Was vom Tage übrigblieb ...

Euer Filmtagebuch, Kommentare zu Filmen, Reviews

Moderator: jogiwan

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Maulwurf
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Manipulation (Pascal Verdosci, 2011) 7/10

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Im November 1956 beendete die Sowjetunion den ungarischen Volksaufstand durch den Einsatz von Panzern. Ganz Europa hatte anschließend Angst, dass „die Russen kommen“ und sich auch andere Länder einverleiben. In der Schweiz ging die Angst so weit, dass das kleine und unabhängige Land ein eigenes Atomwaffenprogramm auflegte. Soweit die Historie.
In der Fiktion nimmt die Schweizer Bundespolizei, Abteilung Antispionage und Abwehr, kurz darauf einen einheimischen Journalisten fest, Werner Eiselin, und zwar unter dem dringenden Tatverdacht der Spionage für die Sowjetunion. Der Beweis ist ein Foto, auf dem zu sehen ist, dass Eiselin auf dem Roten Platz Dokumente von einem sowjetischen Verbindungsoffizier erhält. Dem ermittelnden Kommissar Rappold wird dieses Bild von einem externen Mitarbeiter der Abwehr zugespielt, Major Harry Windt. Eiselin leugnet, natürlich, und nach 33 Tagen in Haft und 68 Verhören, ohne Kontakt zu seiner Frau, überhaupt ohne Kontakt zur Außenwelt, in Isolationshaft und ohne Anwalt, erschießt sich Eiselin in Rappolds Büro.
Jetzt, ein Jahr später, taucht plötzlich das Schweizer Atomwaffenprogramm in der sowjetischen Prawda auf. Zum Teil sogar wortgetreu. Und es taucht ein Film auf, auf dem zu sehen ist, dass Major Harry Windt, ehrenvolles Mitglied der Schweizer Wehrgesellschaft und gut befreundet mit dem kompletten Offiziersstab von Heer und Abwehr, dass dieser Major Windt, der beruflich Public Relation-Kampagnen für das Schweizer Heer und für Politiker durchführt, dass besagter Major Windt Dokumente an einen russischen Verbindungsoffizier weitergibt. Vier Tage, bevor die Prawda das besagte Atomwaffenprogramm abdruckt. Hauptkommissar Rappold soll ermitteln. Er lässt Major Harry Windt verhaften, und hat damit sofort und automatisch die gesamte Spitze von Heer und Abwehr gegen sich. Seinen Vorgesetzten, seine Vertrauten, alle sind gegen ihn. Denn Harry Windt ist so etwas wie das militärische Gegenstück zu einem Popstar. Ein Mann der die Wahrheit und die Aufrichtigkeit gepachtet hat. Bis er seine Version der Geschichte erzählt …

Zu viel darf man nicht über MANIPULATION wissen, und ich stelle mal die Behauptung in den Raum, dass die obige Inhaltsangabe knapp die Hälfte des Filmes darstellt. Die eher vorhersehbarere Hälfte. Und über die andere Hälfte mag ich nichts erzählen … Nur so viel, dass sie einige, nun ja, nicht vorhersehbare Ereignisse enthält.

Tatsächlich ist MANIPULATION ein fieser und hinterfotziger Thriller, der in seiner Machart erstaunlich altbacken wirkt, in seiner Wirkung hingegen hochmodern ist. Wir verlassen das Büro Rappolds nur für ein paar kurze Aufnahmen, aber eigentlich könnte man auch von einem Theaterstück reden, so fixiert scheint der Film auf das Büro und den Verhörraum. Hier, im Herzen einer erstarrten und unbeweglichen Bürokratie, entscheidet sich das Schicksal freier Menschen. Eines Journalisten, der aus Versehen in Spionageverdacht gerät und auch in einer modernen Vorzeigedemokratie damit aller(!) seiner Bürgerrechte verlustig geht. Eines PR-Beraters, der ebenfalls der Spionage verdächtigt wird, aber intelligenter und trickreicher scheint als der Journalist. Eines Abwehroffiziers und Verhörspezialisten, der an seiner eigenen Wahrnehmung zweifelt und an der Realität scheitert. Dies ist die eine Hälfte der Wahrheit(?), die andere Hälfte ist das grandiose Spiel vor allem Sebastian Kochs als Harry Windt. Was Koch an kleinen und kaum merkbaren Spitzen heraushaut, wie er den Zuschauer und auch Rappold foppt, die Wahrheit(?) andeutet, die Lüge kultiviert, und damit jeden aufs Glatteis führt, das ist über alle Maßen sehenswert und geradezu überwältigend. Vor allem im Hinblick darauf, wie sich nach dem Ende des Films die Puzzleteile zusammenfügen und ein Bild ergeben, das eigentlich dazu führt, dass man sich den Film noch einmal anschauen müsste, um die kleinen Hinweise und Spitzfindigkeiten erst richtig schätzen zu lernen. Wie DIE ÜBLICHEN VERDÄCHTIGEN, nur kälter. Realistischer. Böser.

MANIPULATION ist ein trickreiches Spiel mit Lüge und Wahrheit, und die Inszenierung steht dem in Nichts nach. Wir sehen Bilder und hören dazu die Töne einer anderen Szene, Rückblenden können natürlich visuell ausfallen, aber auch rein akustisch sein. Wir sind in Rappolds Kopf und nehmen dergestalt seine Erinnerungen wahr, versuchen sie einzuordnen und die eine, die wesentliche, die übersehene Information daraus zu ziehen. War Eiselin ein Kommunist? Oder ein Bauernopfer in einem viel größeren Spiel? Was stellt Windt dar? Einen raffinierten Spion? Oder einen Kleinkriminellen, der zur richtigen Zeit am richtigen Ort war und die Chance seines Lebens ergriffen hat? Und überhaupt: Manipulation – Wer manipuliert hier wen? Manipuliert Rappold Eiselin, wenn er ihm im Verhör etwas vorlügt? Oder manipuliert Windt Rappold, wenn er ihm die Wahrheit erzählt? MANIPULATION ist eine Scharade, deren Fazit es ist, um Himmels Willen nicht alles zu glauben was in den Medien steht – Eine Schlussfolgerung, die heutzutage aktueller scheint denn je: Was ist in einer durchschnittlichen Nachrichtensendung die Wahrheit? Und was eine Lüge? Und welche „Meldung“ kann in einem sogenannten Sozialen Medium mit diesen Begriffen belegt werden? Der Film ist also nicht nur ein schlauer und ausgefuchster Thriller, sondern gleichzeitig auch eine Lehrstunde in Sachen Moral, aber auch und vor allem in Sachen Wahrnehmung und Wahrheit. Was immer man unter dem Begriff Wahrheit verstehen mag. Und gerade wegen der völligen Absenz von Actionszenen ist MANIPULATION allen schwerstens empfohlen, denen gutes Storytelling und intelligente Skripts im Film auch heute noch wichtig sind. Was keine Lüge ist. Oder?
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Maulwurf
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Dr. Crippen an Bord (Erich Engels, 1942) 6/10

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Was mich an DR. CRIPPEN AN BORD so unglaublich irritiert ist diese strikte Dreiteilung der Narration: Drei etwa gleichlange Teile, die jeweils einen Teil der zusammenhängenden Geschichte behandeln, aber mit Abstrichen auch für sich und als Kurzfilm stehen könnten.

