Die Geschichte der Piera (Marco Ferreri, 1983) 7/10

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Es gibt Filme, und es gibt Filme. Manchmal ist Kommissar Eisen in Ordnung, der mit Faust und Wumme in Rom für Recht und Gerechtigkeit sorgt, und manchmal braucht es auch mal etwas für den Kopf. Beide Filmgattungen haben ihre Berechtigung, und beide können, die richtige Stimmung vorausgesetzt, den Betrachter in einen ganz bestimmten Zustand versetzen. PIERA zum Beispiel. Piera ist das Kind von Lorenzo und Eugenia. Lorenzo hat zwei Passionen: Eugenia, und die Partei. Nachdem ihn die Partei vor die Türe gesetzt hat, und Eugenia ihn allmählich um den Verstand bringt, hat er nur noch Piera. Die er abgöttisch liebt. Aber die Hauptfigur des Films ist eigentlich Eugenia. Eugenia, die Freiheitsliebende. Die Wilde. Die Tanzende. Eugenia liebt das Leben, und zwar mit allen Facetten. Sie saugt es auf, sie will Liebe, will Freiheit, will Abenteuer erleben. Und diese Lebensart gibt sie an Piera weiter. Eugenia liebt Lorenzo, und Eugenia liebt auch Piera. Aber sie liebt auch alle anderen Männer. Eugenia sitzt immer wie ein Mann da, mit breit gespreizten Beinen, und in ihrem Blick ist immer Verlangen. Verlangen nach Liebe, aber auch ein unbändiges Verlangen nach Leben. Tagelang treibt sich Eugenia irgendwo herum, die andern sagen sie hurt herum, und irgendwann kommt sie wieder nach Hause und Lorenzo ist da und liebt sie. Das war früher so, und das ist auch heute so.

Und zwischen dem Früher und dem Heute? Das ist gleich! Ich habe glaube ich noch nie einen Film gesehen, in dem die Darsteller ganz bewusst nur dann altern, wenn es dem Drehbuch gerade passt. Zwischen der Geburt Pieras und ihrer Teenagerzeit altert Eugenia nicht einen Tag, und wenn Piera erwachsen ist altert Eugenia innert kürzester Zeit um viele Jahre. So what? Dies ist kein Film über das Altern, PIERA ist ein Film über das Leben!

Auf wen wartest Du eigentlich?“ „Auf irgend ‘nen Freund. Man weiß doch nie …"

Piera liebt das Leben ebenfalls, das hat sie von ihrer Mutter gelernt, aber auf eine andere, eine nüchternere Art. Piera wirft mit 11 Jahren die Schule hin und bereitet sich darauf vor, Schauspielerin zu werden. Ihre Eltern unterstützen sie, denn nur das Leben ist wichtig, nicht das, was die anderen sagen oder meinen oder angeblich von einem verlangen. Lorenzo hat Eugenia, Eugenia hat alle Männer, und Piera hat ihren Erfolg als Schauspielerin. Und wenn sich am Ende Mutter und Tochter nackt und intensiv küssen, dann ist auch gewiss, dass beide immer die Liebe im Herzen haben werden.

Die Liebe. Die Liebe in allen ihren Erscheinungsformen. Ich habe selten einen Film gesehen, der so erotisch aufgeladen ist, und der so mit Sex um sich wirft, ohne dabei irgendetwas zu zeigen. Ohne dem Wunsch des Zuschauers nach ausgestellten Geschlechtsmerkmalen nachzugeben. Der mit den Schauwerten, die so ein Film nach allgemeiner Meinung haben sollte, so geizig umgeht. Zwei nackte Männer sind zu sehen, und zwei nackte Frauen. Isabelle Huppert wäre nicht Isabelle Huppert, wenn sie sich ausziehen würde, und Hanna Schygulla beweist den Mut zu ihrem eigenen Alter, wenn sie am Ende des Films nackt am Meer steht, sichtlich keine 30 Jahre mehr alt, und soviel Glück und Sex ausstrahlt wie es ein ach so erotisches Top-Model niemals vermag. DIE GESCHICHTE DER PIERA ist eben auch ein Film über die Liebe, und die Liebe wird in allen Formen gezeigt und dabei doch nicht gezeigt. Sie ist spürbar, in jeder Einstellung ist sie erfahrbar, und es bedarf weder offenherziger Einstellungen noch gezeigten Beischlaf – Es reicht, wenn Hanna Schygulla mit weit gespreizten Beinen auf einem Stuhl sitzt, und ihre Augen der Kamera klar zu erkennen geben, dass sie Lust auf Sex hat. Die Woge an Lust, die da den Zuschauer überrollt, ist fulminant …