Teil 1: Ouvertüre. Die Ehefrau von Dr. Crippen, die erfolgreiche Artistin Cora Crippen, erfährt, dass sie aufgrund einer Verletzung nie wieder auftreten können wird. Ihr Verehrer Dr. Morrison, ein Verwandlungskünstler beim Varieté, ist derjenige, der ihr diese Mitteilung macht, und er fügt wie selbstverständlich auch hinzu, dass Dr. Crippen selber dies bereits weiß. Jeder weiß es, nur sie nicht. Cora ist schwer getroffen und lässt sich von ihrem liebenden Ehemann einen Tee machen. Am nächsten Tag heißt es, dass Cora Crippen ihren Mann verlassen hat, um in Rio de Janeiro einen anderen zu heiraten. Dr. Crippen selber ist mit den Nerven am Ende, doch ein junger Künstler, der Cora eigentlich malen wollte und mit ihr verabredet war, schluckt die Geschichte nicht und geht zur Polizei. Inspektor Düwell glaubt dem jungen Mann und stochert selber bei Crippen herum. Mit dem Erfolg, dass Crippen und seine Geliebte Lucie Talbot von heute auf morgen spurlos verschwinden.

Teil 2: Die Titelstory. An Bord des Dampfers Montrose nach Venezuela haben unter anderem ein Reverend und sein Sohn eingecheckt. Der pfiffige Steward Petersson erkennt in dem Reverend den mittlerweile weltweit gesuchten Dr. Crippen wieder, und vergewissert sich auch, dass der Sohn in Wirklichkeit eine Frau ist (wie er das macht, das verrate ich jetzt nicht. Aber die Idee ist genial!). Ein Funkspruch an die Polizei, und sofort bewegt sich Inspektor Düwell in Richtung Südamerika, um den Dampfer vor der Dreimeilenzone noch aufzuhalten. Crippen aber ist kein Dummkopf und merkt, dass sich an Bord einiges verändert, und dass sich das Netz um ihn herum zuzieht. Er versucht unterzutauchen und dem Zugriff des Inspektors zu entgehen.

Teil 3: Apotheose. Zurück in der Heimat wird Dr. Crippen der Prozess gemacht. Der Verteidiger holt aus dem Fall heraus was nur möglich ist, und er geht sogar soweit, einen weiteren dringend Tatverdächtigen zu präsentieren, nämlich Dr. Morrison, den Verwandlungskünstler. Wer war jetzt wirklich der Mörder der armen Cora Crippen?

Wie gesagt, drei deutlich voneinander getrennte Teile. Zuerst befinden wir uns in der gehobenen Bürgerschicht, mit gut geführtem Haus und entsprechendem Dienstmädchen, und schauen gleichzeitig der Polizei bei ihrer Arbeit zu. Teil 2 hat zwar auch die Polizei zum Akteur, aber eigentlich ist das Schiff die Bühne für die Geschichte. Und Teil 3 verlässt den Gerichtssaal gar nicht mehr. Der Erzählfluss ist dadurch nicht ganz so stringent wie man es heute gewohnt ist, und auch die Spannung leidet ein klein wenig. Denn spannend ist der Film prinzipiell schon, oh ja. Die Frage nach dem Mörder wird vor allem im letzten Drittel dank der Schauspielkunst Paul Dahlkes als Verteidiger von Grund auf neu verhandelt, und als Zuschauer kommt man gar nicht umhin, die Schuld Crippens glatterdings abzulehnen und sich auf den aalglatten und unsympathischen Morrison (O.E. Hasse) zu stürzen.

Überhaupt sind es die Schauspieler, die der etwas mühsam erzählten Geschichte ihr Leben einhauchen. Rudolf Fernau ist als Dr. Crippen theatralisch und eiskalt, immer höflich aber distanziert, immer absolut undurchschaubar. Ein Mörder wie man ihn sich besser kaum vorstellen kann. Wenn er denn der Mörder ist. Daneben René Deltgen als Inspektor Düwell, nur echt im Doppelpack mit seinem gefühlt doppelt so großen Assistenten Michels. Deltgen ist hemdsärmelig und steht mit beiden Beinen voll im Leben. Seine Ausstrahlung ist die eines Klaus Löwitsch – Aggressiv, engagiert, voller Leben und voller Gefühle. Das perfekte Gegenstück zu dem kühlen Fernau. Nicht ganz so überzeugend sind dann Figuren wie der Steward Petersson oder der Apotheker Harras – Interessante und schräge Rollen, die aber in ihrer Anlage leider alles etwas ins Komische ziehen, und damit ein Gegengewicht zur Spannung aufbauen, was vor allem auf dem Schiff viel Substanz herausnimmt und das zweite Drittel öfters mal zu einer Eine Seefahrt die ist lustig-Farce mutieren lässt.

Aber insgesamt ist DR. CRIPPEN AN BORD spannend, und er ist in seiner ganzen Machart ein Film, den ich eher in den 50er-Jahren verortet hätte als in den frühen 40er-Jahren, wo ein so modern erzählter Kriminalfall doch eher eine Seltenheit war. Entsprechend wurde der Film 1943 ein großer Erfolg beim Publikum, der eine Menge Geld einspielte und gute Kritiken einfuhr. Vielleicht sollte ich also nicht so streng sein mit dem Film, denn wenn ich in der Wikipedia über den Fall des Dr. Crippen lese fällt schnell auf, dass sich das Drehbuch sehr stark am Originalfall orientiert. Und während ich darüber nachdenke fällt mir weiter auf, dass der Film eigentlich gar nicht schlecht ist. Und dass diese Dreiteilung auch ihren Reiz hat, jedenfalls können alle Aspekte der Story mit der gleichen Intensität behandelt werden. Sehenswert ist er also auf jeden Fall. Wie sehenswert, das liegt wie so oft im Auge des Betrachters …
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Stadt im Nebel (Kurt Hoffmann, 1950) 8/10

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Seit Tagen liegt ein dichter Nebel über der kleinen Hafenstadt Belgesund, der alles und jeden erstickt. Die Stimmung im Ort ist gespannt, alles verschwimmt im Dunst, und alles ist irgendwie gedrückt. Inmitten dieser stickigen Atmosphäre stehen fünf Personen unter Mordverdacht. Dr. Berling, Lehrer der örtlichen Privatschule, scheint von dem ermordeten Hausmeister der Schule, Palsberg, erpresst worden zu sein. Karl Jensen könnte das Geld gereizt haben, das sein Freund Palsberg mit Geschäften mit den Schülern verdient hat. Ja, die Schüler: Vor allem der junge Klaus Eriksen hatte kurz vor der Tat noch eine heftige Auseinandersetzung mit Palsberg, offensichtlich wegen gefälschter Prüfungsergebnisse, aber auch wegen hoher Schulden für die bei Palsberg gekauften Alkoholika. Und für die gekauften Prüfungen Dr. Berlings. Aber auch Klaus‘ Bruder Jakob scheint alles andere als sauber zu sein. Rotzfrech ist er jedenfalls, und er scheint seine Unsicherheit damit nur überspielen zu wollen. Und dann ist da noch Palsbergs Zwillingsbruder Erik, der das von Palsberg angehäufte Geld gut brauchen könnte, um seine eigenen Schulden zu begleichen …

Tatsächlich ist die Stimmung dieses Filmes eine astreine Übung in Noir. Nur wenige Szenen spielen im Freien, und diese Szenen sind ausnahmslos bei Nacht und in engen und bedrückenden Gässchen angesiedelt. Der Hauptteil der Handlung aber spielt in kleinen und beengenden Räumen, in Zimmern, in denen der Mief und die (Spieß-) Bürgerlichkeit wie bleischwerer Staub auf den Möbeln liegt, und in denen jede menschliche Regung erstickt wird. Dr. Berling und Ingrid lieben sich? Dass ich nicht lache, die Beziehung ist mindestens so distanziert wie die Entfernung von Belgesund in den Nachbarort. Die Ehe von Dr. Berling ist sowieso schon am Ende, die Tochter des Schuldirektors wirft ihrem Vater sehr ernsthaft vor, dass ihre Karriere als Sängerin von ihm torpediert wurde, und überhaupt besteht das Leben in Belgesund vorwiegend aus Saufen und Erpressen. Die Clique um Klaus Eriksen gibt sich locker, aber die unterschwellig vorhandene Aggressivität ist in jeder Szene zu spüren, harmlos sind die Typen nicht. Der ganze Ort birst geradezu vor unterdrücktem Hass, vor Angst, und in jedem Winkel der Stadt drücken sich Schatten herum, die niemand sehen will.

In dieser latenten Depression führt das Drehbuch nun einen etwas schrulligen Kommissar ein, der Eier isst, sich mit Zeugen Screwball-reife Wortgefechte liefert, und einen Scharfsinn wie weiland Sherlock Holmes und eine Auflösung wie Hercule Poirot liefert. Tatsächlich erinnert Kriminalrat Thomsen aber eher an Columbo, der immer noch eine Frage, die entscheidende Frage, hinterherwirft und damit ins Schwarze trifft, ansonsten aber eher ein wenig schusselig wirkt. Eine großartige Idee des Drehbuchs, dieser düsteren und unheilvollen Stimmung diesen Polizisten entgegenzusetzen, der für einige heitere Momente sorgen kann, ohne aber die Grunddüsternis dabei zu sehr zu verscheuchen. Spannenderweise vertiefen sich die Schatten im Gegenteil oft sogar, wenn Thomsen auf den Plan trifft, weil die Menschen, sowohl die Zeugen wie auch die Verdächtigen, schnell merken, dass der Mann sein Metier beherrscht, und dann die Angst erst recht zum beherrschenden Faktor wird. Zwischen engen Treppen, unpersönlichen Zimmern und dunklen Kellern regiert schnell das Misstrauen, niemandem kann man trauen, und die wenigen Freundschaften geraten ebenfalls schnell ins Zwielicht.

Kurt Hoffmann gelang das Kunststück eines deutschen Film Noir mit einer leichten humorigen Unternote, der als Murder Mystery sehr wohl etwas hermacht, aber als düstere und zwielichtige Charakterstudie im Umfeld eines Mordes erst so richtig durchstartet. Die Verortung der Handlung in einem fiktiven Ort und im dichten Nebel entrückt die Geschichte gerade soweit der Wirklichkeit, um daraus eine kleine böse Kriminalgeschichte zu stricken, in der so ziemlich alles stimmt. Und wenn am Ende der Mörder durch die dunklen Gassen flieht, sich seine Augen vor Angst mit Panik verhängen und die Stadt plötzlich vor den Schritten der Verfolger und dem Trillern der Polizeipfeifen erbebt, spätestens dann weiß auch der Zuschauer, dass gelungene Noirs nicht zwangsläufig alle aus den USA oder aus Frankreich kommen müssen. Schwere Empfehlung für Krimifans!
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Maulwurf
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The long haul (Ken Hughes, 1957) 8/10

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Robert Zion definiert in seinem Text zu DIE FARM DER GEHETZTEN den Film Noir wie folgt: „ … das Leben [ist] ein unerbittlicher Abstieg, getrieben von machtvollen äußeren Umständen, die alle Sehnsüchte und Hoffnungen in einen persönlichen Albtraum verwandeln.“ Und fast scheint es, als ob er DIE FAHRT IN DEN ABGRUND beschreibt …