DIE GESCHICHTE DER PIERA ist aber auch ein Film über das Leben des eigenen Lebens. Darüber, das zu tun, was man selber möchte. Sich anzuziehen wie man es selber möchte. Für seine Gedanken, seine Vorlieben, seine Sehnsüchte einzustehen, und sich dem Druck der anderen nicht zu beugen. DIE GESCHICHTE DER PIERA wird von einer starken und unwiderstehlichen Lust auf Leben durchweht, und es ist schwer dem zu widerstehen. Nach dem Ende des Films möchte man sich am liebsten nackt an den Strand stellen. Oder mit dem Fahrrad durch sonnendurchglühte Städte fahren. Oder seine Wohnung so gestalten, wie man es höchstens in alten italienischen Filmen sieht, sich aber niemals trauen würde es selber zu tun. Kein Mensch in diesem Film scheint zu arbeiten, das ist hier einfach nicht wichtig, genauso wenig wie die politischen oder gesellschaftlichen Ereignisse hier nur am Rande stattfinden. Ein gewalttätiger Polizeieinsatz gegen Demonstranten? Wir hören den Lärm und wir sehen den Rauch, aber eigentlich ist das doch gar nicht interessant. Eugenia auf ihrem Fahrrad und ein Streit mit Lorenzo, das ist doch viel spannender als irgendwelche dummen Demonstrationen. Und ein Streit mit dem Lebenspartner beeinflusst das eigene Leben auch viel direkter als eine Demonstration.

Lebe Dein Leben, das ist die Aussage dieses Films, und das Gefühl dieser unbeschreiblichen Leichtigkeit des Seins, das ist schier unwiderstehlich. Da kann man auch auf eine stringente Handlung verzichten, auf logische Abhängigkeiten im alltäglichen Geschehen, oder sowieso gleich ganz auf alltägliches Geschehen. Das sind Dinge die hier nicht zählen, und die auch für die Aussage des Filmes nichts bringen würden. DIE GESCHICHTE DER PIERA ist im Kern wild und anarchistisch, dabei aber so wohlanständig erzählt, dass aus diesem Spannungsfeld ein ganz ein besonderer Film erwächst. Ein Film, der so ein ganz bestimmtes, ein singendes und summendes, ein flirrendes Lebensgefühl einfängt, dass nur große Dichter und nur manchmal in Worte fassen konnten. Für den man allerdings in Stimmung sein sollte. Vor allem darf man keinen Erotikfilm erwarten, und auch kein Arthouse-Drama. PIERA ist irgendwo dazwischen. Ein sehr leichtes und angenehmes Dazwischen. Kein realistisches, aber ein schönes Dazwischen!
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E tanta paura (Paolo Cavara, 1976) 6/10

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Paolo Cavara hat in seinem Leben eine recht überschaubare Anzahl Filme gedreht. Und wenn man da genauer hinschaut entdeckt man Filme wie DER SCHWARZE LEIB DER TARANTEL oder DAS LIED VON MORD UND TOTSCHLAG. Nette Filme, die durchaus zu unterhalten wissen, aber niemals niemals niemals zur Speerspitze ihres jeweiligen Genres gehören werden. Cavara hat einfach kein Händchen dafür gehabt, komplexe Geschichten so zu erzählen, dass sie interessant wirken und der Überblick trotzdem nicht verloren geht.