Der Film beginnt in Starnberg(!), wo der US-Soldat Harry Miller seinen Dienst quittiert um endlich wieder nach Hause zurückkehren zu können. Aber seine Frau Connie, eine gebürtige Engländerin, will nicht in die USA, sie möchte mitsamt Harry und Sohn Butch zu ihrer Familie nach Liverpool. Und Harry könnte dort sogar einen Job bekommen. Um des lieben Friedens willen gibt Harry nach und landet also in England, wo er bei Onkel George einen Job als Fernfahrer bekommt. Das Geschäft ist einfach: Wer am meisten fährt und am wenigsten schläft bekommt das meiste Geld. Man kann sich aber auch mit dem organisierten Verbrechen arrangieren, wie Harrys Kumpel Casey es tut. Casey verhökert einen Teil seiner Fracht, und als Harry bei einer Pause zufällig beobachtet, wie Gauner Caseys LKW ausrauben, ohne das Wissen um Caseys Geschäfte, da geht er mit seinen harten Fäusten dazwischen – Und schafft sich eine Menge Probleme! Denn derjenige, der die Rückfrachten organisiert, Joe Easy, ist der Drahtzieher der Gangster, und der findet Störenfriede wie Harry zum Kotzen. Harry wiederum sieht in Easys Büro eine aufregende Blondine: Lynn, Easys Geliebte. Und die wiederum merkt schnell, dass Harry nicht so ein Brutalinski ist wie ihr Joe, sondern eigentlich ein nach Liebe suchender. Und während sich Harry und Lynn immer näher kommen, und Harry sich gleichzeitig seiner Familie immer mehr entfremdet, kommt er dabei zunehmend in die Situation, dass er genau das machen muss was Joe will: Gefährliche Fahrten übernehmen, bei Raubzügen aufpassen … Und dann gibt es einen Toten: Casey …

Harry mag vielleicht nicht der Erfolgreichste oder der Ambitionierteste sein, aber er hat seine kleine Familie, die er sehr liebt, und er hat den Traum, bei seinem Kumpel Al in den USA groß ins Geschäft einzusteigen. Aber stattdessen fährt er LKWs von Liverpool nach Glasgow, und selbst das findet ein jähes Ende, als er auf die Abschussliste der Gangster gerät. Harry wird arbeitslos und muss sich mit den Drecksjobs zufriedengeben, die Joe Easy ihm zuschustert. Und die alle nicht so ganz sauber sind. Lynn? Die Liebesnacht mit Lynn führte dazu, dass ihm sein LKW unter der Nase gestohlen wurde, und er bezichtigt natürlich Lynn der Komplizenschaft mit Joe Easy. Nein, so hatte sich Harry das Leben nicht vorgestellt - Dass alle seine Sehnsüchte und Hoffnungen sich so schnell in einen persönlichen Albtraum verwandeln.

Und je tiefer Harry sinkt, desto schwärzer wird der Film. Fast alle Szenen spielen bei Nacht, oft regnet es, als ob der Himmel die Menschen noch stärker ins Elend pressen will, und die einzigen Momente die längere Zeit im Tageslicht spielen sind gegen Ende zu sehen, wenn Harry einen LKW mit geklauter Ware mitten durch das schottische Hochland bugsiert, und sich nicht nur der äußerst widerborstigen Natur erwehren muss, sondern auch noch einen knüppelharten Kampf mit Joe Easy ausfechten muss. Hier wird DIE FAHRT IN DEN ABGRUND mit einem Mal zum Western, wenn sich Männer, die nichts mehr zu verlieren haben, rücksichtlos und bis auf den Tod mit Fäusten beharken und versuchen, sich gegenseitig in einem Fluss zu ertränken. Das Archaische der Kontrahenten und das Wilde und Unbeherrschte kann hier, inmitten der Wildnis, raus; all die Frustrationen und der aufgestaute Druck werden am Gegenüber ausgelassen und nur einer kann übrigbleiben.

Dies funktioniert vor allem deswegen so gut und ist deswegen so außerordentlich spannend, weil Victor Mature als Harry im Laufe des Filmes immer mehr in den Hintergrund rückt. Zwar wird die Geschichte konsequent aus seiner Sicht erzählt, aber die eigentliche Hauptfigur wird zunehmend und immer mehr Joe Easy, der stahlharte und rücksichtlose Spediteur und Gangsterboss. Joe Easy hat in Bezug auf Brutalität und Skrupellosigkeit viel Ähnlichkeit mit den Gangstern aus den italienischen Polizeifilmen, und seine Opfer sind genauso wehrlos wie es die Opfer in den Poliziotti so oft sind. Mit seinen harten Augen und der kantigen Visage, den ausufernden Bewegungen und seiner rastlosen Bosheit zeichnet Patrick Allen als Joe Easy das düstere Bild einer Welt, die nur noch von Habgier und Mordlust beherrscht wird, und die kleine und schwache Gestalten wie Harry Miller einfach hinwegfegt, was den Film auf eine unangenehme Weise geradezu modern wirken lässt.. Dazu passt auch der Schluss des Filmes, in dem niemand mehr etwas gewonnen hat. Harry, Connie, Lynn, alle haben verloren, und niemandem wird ein richtiges Happyend gegönnt. Das Böse in Gestalt von Joe Easy (Allein die Namenswahl: Wie leicht es doch ist, Gangster zu sein und damit zu Reichtum und Macht zu kommen) hat über alle braven und anständigen Menschen gewonnen. Gerade dass es in diesem Moment ausnahmsweise mal nicht regnet …

Und die Liebe? Liebe ist nur ein Wort! In der Ehe zwischen Harry und Connie kriselt es schon seit langem, und ohne den Sohn Butch wäre die Beziehung schon lange vorbei. Das Gangsterliebchen Lynn? Die sucht die Liebe, die sie in ihrem früheren Job als Animiermädchen nie gesehen hat, und sie blieb nur bei Joe, weil der sie aus diesen Schweineläden (Originalton) rausgeholt hat. Und weil Joe Easy ihren Bruder beschäftigt, einen Vorbestraften, dem niemand jemals wieder einen Job geben würde. Lynns inbrünstig beschworene Liebe zu Harry ist in Wirklichkeit die Verzweiflung einer älter werdenden Frau, genauso wie die Angst vor der Einsamkeit. Nichts, was etwas mit Liebe zu tun hat. In dieser Welt gibt es keine Liebe. Nur zweckmäßige Beziehungen, die am Ende dann doch niemandem nützen. Und vor allem kein Glück bringen.

DIE FAHRT IN DEN ABGRUND ist in Wort und Ton genauso düster wie sich das hier liest. Ein Noir, ein ausgesprochener und in allen seinen Facetten zutiefst pessimistischer Noir, der mit tollen Bildern und einer sehr spannenden Umsetzung punktgenau erzählt ist und absolut keine Gefangenen macht. Große Empfehlung!
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Maulwurf
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Das Boot der Verdammten (René Clément, 1947) 7/10

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Im April 1945 war die Welt am Zerbrechen. Armeen überrollten Europa, und trieben Flüchtlingsströme vor sich her, von denen die meisten versuchten, einfach nur dem sicheren Tod zu entkommen. Der Tod kann aber auf viele verschiedene Weisen kommen. Für die Hauptfiguren in diesem Film würde er durch die Hand der Richter kommen, die ihnen ihre verqueren Ideale und ihre Verbrechen vorhalten würden. Oder durch die Hand der Mitbürger, die Rache nehmen wollen für die Zusammenarbeit mit den Unterdrückern. Den Henkern.

Ein italienischer Industrieller, der seine Fabriken an die Nazis verscherbelt hat. Ein Kleinkrimineller aus Berlin, der mit den Nazis eng zusammenarbeitet. Eine überzeugte Nationalsozialistin aus dem Sudetenland, die mit demjenigen schläft der ihr am meisten Macht bietet. Ein französischer Kollaborateur. Ein deutscher General. Sie alle wollen von Oslo aus mit einem U-Boot in das sichere Südamerika flüchten, und dort am Endsieg weiterarbeiten. Bei der Fahrt durch den Ärmelkanal wird Hilde, die gleichzeitige Geliebte des italienischen Fabrikanten und des Generals schwer verletzt. Ein Arzt muss her. Also wird im Schutz der Nacht ein kleines französisches Städtchen angelaufen und der dortige Arzt, gerade erst zurückgekehrt in sein Heim von der Flucht vor den Besatzern, gekidnappt. An Bord des U-Bootes merkt er schnell, dass sein Leben hier gar nichts wert ist. Niemandes Leben ist irgendwas wert. Und je höher jemand meint in einer wie auch immer gearteten Hierarchie zu stehen, umso grausamer sind seine Befehle, da demjenigen klar ist, dass sein Leben auch umso schneller vorbei sein kann.

Und so entspinnt sich der verzweifelte Versuch des Arztes Dr. Guilbert, am Leben zu bleiben, als mehr oder weniger planloser Weg, Allianzen zu spinnen, Zwietracht zu säen, und möglichst unbehelligt zu bleiben von den Attacken des Nazis Forster. Dabei merkt er schnell, dass die Kameradschaft der Seefahrer, der Soldaten, der Leidensgenossen, so wie wir sie in Wolfgang Petersens DAS BOOT noch kennengelernt haben, dass diese Kameradschaft nur ein Mythos ist und nicht existiert. Im Angesicht des Zusammenbruchs ist sich jeder der Nächste. Manche der Matrosen sind in der Partei, die haben mehr Rechte und dürfen bei der Übernahme von Treibstoff an Deck und frische Luft schnappen. Einer, der Funker, ist Österreicher, und damit per sé verdächtig. Mit dem Funker schmiedet Guilbert auch eine vorsichtige Allianz, aber kann er dem Mann wirklich trauen? Nein, er kann niemandem trauen. Wenn es darum geht das eigene Leben zu verteidigen, stehen Freundschaften und sogar Liebschaften zuoberst auf der Abschussliste.

In Südamerika angekommen entspinnt sich ein tödliches Duell zwischen dem Kontakt der Männer, dem Agentenführer Larga, dem eiskalten Ganoven Morus, einem Nazi-Matrosen und Forster. Jeder versucht, die jeweils anderen auf seine Seite zu ziehen, und selbst wenn Morus die Seite wechselt, weil er Largas Einflüsterungen von Freiheit und Geld erliegt, selbst dann stellt sich die Frage, wie lange dieser Seitenwechsel wohl halten mag. Vielleicht sind die Vorzüge der ursprünglichen Seite plötzlich wieder stärker. Und sei es nur, weil Forster, der Gebieter Morus‘, die delikateren und damit grausameren Bestrafungsmethoden hat? Opportunismus ist hier das Gebot der Stunde …

René Clément malt ein düsteres Bild einer Gesellschaft in kompletter Auflösung. Und mit komplett meine ich auch komplett. Hier gibt es keine wie auch immer geartete Ordnung mehr, niemanden der Verantwortung für andere übernimmt und versucht, für die Gruppe das Beste zu erreichen. Jeder kämpft für sich, bekämpft rücksichtslos alle anderen, und Bünde werden nur geschmiedet, um sich selber trickreich Vorteile zu verschaffen. Der Zustand nach dem Ende des Krieges, die völlige Gesetzlosigkeit als Folge jahrelanger und andauernder Barbarei. Eine Gesellschaft auf dem Höhepunkt der Selbstbedienungsmentalität und gleichzeitig am Ende ihres selbstverschuldeten Untergangs.

Nein, DAS BOOT DER VERDAMMTEN ist weder ein freundlicher noch ein versöhnlicher Film. Vielmehr können wir einen Blick in eine Hölle erhaschen, wie wir sie uns höchstens in einem Gefängnis vorstellen können. Wobei, ist ein U-Boot voller Ausgestoßener nicht wie ein Gefängnis? Ein U-Boot, dessen Insassen in qualvoller Enge nebeneinanderher leben, schwitzen, stinken, fressen, scheißen. Die nirgendwo an Land gehen können wenn sie nicht sofort verhaftet werden wollen, und die keine Sekunde unbeobachtet sein können. Die einzige Aussicht ist diejenige, bis ans Lebensende auf den Ozeanen herumzufahren. Wie fliegende Holländer …

Die Dramaturgie mag manchmal etwas holprig sein, die Anschlüsse wollen nicht immer so recht passen, und das Ende wirkt wie vom Produzenten angepappt, um dem Publikum für den Heimweg wenigstens einen versöhnlichen Schluss bieten zu können. Aber die Intensität und Düsternis, die Bosheit und die Angst, die durch diesen Film geistern, erschrecken auch heute noch nachhaltig. Geheimtipp! Gerade auch für alle die wissen wollen, wo Europa und die Welt Mitte der 2020er-Jahre hinsteuern …
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GSI – Spezialeinheit Göteborg: Riskantes Spiel (Daniel Lind Lagerlöf, 2009) 7/10

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Nach dem äußerst schwachen BLUTIGE FEHDE wurde sich seitens der Produzenten offensichtlich wieder darauf besonnen, dass die Stories um die GSI ja ursprünglich mal eine Krimiserie waren, und also man sich auch bitteschön um Krimiflair zu kümmern hat. In RISKANTES SPIEL geht es rein prinzipiell um einen Mädchenhändlerring. Polnische Mädchen werden nach Göteborg geschleust und dort zur Prostitution gezwungen. Johann Falk und sein Kollege Lasse können den verantwortlichen Schleuser, den Russen Oleg, an Bord der Fähre nach Kiel beschatten, und treffen dort auf Hanna. Diese kümmert sich um die Mädchen und betreut sie, ahnt dabei aber gar nicht, dass sie nach der Übergabe auf den Strich geschickt werden. Lasse verguckt sich in die zierliche Rothaarige, und auch Hanna findet Gefallen an Lasse. Johann Falk allerdings entpuppt sich als Arschloch und bringt Hanna dazu, für die GSI undercover zu arbeiten. Was Lasse wiederum in einen bösen Zielkonflikt bringt.