MAGNUM 45 zum Beispiel. Eine Domina ermordet ihren Freier, ein Wissenschaftler wird während einer Fernsehsendung vor laufender Kamera erschossen, eine Hure wird bei lebendigem Leib verbrannt … Und die Fälle eint, dass der Mörder Bilder aus dem Kinderbuch Struwwelpeter hinterlässt. Kommissar Lomenzo tappt im Dunklen, aber immerhin bekommt er heraus, dass alle toten Männer früher Mitglieder waren in einem Verein mit dem Namen „Liebhaber von Flora und Fauna“, sich regelmäßig in der Villa Hoffmann getroffen haben, und dort vor einem Jahr etwas passiert zu sein scheint. Lomenzos Zufalls(?)bekanntschaft, das Fotomodell Jeanne, kann Lomenzo weiterhelfen, doch tut sie das aus uneigennützigen Motiven heraus? Der Leiter einer Privatdetektei, Pietro Riccio, scheint mit Lomenzo zusammen zu arbeiten, aber ist das vielleicht auch nur ein Trugschluss und Riccio kocht sein eigenes Süppchen?

Ich schreibe diese Inhaltsangabe zwei Tage nach der Sichtung des Films, und muss schon einigermaßen scharf nachdenken um mich an Details erinnern zu können. Den zweiten Mord umgehe ich gleich, weil da einfach ein Loch in der Erinnerung klafft. Dinge, die darauf deuten, dass der Film nicht so dolle zu sein scheint. Nun ja, als Giallo aus der zweiten oder besser dritten Reihe taugt MAGNUM 45 auf jeden Fall. Der Film spielt zu großen Teilen in Kulissen und kann nur mit wenig Außenaufnahmen punkten, und die namhaften Stammschauspieler der italienischen Studios wie John Steiner sind meist nur kurz zu sehen. Vor allem aber die Geschichte ist es, die einerseits recht abgedroschen wirkt, und andererseits wenig interessante Aspekte aus dem Hut zaubern kann. Alles wirkt wie schon mehrmals durchgekaut und wieder aufgewärmt. Die Bilder des Struwwelpeters und die Villa Hoffmann (Heinrich Hoffmann hat 1844 den Struwwelpeter geschrieben). Die roten Heringe die so deutlich ins Nichts zeigen, weil die Anzahl der in Frage kommenden Personen so außerordentlich gering ist. Ein wenig nackter Busen, ein paar Morde, die teilweise recht drastisch und teilweise dann wieder ausgesprochen zahm über die Bühne gehen. Die Orientierungslosigkeit des Kommissars, der sich voll und ganz auf seine neue Liebe verlässt, und die irgendwie konform geht mit der Orientierungslosigkeit des Zuschauers …

Das ist alles so … abgedroschen. Unaufregend. Und wenn schon die ewig gleichen Fragmente dieser Geschichte erzählt werden, dann doch bitte schön anregend und abwechslungsreich. Aber nein, wir folgen Lomenzo und Jeanne von Station zu Station, Lomenzos Assistent ist etwas tumb und wird angeschnauzt, eine Rückblende liefert Aufschluss über die Ereignisse in der Villa Hoffmann, und die Story läuft einfach nach Schema F ab, ohne wirklich jemals zu zünden.

Ein Giallo aus der dritten Reihe, und so leid es mir tut, da gehört er auch hin. Es gibt bedeutend schlechtere Krimis aus Italien, aber auch bedeutend bessere. Diejenigen, die mit den Ingredienzen Wahnsinn, Sexualität und Mord wahre Fieberträume durchleben, und den Zuschauer in einen Mahlstrom der delirierenden Bilder ziehen. MAGNUM 45 gehört leider nicht dazu …
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