Einer der absoluten Höhepunkte ist, wenn Johann und Lasse via heimlich angebrachter Kamera hilflos zuschauen müssen, wie Oleg versucht Hanna zu ermorden. Was für eine entsetzliche und zermürbende Situation für die Ermittler, und deren Verzweiflung überträgt sich auch auf den Zuschauer, das Grauen ist geradezu mit den Händen zu greifen. Dies ist eine der ganz wenigen „Action“-Szenen, doch auch hier passiert eigentlich nicht viel. Der Regisseur Daniel Lind Lagerlöf verlässt sich auf seine erstklassigen Darsteller und auf eine Geschichte, die unerbittlich und sehenden Auges in Richtung eines Abgrundes marschiert. Die Demontage Johann Falks, die in den vergangenen Folgen schon immer wieder angedeutet wurde, überschlägt sich dabei geradezu. Johann hat Probleme die Anweisungen seiner neuen Chefin zu respektieren und kocht mitunter sein eigenes Süppchen. Johann lässt eine Überwachungskamera installieren ohne richterliche Genehmigung, was zu der Situation führt, dass die GSI zwar ein vollumfängliches Geständnis auf Video hat, dieses aber nicht auswerten kann. Und vor allem rekrutiert Johann alles was bei drei nicht auf den Bäumen ist für den Dienst der GSI. Hanna wird zur Undercoverarbeit genauso erpresst wie Frank Wagner, den das Schicksal der polnischen Mädchen nicht kalt lässt. Unnötig zu sagen, dass Johanns Entscheidungen durch die Bank Blutspuren hinterlassen. Tiefe Blutspuren …

RISKANTES SPIEL ist ein ruhiger Fernsehkrimi mit durchgehender Spannung und viel Düsternis im Göteborger Winter. Tage und Nächte sind finster, das Wetter ist eisig, und die Polizeiarbeit überschreitet öfters einmal den Rahmen des Erträglichen und des Machbaren. Trotz, oder viel mehr wegen der fehlenden Action eine gute Folge, wegen der aus falschen Entscheidungen entstehenden Dramatik. Sehenswert!
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The Eyes Of My Mother (Nicolas Pesce, 2016) 6/10

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Ich möchte doch, dass wir zusammen bleiben.

Die Angst vor der Einsamkeit. Vor dem absoluten und grenzenlosen Alleinsein, dieses Gefühl ist es, von dem Francesca beherrscht wird. Und weil diese Angst in ihr immer da ist, wünscht sie sich Zweisamkeit. Sie sehnt sich so sehr nach ihrer Mutter, die, wie Francesca noch ein Kind war, vor ihren Augen ermordet wurde. Sie sehnt sich nach ihrem Vater, einem Hort der Ruhe und Bürgerlichkeit. Und deswegen wünscht sie sich Zweisamkeit: Sie lebt in dem einsam gelegenen Häuschen inmitten der Natur. Und der oder die andere lebt in der Scheune. Auf dem Zwischenboden. Angekettet.

Ist THE EYES OF MY MOTHER vielleicht die logische Konsequenz aus Hitchcocks PSYCHO? Wo Norman Bates noch durch Kostümierung zu einem Abbild seiner Mutter wurde, zieht Francesca aus dieser persönlichen Unmöglichkeit die Konsequenz und verwandelt sich zu ihrer Mutter, die früher einmal eine Chirurgin in Portugal war. Francisca wendet das von der Mutter erlernte Wissen um die Geheimnisse der Chirurgie an und sorgt dafür, dass ihre Gäste sie nicht mehr verlassen können. Norman Bates brachte dies dem Wahnsinn nahe. Und Francesca? Schwer zu sagen, ihre Maske ist die der Gutbürgerlichkeit und der Fürsorge…

THE EYES OF MY MOTHER erzählt, gut getarnt als Arthouse-Film, in Schwarzweiß und mit wenigen Dialogen, eine Geschichte, nach der man am liebsten gar nicht mehr aus dem Haus gehen mag. Weil man ja nie weiß, was da draußen auf einen wartet. 75 Minuten reichen Regisseur Nicolas Pesce völlig aus, um trocken und punktgenau etwas zu erzählen. Keine Nebenhandlungen, keine Abschweifungen, keine Erklärbären. Die Welt ist wie sie ist, und der Zuschauer hat das hinzunehmen. Und auch wenn sich dadurch das ein oder andere Logikloch auftut, wen kümmert es? Das gepflegte Grauen kratzt am Empfinden des verstörten Zuschauers und schafft in dessen Kopf Bilder, die noch einige Zeit nachwirken. Gerade weil Pesce auf Geschmodder verzichtet und sämtliche blutigen Details ausgeblendet werden, gerade deswegen hat THE EYES OF MY MOTHER diese doch recht heftige Wirkung. Dabei werden die Ikonen des Genres durchaus genutzt: Der von hinten beleuchtete kleine Junge mit Teddybär in der Scheunentür, auf dem Weg zu seinem ganz persönlichen Armageddon. Das Wesen, welches sich in Ketten gefesselt im Dreivierteldunkel der Scheune bewegt und reines Entsetzen erzeugt (und wie eine Hommage an RINGU wirkt). Der zärtliche Kuschler mit der seit vielen Jahren toten Mutter.

Letzten Endes kann THE EYES OF MY MOTHER als eine Art Gothic-Kino verstanden werden. Aber nicht das heimelige Gothic-Kino der Hammer-Studios oder der Italiener, sondern moderner Gothic-Chic, der grauenhafte Bilder im Kopf erzeugt, welche dort mit Bildern bereits gesehener Filme verknüpft werden. Wodurch auch der Vorwurf ins Spiel kommt, dass der Film etwas für das Arthouse-Publikum sei, das sich gerne mal mit Genreware begänsehauten lassen möchte. Doch würde mehr gezeigt werden, würden explizite Bilder in die wunderschönen Settings eingebettet werden, dann würde auch diese einzigartig-träumerische Atmosphäre schnell vergehen, die den Film, gerade im Hinblick auf seine exzellente Fotografie, auszeichnet. Und auch, wenn vor allem der ganz leicht merkwürdige und zähe Einstieg ein wenig Sitzfleisch benötigt, lohnt das Durchhalten - Je länger der Film geht, desto intensiver wird er auch. Somit eine schmerzhafte Empfehlung für alle Nicht-Gorebauern, die an eindringlichen Kopf-Bildern und ebensolchen Geschichten Gefallen haben.
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Beitrag von Maulwurf »

Kaiserschmarrndrama (Ed Herzog, 2021) 7/10

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Der Eberhofer Franz baut. Auf dem Hof seiner Eltern baut er ein schniekes Doppelhaus. Für sich und seine Susi. Und Sohn Pauli. Und für den Bruder Leopold mit Frau und Kind. Und mit Gemeinschaftssauna im Keller. Der Eberhofer Franz ist hochgradig genervt von diesem Bau, den er gar nicht will, und da ist er gar nicht so unglücklich als der Vater von der einer Reise wiederkommt, den Rohbau sieht, und sofort das Protestieren beginnt. Zuerst nur mit Worten, dann mit einer Sprayaktion, und schließlich mit einer Haus-Besetzung. Die Susi wiederum hat sich eigentlich auf das Haus gefreut, und ist stocksauer auf den Franz. Und der Rudi? Der Rudi sitzt nach einem Unfall im Rollstuhl, macht einen auf Elend, terrorisiert seine Umwelt, und zieht mitsamt Rollstuhl beim Franz ein. Und wegen des Rollstuhls natürlich nicht in Franz‘ altem Kinderzimmer, sondern Franz persönlichem Refugium, dem ebenerdigen Saustall. Was die Susi wiederum tierisch nervt. Hund Ludwig geht es sehr schlecht, der scheint im Sterben zu liegen, aber was hat denn die Tierärztin schon für Ahnung. Ach ja, und eine Leiche wird auch noch gefunden. Tatverdächtig? Freund Simmerl …

OK, KAISERSCHMARRNDRAMA ist der siebte Teil einer Filmserie, und für Neueinsteiger sind weder diese Folge noch diese Besprechung geeignet, das gebe ich zu. Wer sich mit der Serie um den niederbayerischen Landpolizisten Eberhofer und seinen kriminalistischen Nervkumpel Birkenberger auseinandersetzen möchte, sollte, um die horizontale Handlung einerseits, und die über die Serie verteilten Running Gags andererseits zu verstehen, mit Leberkässemmel und Bier bewaffnet beim DAMPFNUDELBLUES beginnen, der auch als Krimi gut funktioniert. Seither wird der Krimianteil von Teil zu Teil weniger, aber dafür hat das Team um Regisseur Ed Herzog dieses Mal den richtigen Hebel gefunden, um den komischen Teil auch wieder richtig komisch zu gestalten, und nicht so gezwungen und peinlich wie beim letzten Mal. Der Vater ist sehr niederbayerisch am Granteln und Schimpfen (da kann man noch richtige Schimpfworte lernen!), der Franz wird immer verzweifelter wegen dem Ludwig und wegen seiner eigenen misslichen Situation, der Rudi nervt mit seiner Zwangspsychose immer mehr (und wird auch wieder richtig komisch), ach ja, und dann ist da noch die Leiche. Eine erschlagene Frau, die in ihrer Freizeit als Sexarbeiterin im Internet unterwegs war. Sehr zum Entsetzen ihres Bruders, des Pfarrers.

Jede Menge Konfliktstoff also, und jede Menge Situationskomik, die dieses Mal genau auf den Punkt daherkommt und erstklassig aufgelöst wird. Sebastian Bezzel hat die Kunst des Slowburns mittlerweile perfektioniert, und ergänzt sich mit dem cholerischen Simon Schwarz aufs Vortrefflichste. Nein, im Gegensatz zu dem schwachen LEBERKÄSJUNKIE macht das KAISERSCHMARRNDRAMA wieder richtig Spaß, und es ist sogar Zeit für vollkommen surreale Episoden wie die, wo der Flötzinger Ignaz oben ohne mit Stahlhelm auf seinem Mofa mit 125 km/h durch das Land braust und eine Radarstation vom Simmerl Max zerschlägt. Großes Kino!
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Beitrag von Maulwurf »

Cries of pleasure (Jess Franco, 1983) 6/10

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Ein Proll mit seiner Freundin fährt in ein Haus an der Costa Sexo. Dort wird er von einer Angestellten begrüßt, und seine Frau kommt auch noch nach. Die nächsten 60 Minuten lang wird Sex simuliert, es gibt ein paar unaufregende Tote, und ansonsten passiert nichts.

Abgang Filmliebhaber der mit Jess Franco nichts anfangen kann. Auftritt Jess Franco-Fan.

Antonio und seine Freundin Julia fahren gemeinsam in Antonios Haus. Dort begrüßt sie Marta, eine Bedienstete, der Antonio schnell seine unerschütterliche Liebe gesteht bevor er Julia vernascht. Dann kommt Martina, Antonios Frau, die erstmal schaut wie Julia denn untendrunter so gebaut ist. Schlussendlich treibt es so ziemlich jede Frau mit allen anderen, Antonio sowieso mit allen Frauen, und wo soviel Eros zuhause ist, da ist auch Thanatos nicht weit.

Gemidos de placer kann man etwa übersetzen mit „Stöhnen der Lust“ oder „Seufzer der Lust“, und diese Dinge sind auch das, was hier in erster Linie zu hören und zu erfahren ist. Dialoge hat es nicht viele, Sex dafür umso mehr. Die Handlung spielt sich im Wesentlichen zwischen Sonnenuntergang und –aufgang in einer einzigen Nacht ab, und zeigt 5 Menschen in ihrer Beziehung zueinander. Diese Menschen lieben sich, sie hassen sich, und morgens hat sich eine Menge verändert.

Jess Franco bebildert diese einfache Geschichte auf grandiose Weise. Der Film mit seinen 82 Minuten Laufzeit besteht aus 20 Einstellungen, was rein rechnerisch zu etwa 4-minütigen Szenen führt. Tatsächlich sind einige Szenen erheblich länger: Die sexuelle Hybris Julias bei Sonnenaufgang wird 8 Minuten lang ohne Schnitt gezeigt, die mehrfache Liebeszene zwischen Antonio und Martina mit der onanierenden Julia im Vordergrund besteht aus einer 11-minütigen Sequenz ohne Schnitt. Die Leistungen der Schauspieler, aber auch des Teams hinter der Kamera, sind damit absolut herausragend und können gar nicht hoch genug gewürdigt werden. Und trotzdem bleibt die Sprache Francos dabei sehr einfach und poetisch, die Bilder sind schlicht und wunderschön gefilmt. Kein Sleaze oder Schmodder, aber auch kein Weichzeichner á la David Hamilton. Bestrickende, von spanischer Gitarrenmusik untermalte erotische Bilder, die einfach nur dahinfließen und den geneigten Zuschauer sanft entführen.

Hier liegt auch das Manko des Films, außer simuliertem Sex passiert nämlich tatsächlich gar nichts Weiteres. OK, zwei mehr oder weniger unspektakuläre Morde, aber so ab und zu würde vielleicht ein wenig Pep doch helfen das Interesse wach zu halten. Ungefähr nach einer Stunde wird der Blick auf die Uhr langsam penetrant, stimmungsvolle Erotik hin oder her. Die entspannte und erotisch flirrende Atmosphäre hält Franco dabei mühelos durch, aber hätte er ein paar deutlichere Akzente gesetzt, würde ich GEMIDOS DE PLACER glatt als eines seiner absoluten Meisterwerke preisen.

Lina Romay begeistert als reife Frau, die nicht mehr die kindliche Sexpuppe der 70-er Jahre ist, sondern hier auf dem Höhepunkt ihres Aussehens und ihrer Schauspielkunst ist (mein Gott, diese Reihenfolge der Argumente …). Die Kameraführung Juan Solers ist hervorragend und lässt einerseits dem Voyeurismus Francos viel Spielraum, wenn Aufnahmen durch Vorhänge oder Raumteiler hindurch gefilmt werden, spielt aber auch mal mit dem Angelpunkt und der Architektur. Überhaupt ist das Haus eigentlich der sechste Protagonist des Films. Viele verschachtelte Zimmer, geschmackvoll und nicht überladen eingerichtet, sehr einladend, gemütlich, entspannt wirkend. Alle Komponenten zusammen ergeben diese ganz besondere, schwer zu beschreibende Stimmung, die den Zuschauer ab dem ersten Augenblick in seinen Bann zieht. Oder abschreckt, je nach persönlicher Präferenz …

Mit der Zweitsichtung hat sich an dieser Einschätzung nichts geändert. Vielleicht sind die Sexszenen nicht mehr ganz so prickelnd, vielleicht ist das Getragene der ganzen Situation ein ganz klein wenig langwieriger, aber letzten Endes ist GEMIDOS DE PLACER eine hypnotische und faszinierende Studie über die Beziehung zwischen Sex und Tod. Und dass das Vergnügen vielleicht nicht so riesig war wie bei der Erstsichtung kann möglicherweise auch darauf zurückzuführen sein, dass die dieses Mal gesehene BD von Severin heller erscheint als die YT-Version. Und das Hellere macht aus dunklen und beunruhigenden Szenen halt helle und offene Momente, die aber mit der narrativen Düsternis nicht mehr so viel zu tun haben. Bei Stephen Thrower las ich von einigem Halbdunkel, und irgendwie habe ich das bei dieser Sichtung vermisst. Ich glaube, ich muss mir die YT-Version noch mal anschauen …
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Beitrag von Maulwurf »

OSS 117 - Pulverfass Bahia (André Hunebelle, 1965) 6/10

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Beim direkten Vorgänger der Reihe, HEISSE HÖLLE BANGKOK aus dem Jahr 1964, habe ich Regisseur André Hunebelle noch jegliches Talent abgesprochen, ein guter Regisseur zu sein. PULVERFASS BAHIA mag jetzt vielleicht kein oscarreifer Agententhriller sein, aber er macht doch zumindest einiges Vergnügen. Was ist da passiert?

Könnte das vielleicht an Frederick Stafford liegen, der dieses Mal den Part des Hubert Bonnisseur de la Bath, genannt OSS 177, übernahm? Der muss nach Brasilien, wo Selbstmordattentäter hohe Persönlichkeiten aus Politik und Armee töten. OSS 177 findet heraus, dass dahinter eine Droge steckt, und dass sein Kollege und toter Vorgänger ermitteln konnte, wo diese Droge produziert wird, nämlich in einem Indiogebiet mitten im Dschungel. Welch ein Glück, dass die blonde, und wunderhübsche Anna-Maria Sulza, die Hubert gerade über den Weg gelaufen ist, just aus dieser Gegend stammt.

Hatte der Schauspielvorgänger Kerwin Matthews noch einen gewissen Lausbubencharme, der ihn allerdings gleichzeitig an der schwungvollen(!) Ausführung seines Jobs hinderte, so ist Frederick Stafford ein ganz anderes Kaliber. Wesentlich deutlicher an James Bond angelehnt ist der Mann gradliniger, nüchterner, und langt auch gerne mal richtig kräftig hin. Vor allem aber sülzt er nicht so viel herum wie Matthews, sondern kümmert sich mehr um den Fall als solchen, anstatt um die Frauenwelt des jeweiligen Gastgeberlandes. Was zur Folge hat, dass die Prügeleien recht lang und stellenweise sehr hart rüberkommen, und die Schlussszenerie in einer Art Dschungelfestung sich durchaus an den gängigen JB-Shootouts orientiert: Heerscharen von gesichtslosen Handlangern werden mühelos niedergemäht, allenthalben Explosionen, Schießereien, man geht in Deckung, etwas fliegt in die Luft, Das Munitionslager! Das Munitionslager! Schnell zum Funkraum, Wumm, Krach, Peng Peng … Mittendrin die Guten, auf alles ballernd was sich bewegt, und die Bösen, die sich hinterlistig anschleichen und die Guten entführen, die Lumpen. Was zu einem wunderschönen Showdown an den Iguazú-Wasserfällen führt, und der Zuschauer beim Schlussbild gar nicht mehr weiß wo er hinschauen soll: Zu der überwältigenden Naturschönheit Wasserfall, oder der völlig durchnässten und erotisch sehr aufgeladenen Filmschönheit Mylène Demongeot. Im Kino dürfte dieses Schlussbild äußerst beeindruckend sein!

Bei solchen Schauwerten kann man auch verschmerzen, dass die Handlung ziemlich vorhersehbar abläuft, und über lange Strecken hin auch viel zu dialoglastig ist. Dafür glänzt PULVERFASS BAHIA mit herrlichen Bildern, guten Darstellern sowie einer schmackigen und swingenden Musik, die dem Film viel Charme gibt. Was übrigens auch ein großer Unterschied zum Vorgängerfilm ist, bei dem der Score entweder deplatziert wirkte oder gleich ganz ausfiel.

Hier aber hat André Hunebelle doch so einiges richtiger gemacht, und in der Menge anspruchsloser Euro-Spys ist dies sicher nicht der Schlechtesten einer. Schöne Kintopp-Unterhaltung für Filmabende ohne Tiefgang, dafür aber mit harten Männern und schönen Frauen.
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